Die Begegnung einer Eismaschine mit sechs entwurzelten Bäumen
In drei Ausstellungen in Frankfurt am Main überschneiden sich Inhalte und Themen.
Hans Haacke Retrospektive in der Schirn bis zum 9. Feb. 2025
Gustav Metzger im TOWER MMK bis zum 5. Jan. 2025
Adrian Piper „Who, Me?“ im Portikus bis zum 9. Feb. 2025
Kunst und Technologie
Technologische Fortschritte infolge des Zweiten Weltkriegs ließen Künstler seit den 1950er Jahren die ästhetischen Möglichkeiten physikalischer, chemischer und biologischer Prozesse aufgreifen und die sich daraus ergebenden ästhetischen Möglichkeiten erforschten.
Anlässlich der Retrospektive von Hans Haacke (*1936) wurden in der Schirn Installationen des damals in Düsseldorf lebenden jungen Künstlers aufgebaut, der unter dem Einfluss der Gruppe ZERO und Otto Pienes mit Spiegeln, Ballons, Gravitation, Ventilatoren und Eismaschinen experimentierte. Dabei zeigte sich, dass kinetische Objekte und Versuchsanordnungen ohne traditionelle künstlerische Fertigkeiten hergestellt werden konnten. Dennoch ließen sich durch ingenieursmäßige Produktionsprozesse Gebilde voller poetischer Impressionen erzeugen. Gelenkte Luftströmungen blähten und bewegten farbige Planen und ließen Bälle taumeln, die man mit Helium oder Wasserstoff gefüllt auch an einer Leine den natürlichen Luftbewegungen überlassen konnte.
Abb. 1: Hans Haacke, Eisring, 1970, Kältemaschine, Metacrylat, Wasser, MACBA, Barcelona, aus der Slg. Onnasch, Version und Zustand in der Ausstellung, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Eismaschine und Wetterballone
Von technischen Prozessen abgeleitete Installationen ermöglichten es, traditionelle Erwartungen in das Machen und Ausstellen von Kunst aufzugeben und im öffentlichen Raum ein Publikum unmittelbar zu erreichen. Deshalb hatte sich seit den 1950ern die Kunstpraxis der zwischen den Weltkriegen geboren radikal verändert. Die Verfügbarkeit technischer Mittel entzauberte die Wirksamkeit traditioneller Schönheitsbegriffe nicht zuletzt auch, weil das sie praktizierende Bürgertum durch den Naziterror – durch Ermordung und Flucht – geschwächt worden war oder sich durch Einknicken vor den Machthabern um Ansehen und Einfluss gebracht hatte.
Mit „Sky-line“, einer Anzahl von mit Leinen verbundener Ballone, die eine Formation am Himmel bildeten, realisierte Haacke 1967 eine konzeptuelle Arbeit in seiner Wahlheimat New York, wo er sich schon 1971 der Kehrseite des Reichtums, nämlich der Immobilienspekulation zuwandte, die Wohnungsbesitzern durch unübersichtlich aufgefächerte Eigentumsverhältnisse und Firmengeflechte Steuervorteile brachte, wodurch letztlich Wohnraum zulasten von Mietern aus dem Verkehr gezogen oder heruntergewirtschaftet wurde.
Die Verwendung naturwissenschaftlicher Prozesse und soziales Engagement waren Kriterien für die Auswahl westdeutscher Künstler für die Ausstellung „Art into Society – Society into Art“, wo 1974 sowohl Haacke wie auch Gustav Metzger (1926 – 2017) in der von Christos Joachimides und Norman Rosenthal kuratierten Ausstellung kennen lernten. Des Weiteren stellten KP Bremer, Dieter Hacker, Klaus Staeck und und Joseph Beuys im Institute of Contemporary Art (ICA) aus. Schon die Tatsache, dass Metzger keine Werke ausstellte und dazu die Jahre 1977 – 1980 zu Jahren ohne Kunst ausrief, übertrumpfte die sich politisch verstehenden deutschen Künstler. Darüber hinaus hatte Metzger im Jahr zuvor seine Position als Kunstaktivist als Mitbegründer einer Künstlergewerkschaft unterstrichen.
Die 50 Jahre später durch Ausstellungen in Frankfurt zustande gekommene erneute Begegnung beider in Deutschland geborenen Künstler, die ihre Kunst in erzwungener oder freiwilliger Emigration verwirklichten, kann als Glücksfall gesehen werden. Die Ausstellungen von Haacke und Metzger zeigen, dass über das Kräftemessen in politischer Radikalität hinaus, ihre Werke durch ökologisches Engagement und autokreative Experimente gekennzeichnet sind.
Wie Haacke war Metzger ein Einzelgänger, dessen punktuelle Zusammenarbeit mit FLUXUS, Art and Language und anderen Richtungen keine Gruppenbindung nach sich zog. Neben der autodestruktiven Kunst, die Pete Townsend von den Who zur Zertrümmerung seiner Gitarren anregte, war es die autokreative Kunst, die Metzger in Form kinetischer Experimente realisierte. Seine Adaptionen naturwissenschaftlicher Experimente mit „Liquid Cristal Environments“ feierten ab 1965 einen popkulturellen Höhepunkt anlässlich der Konzerte von The Who und Cream. Im gleichalten Biochemiker Arnold Feinstein aus Cambridge fand Metzger einen Weggefährten, mit dem er nicht nur dynamische Bühnenprojektionen mit Flüssigkristallen entwickelte, sondern auch Kritik an der Gesundheitspolitik in die Gesellschaft trug.
Die psychedelisch anmutenden Projektionen des Liquid Cristal Environment wurden mit mehreren Projektoren in der Ausstellung im TOWER MMK nachgestellt. Foto des Autors, VG-Bild-Kunst, Bonn 2024
Entwurzelung und ökologischer Frevel
Ein Höhepunkt der Frankfurter Gustav-Metzger-Ausstellung, die Susanne Pfeffer und Julia Eichler mit zahlreichen Arbeiten aus dem Nachlass realisiert haben, sind die fünf „strampelnden Bäume“, die vor dem TOWER Spalier stehen. Die Baumkronen stecken kopfüber in Betonkuben, in denen das Leben der Bäume erstickt. Diese Art eines zu Beton geronnenen „Waterboardings“ für Pflanzen realisierte Metzger seit 2010, so dass es mit der sich zuspitzenden Umweltkrise in Verbindung steht. Die Auswirkungen der Übernutzung der Erde, die 1972 durch den Bericht des Club of Rome vorhergesagt wurden, zeigen sich heute in Gestalt der massiv eintretenen Schäden. Neben den Bäumen sind auch andere Lebewesen überall auf dem Planeten in Bedrängnis und in den Metropolen sterben immer mehr Menschen an Hitze und verseuchter Atemluft.
Schon 1972 wollte Metzger auf der documenta 5 die Abgase von vier Autos mit laufenden Motoren in einen mit transparenter Folie überzogenen Kubus leiten. Diese abgespeckte Version einer Installation mit 120 Autos wurde genauso zensiert wie die unter einer ebenfalls mit Folie geschlossenen Konstruktion in Stockholm. Dort sollten die Autos mit vollem Tank und laufendem Motor an ihren eigenen Auspuffgasen ersticken. Diese künstlerischen Interventionen stehen am Anfang einer Kette von Leugnungen und Verdrängungsleistungen, mit denen die Vorstände von Unternehmen und andere Profitteure der Ausbeutung von natürlichen Ressourcen den Abwehrkampf gegen alle Mahnungen begannen, die katastrophalen Folgen menschlichen Handelns zu bedenken und Auswege zu suchen. Das Bild der mit ihren Wurzeln in der Luft strampelnden Bäume verweist in seiner Drastik aber nicht nur auf Umweltzerstörung, sondern auch auf eine ihrer Folgen, die Migration. Die im Sprachgebrauch üblichen Bezeichnung „Entwurzelung“ ist sehr umfassend, denn sie benennt die Urbanisierung infolge der Landflucht genauso wie Flucht und Vertreibung durch die Zunahme der Konflikte infolge von Landraub, Bürgerkrieg, Korruption und Hungersnot.
Weißes Rauschen. Bin ich gemeint?
Ein Echo der Strampelnden Bäume zeigt der Portikus mit der Installation der amerikanischen Konzeptkünstlerin und promovierten Philosophin Adrian Piper (*1948). Der Titel „Who, Me?“ ist die kürzeste mögliche Antwort eines Menschen, der angesichts von Entwurzelung und Entlaubung als eindringliches Bild der zerstörten Lebensgrundlagen die Schultern zuckt. So etwa könnte sich auch die Enttäuschung angesichts des Videos im Untergeschoss des Portikus ausdrücken, wo vor einer Versammlung aus Stühlen ein weißes Video läuft, und nichts als das helle Flimmern eines Beamers auf der Projektionswand zeigt. Ein Bild der Nichtung des Egos durch weißes Rauschen. Doch, was oder wer wird mit dem Bild der Leere konfrontiert? Menschen, die sich noch nicht von der Hybris verabschiedet haben, die Welt zu beherrschen, zu retten, zu verbessern oder zu verändern?
Abb. 6: Adrian Piper, „Who, Me?“ 2024, Installation mit Stühlen, Projektionswand und Beamer, Portikus unten, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2024
Wer mehr über die seit 2005 in Berlin lebende Künstlerin erfahren möchte, findet nicht nur Informationen über die Emigration der US-amerikanischen Künstlerin nach Deutschland auf ihrer Homepage. http://www.adrianpiper.com/
In einem Interview mit Stefan Dörre im tip-Berlin anlässlich der Verleihung des Käthe-Kollwitz-Preises 2018 stellt sie die provozierende These auf: „Wir Menschen sind erbärmliche, schäbige Geschöpfe, zu dumm, aus unseren Fehlern zu lernen. Schade.“ Was resigniert klingt, geht auf die Forschungen der in Freiburg über Immanuel Kant promovierten Forscherin zurück, die in den 1970er Jahren in den USA als Performance-Künstlerin bekannt wurde.[1]
Bekannterweise hat sich Metzger nahezu sein ganzes künstlerisches Leben lang mit Zerstörung beschäftigt und zeichnet klaglos ein dialektisches Bild der Destruktion, das der Ambivalenz der Natur folgt: „Zerstörung und Destruktivität gehören untrennbar zur Natur, die wir kennen; Feuer fällt keine moralischen Urteile. Insofern wir selbst Natur sind, Natur uns durchzieht, sind wir unausweichlich in ihr gefangen.“[2]
Alle drei Künstler*innen haben Entwurzelung erlebt, doch haben sie weder ihre Fantasie noch den Willen zur Veränderung verloren. Die ihrer Lebensgrundlage beraubten Bäume sind daher als ein Fanal zu verstehen. In Frankfurt stehen an der Linie zwischen Park und Hochhäusern bzw. im Portikus am Ufer des Mains und werben dafür, Initiativen zu ergreifen und Optionen zu nutzen.
[1] Ein Beispiel ist Cathalysis III, New York 1970, https://www.youtube.com/watch?v=DYAdwZ_8sMQ
[2] Zit. nach Booklet zur Ausstellung des MMK, 2024, 15. Absatz: Strampelnde Bäume, 2010/2024
Am 28. April 2004 erregten die aus dem Gefängnis von Abu Ghraib geschmuggelten Fotos, die Gefangene in erniedrigenden Posen zeigten, international Aufsehen. Sie verbreiteten sich schnell und galten als Beleg für Folter in US-Militärgefängnissen. In einem politisch geprägten und von Empörung geleiteten Kontext blieb die Frage nach den ästhetischen und bildlichen Qualitäten dieser Fotos offen. Redaktionen setzten die Bilder vielmehr auflagesteigernd ein, was sich, nicht zuletzt wegen der zunächst noch wenig bekannten Umstände, unter denen die Fotos entstehen konnten, als zweifelhaft erwies. Ihres Kontexts beraubt, blieb unberücksichtigt, dass die Gefangenen offensichtlich einer Regie unterworfen worden waren. Jemand hatte sie gezwungen, Formationen zu bilden oder Posen einzunehmen. Fotos zeigen eine junge Frau, die einen Gefangenen an einer Leine hält. Die in verschmutzter Kleidung oder nackt und im schlechten Licht auf fleckigem Estrich liegenden Männer offenbaren ein Elend, das durch die Inszenierung gesteigert wird und befremdlich wirkt. Diese Fotos beinhalten ein Potential für Geschichten, die nach und nach ans Licht kamen und Fragen nach den Grenzen des Dokumentarischen aufwerfen. Zugespitzt ließe sich sogar spekulieren, ob es mit Dokumentarfotografien gelungen wäre, so viel Aufmerksamkeit zu erzielen.[1] Besonders wirksam erwies sich die Immaterialität der Fotos. Sie sind digital und boten daher in einer Zeit, als die Sozialen Medien am Anfang ihres bis dahin noch nicht absehbaren Siegeszug standen, die Möglichkeit, sehr schnell in Umlauf gebracht zu werden.
Wenige Jahre später griff die US-amerikanische Populärkultur Szenen aus den Fotos auf und bot Halloweenkostüme an, die auch Kindern und Jugendlichen ermöglichten, in die Rolle von Folteropfern und Folterern aus Abu Ghraib zu schlüpfen, um bei ihren Nachbarn Süßes zu sammeln.
In einer Halloween-Kulisse stellen Kinder Szenen aus Abu Ghraib nach, die der Fotograf benutzt, um sein Foto mit dem Spruch: “It´s a little early, but how bout a disturbing Halloween photo?” anzupreisen.
Auf den beiden Bildern, die einige Jahre nach den Ereignissen in Abu Ghraib entstanden sind, trifft das von der Außenwelt abgeschirmte Geschehen auf US-amerikanische Kinder. Die im Internet kursierenden Bilder erzwingen bis heute eine öffentliche Auseinandersetzung mit Gewalt und zeigen nicht zum ersten Mal, dass die von politischen Akteuren losgetretenen Ereignisse Folgen an jedem Punkt der Erde haben. Im Kinderzimmer werden ursprüngliche Fotodokumente notgedrungen zu einem Spiel. Der in ihnen innewohnende Horror wird im Geiste von Halloween zu einem Phantasieprodukt, das ein alle Vorstellungen übersteigendes Geschehens handhabbar zu machen versucht. Dazu wird die schwer nachvollziehbare Wirklichkeit in Kostüme und andere Artefakte gefasst.[2]
An der Entstehung der zu ikonischen Bildern gewordenen Fotografien aus einem Trakt des Militärgefängnisses aus Abu Ghraib, der vom Militärgeheimdienst kontrolliert wurde, sind drei Gruppen von Akteuren beteiligt. Die Gefangenen, die der Willkür ausgesetzt sind, die Verhörspezialisten, die ihren Methoden folgen, um die von ihnen vermutete Wahrheit herauszufinden und die Militärpolizisten um Feldwebel Graner, die von den Agenten die Erlaubnis haben, ihre Spiele mit den Gefangenen zu treiben. Im Gegensatz zu den Folterern, die nicht einmal die direkten Vorgesetzten der Gruppe um Graner sind, haben letztere keinen Plan, sondern lassen in der Regellosigkeit ihrer Fantasie freien Lauf und bringen diese fraglos verwerflichen aber doch eindringlich wirkenden Schnappschüsse hervor, die bekanntermaßen weltweit Empörung hervorgerufen haben.
Daneben gibt es ein anderes Artefakt, das weniger populär geworden ist, aber eine für die Bearbeitung des Erschütternden produktive Perspektive innerhalb der Folterdebatte öffnet.
Abu Ghraib in Paderborn?
Am Morgen des 30. Oktober 2004 fanden Passanten auf dem Platz vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg in Paderborn einen mit Bandstahl vergitterten hölzernen Käfig vor. Er entsprach 1 zu 1 einer Isolierzelle, die U.S.-Truppen im Foltergefängnis von Abu-Ghraib benutzten. Am Jesuitenkolleg, dem heutigen Gymnasium Theodorianum befand sich vor 400 Jahren die Theologische Fakultät, an der Friedrich von Spee von 1629 bis 1631 als Professor für Moraltheologie unterrichtet hatte.[3] Seine 1631 und 1632 erschienene Schrift Cautio Criminalis leistete einen wichtigen Beitrag für die Bemühungen, Folter und Unterdrückung zu ächten.
Wilfried Hagebölling, Abu Ghureib 2003/2004 / Friedrich von Spee 1631/1632, Nachbau einer Isolierzelle der US-Armee aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib, 300x130x240 cm, Installation vor dem Gymnasium Theodorianum, Paderborn, 2004, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn 2024
Von Spee stand den in Hexenprozessen zum Tode Verurteilten auf ihrem Weg zur Hinrichtung bei, weshalb er wusste, dass diese Opfer der Inquisition unschuldig waren. Da sie ihren Peinigern chancenlos ausgeliefert waren, konnte jede ihrer Aussagen gegen sie gewendet werden. Um zu klären, warum der in Paderborn lebende Bildhauer Wilfried Hagebölling für seine Intervention eine Isolierzelle instrumentalisiert hat, wird vorgeschlagen, den Käfig als rhetorisches Mittel zu sehen. Seine Verwendung und die künstlerische Objektivierung von Isolation zeigen zudem, dass dieses Gehäuse nicht nur mediale Zusammenhänge berührt, sondern auch moralische, politische und rhetorische Fragen aufwirft.
Von der Imitation zur Metapher
Als Intervention öffentlich aufgestellt, erweist sich der Käfig als mehr als eine bloße Nachbildung, denn das Objekt konnte nicht nur in Paderborn aufgestellt, sondern in Umlauf gebracht werden, um an jedem beliebigen Ort zu erscheinen. Deshalb ist der Käfig als materialisierte Übertragung der rhetorischen Figur der Metapher zu verstehen, wie sie schon antike Redner anwandten, um ihrem Publikum etwas Unbekanntes, Fernes oder noch nicht Verstandenes begreiflich zu machen. Das dreidimensionale Objekt tritt so mit der Erfahrung der Passanten in eine Beziehung und bringt ihnen das kontroverse Thema Einkerkerung und Folter nahe.
Heute haben wir uns daran gewöhnt, für jede Gelegenheit Abbildungen zur Hand zu haben oder auf solche verweisen zu können, obwohl wir allgemein weniger bemüht sind, Bilder sprachlich herzustellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass in der Renaissance Gedanken zunächst in einer bildhaften Sprache vorhanden waren, ehe daraus Bilder entwickelt wurden. Die Maler hatten von den Dichtern gelernt, rhetorische Figuren zu visualisieren, um Menschen beispielsweise durch unterschiedliche Mimik und Gestik zu unterscheiden. Diese Mannigfaltigkeit wurde wie andere Kunstgriffe (Verschiedenartigkeit, Räumlichkeit, Perspektive, Relief etc.) von bildenden Künstlern übernommen und von Kunsttheoretikern ausgeführt,[4] um bildliche Äquivalente zu vervollkommnen. Sinnbildliche Verkörperungen wie sie sich aus den Metaphern zu Allegorien entwickelten, ermöglichten es schließlich, ausdrucksstarke und bisweilen drastische Bilder oder Objekte zu erfinden, mit denen sich bis heute Redner wie Künstler Aufmerksamkeit verschaffen. In dieser kulturhistorischen Entwicklung wurzeln Handwerkszeug und Berufsethos von Menschen, die politisch Einfluss nehmen. Bei Hagebölling fallen die Worte auf dem Boden des Käfigs erst nach einer Annäherung auf. Dort wurden sie als Schablonendruck gesetzt: ISOLIERZELLE WIE SIE US-TRUPPEN FÜR ABU-GHURAIB-HÄFTLINGE IN BAGDAD BENUTZEN [5]
Diese Angaben lösen bei gleichzeitiger Gegenwart des Käfigs einen Denkvorgang aus, der die bedrückende Enge und Rechtlosigkeit der Insassen konkretisiert und ihre gleichzeitige Ausgesetztheit im Freien sinnfällig werden lässt.
Aktuelle politische Ereignisse verlängerten die Botschaft des Käfigs über den Anlass seiner Aufstellung hinaus. So wurde im November 2004 angesichts des Irakkriegs, des US-amerikanischen Präsidentenwahlkampfs 2004 und 2008[6] und der Zustände in außerterritorialen Gefangenenlagern die Berechtigung von Folter diskutiert. In Deutschland begleitete eine ähnliche Kontroverse auch den Prozess gegen den ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt, der einem Entführer durch eine ‚peinliche Befragung‘ das Versteck seines Opfers entlocken wollte.[7] An dem an sich stummen, aber als Metapher beredt gemachten Käfig liefen die Fäden der internationalen Politik lokal zusammen. Nicht zuletzt fiel im Monat des Gedenkens an die Toten, an den Beginn der Nazipogrome und den Mauerfall am 9. November auch ein Licht auf das Verhältnis des Themas zu unserer eigenen jüngeren Geschichte.[8]
Als Beispiel für die Vorführung von Angeklagten im Käfig wird hier ein Foto verwendet, dass Alexej Navalny, den Gegner Putins, vor Gericht zeigt.
Abb.: Mozilla Lesevorschläge 21.10. 2024. Der Käfig aus an den Kreuzungspunkten geschweißtem Baustahl suggerierte schon die nächste Stufe eines möglichen Angriffs auf das Leben des Oppositionellen: Die Einbetonierung des Gefangenen nach Art der Mafia. Die implizierte Todesdrohung soll außerdem abschrecken.
Fotos heizten den Skandal an.
Rückblickend wird deutlich, dass nicht der Käfig die Diskussionen um die Folter veränderte, sondern die geleakten Fotos aus Abu Ghraib eine unerwartete politische Wirkung entfalteten. Sie brannten sich in das kollektive Gedächtnis ein und veränderten infolge zahlreicher Prozesse, die durch das Bekanntwerden der Bilder forciert wurden, die Haltung einer Mehrheit der US-Amerikaner gegenüber der Folter, die letztlich die Regierung unter Druck setzte.[9]
Ein wichtiger Aspekt der Fotografien und ihrer Inszenierung blieb jedoch unbeachtet. Dieser erschließt sich aus der Funktion der Gruppe um den Feldwebel Charles Graner. Es handelte sich um Militärpolizisten, die im Dienst Gefangene registrierten,[10] und sich in ihrer Freizeit in den Gängen des Trakts herumtrieben, aus dem sich eine Folterabteilung Gefangene für ihre Verhörte holte. Entgegen der Berichterstattung, die den Eindruck erweckte, dass die Gruppe um Graner dienstlich tätig war, als die Fotos entstanden, deutet die unkorrekte Kleidung der Soldaten darauf hin, dass sie nach Dienstschluss eigenmächtig handelten. Wolfgang Binder hat in seiner Dissertation das System der Auslagerung von Verantwortung erkannt, jedoch trotz seiner kunstgeschichtlichen Kenntnisse den durch Künstlerinnen seit den 1960er Jahren mittels Kunst-Performances eingebrachten Aspekt übersehen, der bis heute auch in der Kunstwissenschaft unter dem Begriff „Selbstermächtigung“[11] aufs Neue diskutiert wird.
Selbstermächtigung
Hier ist zuerst auf Carolee Schneemann zu verweisen, die in ihrem Happening „Meat Joy“ seit 1964 ein orgiastisches Geschehen mit mehreren halbnackten Teilnehmern inszenierte. Auch Yayoi Kusama organisierte ab 1968 „Naked Events“ in New York und Buenos Aires. In Europa sorgten ähnliche Aktionen der Wiener Aktionisten unter der Regie von Otto Mühl und Hermann Nitsch für Aufsehen. Valie EXPORT, eine österreichische feministische Künstlerin führte 1968 ihren damaligen Partner Peter Weibel, der ihr auf allen Vieren wie ein Hund an einer Leine folgte, durch die Wiener Innenstadt.
Das löste, nicht etwa einen Skandal aus, sondern belustigte die Passanten. Diese humorige Wendung nimmt der Überschreitung von Konventionen ihre Schwere. Auch dass sie am helllichten Tage in einem urbanen Kontext vorgetragen wurde, befördert grundsätzlich die unmittelbare Kommunikation, die bei einer Inszenierung in einer stickigen und von Angst vergifteten Atmosphäre eines Gefängnisses durch Langeweile und Zwang pervertiert wird. Schon hier zeigt sich der Wert eins künstlerischen Verständnisses, der den Aktionen in Abu Ghraib abgeht.
Lynndie England mit einem Gefangenen in Abu Ghraib, Irak 24. Okt. 2003
Wenn hier das Skandalfoto von 2003 aus Abu Ghraib mit einem 35 Jahre zuvor entstanden Standbild der Aktion von EXPORT und Weibel konfrontiert wird, fällt zwar die hauptsächliche ikonographische Übereinstimmung auf, dass nämlich eine Frau einen Mann an der Leine hält, doch werden auf den zweiten Blick starke Unterschiede augenfällig. Die Kunst-Aktion wurde bewusst in die Öffentlichkeit verlegt, weil die exklusive Situation in einem Museum aufgeben werden sollte. Der bis auf die Akteure menschenleere Gefängnisflur ist dagegen von der Öffentlichkeit abgeschottet. Darin liegt ein nackter Mann, der sich mit seinem linken Arm aufstützt, um seinen Kopf vom Boden anzuheben, so dass er ein eventuelles Zerren an der Leine pariert kann. Der Blick der Soldatin, die ihre Uniformjacke mit Dienstgrad und Kopfbedeckung abgelegt hat, äußert Interessenlosigkeit, während EXPORT lächelnd im zugewandten Blickkontakt mit ihrem Partner steht.
Eigenmächtigkeit und visuelle Begabung
Die hier nur angedeuteten Unterschiede machen deutlich, dass beide Aktionen, abgesehen vom zeitlichen Abstand, unter grundsätzlich anderen Bedingungen aufgeführt worden sind. EXPORT und Weibel haben sich herausgenommen, das Museum zu verlassen, um Verhalten und Körperlichkeit, Gesten und Abhängigkeiten von Mann und Frau, Künstler und Museen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Diesen Absichten entspricht der später eingeführte Begriff der Selbstermächtigung, während im Gefängnis Machtausübung und Zwang vorherrschen, weshalb hier besser von Eigenmächtigkeit zu sprechen wäre.
Nach diesen ersten Schlussfolgerungen, die aus der Abgrenzung von Misshandlung und Performances gezogen werden können, offenbaren die Aussagen Englands in einem Interview mit Emma Brookes nach der Entlassung aus dem Gefängnis bisher unbeachtet gebliebene Aspekte aus ihrem Soldatenleben. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass England ihre Strafe akzeptierte es aber ungerecht fand, dass sie im Gefängnis landete und nicht auch ihre Vorgesetzten, die ihre Aufsichtspflichten verletzt hatten. Auch erkundigte sich die ehemalige Soldatin nach dem Verbleib der Fotos und zeigte sich durchaus zufrieden damit, dass sie geleakt worden waren, was dazu geführt hatte, dass die Folterpraxis überprüft worden war. Dann spricht England über ihre persönlichen Motive. Sie erwähnt, dass der psychologische Test vor der Gerichtsverhandlung ihr eine herausragende visuelle Wahrnehmungsfähigkeit bescheinigt hätte.[12] Dies sah sie als Bestätigung für ihr gestalterische Begabung. Unter Berücksichtigung ihrer Herkunft aus einer armen Familie, die ihrer Tochter, in einer wirtschaftlich abgehängten Gegend im Wohnwagen lebend, nicht viel bieten konnte, fand England in Abu Ghraib offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben Mittel und Ressourcen vor, die ihr erlaubten, ihrer Begabung freien Lauf zu lassen In dem trostlosen Gefangenenlager und unter dem Schutz ihres Verlobten und Vorgesetzten Graner konnte die junge Frau mit ihren Kameradinnen Sabrina Harman und Megan Ambuhl unbeobachtet und außerhalb jeder Kontrolle in ihrer freien Zeit die Regie übernehmen und ein Theater bizarrer Ideen erschaffen.[13]
Repression schlägt in Perversion um
Mit den Experimenten der Body Art versuchten die oben beispielhaft genannten Künstler*innen die durch Arbeit und patriarchale Verhältnisse eingeschränkten Spielräume zunächst physisch sinnbildlich auszuweiten. Die Aktionen und die daraus hervorgebrachten Dokumente veränderten zunächst das Bild vom Körper und den gegenseitigen Umgang. Somit zielten sie in der Praxis auf die volle Verfügbarkeit ihrer geistigen und körperlichen Ressourcen.[14] Im Gefangenenlager von Abu Ghraib bedeutete die Kasernierung in einer feindlichen Umgebung nicht nur für die Gefangenen sondern auch für die Soldaten erheblichen Stress, der die seelische und physische Verfassung der jungen Soldaten beeinflusste. Sie waren durch die Rationalität einer militärischen Hierarche instrumentalisiert und suchten nach Auswegen, ohne allerdings die daraus resultierende Bedrängnis zu ahnen – geschweige objektivieren zu können. Stattdessen lebte sie ihren Freiheitsdrang mit performativen Mitteln in anarchistischen Akten in einer „vorrationalen Sphäre“[15] aus. Wie es die Fotografien belegen, wurden Bestandteile von Mimik, Gestik und Handlungen freigesetzt, die sich in anderen Bereichen der Gesellschaft unter besseren Bedingungen schon entfaltet worden waren. In einem Gefängnis für Kriegsgefangene, wo die Militärpolizisten um Graner auch noch durch die Folterer des Militärgeheimdienstes protegiert wurden,[16] musste ein derartiger Versuch, die eigene Situation durch Selbstermächtigung zu verbessern oder nur den Stress zu mildern, in Perversion untergehen und scheitern.[17] England blieb wie die von ihr unterworfenen Gefangenen selbst eine Gefangene der militärischen Hierarchie und wurde obendrein dafür verurteilt.
An einem Ort, wo schon die Erpressung von Aussagen durch Folter misslang, wie es Binder hervorhob, konnte es auch keine Freizeit, geschweige denn Freiräume geben, die eine Emanzipation durch Performance ermöglicht hätte. Verglichen mit persönlichen Niederlagen, die mit dem Scheitern des Kampfs gegen den Terror verbunden sind, bot der Nachbau des Käfigs im Verhältnis 1 zu 1, wie ihn Wilfried Hagebölling aufstellte, eine Gelegenheit die Empörung oder auch die Trauer über das Geschehen anzudocken. Es wurde ein Objekt angeboten, das als Projektionsfläche dienen konnte.[18] Die Freiwilligkeit erlaubte es den Passanten, sich dem Käfig im öffentlichen Raum zu nähern und sich mit dem Sinnbild des Desasters ohne Gesichtsverlust und mit Empathie auseinanderzusetzen. Diese Möglichkeit gestattete es Betrachtern, die durch die Fotos aus Abu Ghraib ausgelöste Beschämung oder auch eine mögliche Re-traumatisierung zu mildern. Das Entsetzen findet einen Kontext, der sich jenseits eines von Geschäftsinteressen getriebenen Mummenschanz entlastend auswirken kann.
Binder, W. (2012). Die öffentliche Macht der Moral. Abu Ghraib als ikonische Wendung im Krieg gegen den Terror. Konstanz: Universität Konstanz.
Binder, W. (2014). Folter als Performanz. In: Bernhard Giesen u.a. (Hg.), Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral (S. 66-87). Weilerswist-Metternich: Velbrück.
Brookes, E. (2009). „What happens in war happens“. In: The Guardian, 03.01.2009.
Honneth, A. (1988). Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne. In: Peter Kemper (Hg.), Postmoderne oder der Kampf um die Zukunft (S. 127-144). Frankfurt am Main: Fischer.
Meyer zu Schlochtern, J. (2019). Friedrich Spee und Abu Ghureib. (Professoren der Theologischen Fakultät, Paderborn, Hrsg.) Theologie und Glaube, Aschendorf, Oktober 2019, S. 328-342.
Anmerkungen
[1] Die Ambivalenz von Dokument und Inszenierung fasst Werner Binder in seinem Aufsatz Folter als Performanz folgendermaßen zusammen: „Vor dem Hintergrund der Folterdebatte nach 9/11 müssen die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als eine ‚missglückte’ Performanz von Folter aufgefasst werden.“ (Binder W. , 2014) S. 86
[2] Das ist eine Möglichkeit, die der deutsche Regisseur Werner Herzog auch in Dokumentarfilmen anwendet, weil er nicht an das bloße Abfilmen von Wirklichkeit glaubt.„Werner Herzog legt den Protagonisten in seinen Dokumentarfilmen manchmal Worte in den Mund oder erfindet etwas hinzu. Er schafft Bilder, die eine tiefere, ‚ekstatische Wahrheit‘ enthüllen sollen und dafür auch mal deutlich von den Fakten abweichen.“ Kristina Jaspers und Rainer Rother (Hg.), Werner Herzog, Berlin (Deutsche Kinemathek) 2022, S.234 Die Autoren nähern sich mit der Frage, ob „eine Inszenierung tatsächlich ‚wahrer‘ sein (kann) als ein Dokument?‘ dem Widerstreit zwischen den Möglichkeiten eines Kunstprodukts und der Darstellung seines Inhalts. Herzog nutzt also die Erfassung der Wirklichkeit zur Hervorbringung einer „ekstatischen Wahrheit“.
[4] Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, Oxford 1972, dt.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt 1987
[5] Zur Schreibung von Abu Ghraib ist anzumerken, dass im Text abweichend von der Schreibweise Abu Ghuraib, für die sich Hagebölling entschieden hat, die in Publikationen übliche Schreibung verwendet wird.
[6] Die Veröffentlichung der Bilder und die Prozesse gegen US-Soldaten verstärkten die Diskussion noch einmal während des US-amerikanischen Vorwahlen und dem Wahlkampf um die Präsidentschaft. (Binder W. , 2012), S. 584-597.
[7] Anlass war die Entführung des Sohnes der Bankiersfamilie von Metzler. Der Täter wurde gefasst, doch versuchte die Polizei vergeblich, den Aufenthaltsort des Entführten zu ermitteln, um das Leben von Jakob Metzler zu retten. Aus diesem Anlass wurden die Vor- und Nachteile der Wiedereinführung von Folter – auch zur Abwendung von Terror – diskutiert. Domenico Siciliano rezensierte die zuletzt erschiene Literatur dazu., Folter. Rituale der Macht, in: Rechtsgeschichte, Nr. 7, 2005, S. 161–169. „Resümierend kann man festhalten, dass Folter keine deutsche Rechtsgeschichte ist. Sie ist auch keine Geschichte bzw. keine naturgegebene Konstante der Gesellschaft. Folter dient grundsätzlich der Feststellung bzw. der Konstruktion der Wahrheit durch den Staat im Strafprozess. Insofern hat die Folter immer eine politisch staatliche Dimension. Ihre Verabsolutierung, Naturalisierung und Spektakularisierung lenkt den Blick von den Wahrheits- bzw. Machtstrategien ab, die der Staatsapparat durch sie verfolgt und durchsetzt. Es muss keinen Skandal darstellen, dass Literaten besser als Juristen diese Machtstrategien durchschauen, beschreiben und kritisieren.“ S. 169 Die Herausgeber des Sammelbandes „Ungefähres“ nennen als Grund für ihre Publikation: „Das Geschwätzige Wuchern der Diskurse und die unablässige Vervielfältigung der Bilder fördern eine gesellschaftliche Unübersichtlichkeit, in welcher die Unterscheidung zwischen Gerücht und Wissen, Original und Kopie, Gegnerschaft und Nachahmung zu kollabieren droht.“ (Binder W. , 2014)
[9] Wolfgang Binder hat die Debatte und Wirkung der Bilder in seiner Dissertation Die öffentliche Macht der Moral zusammengetragen und mit einer Analyse der Fotos verknüpft, um ihre Macht zu begründen. Die Diskussion über die Folterpraktiken führten über mehrere Phasen im Laufe von Jahren zwar nicht zu Rücktritten von Ministern, sondern zog sich bis zur Präsidentenwahl 2008, in der McCain gegen Barak Obama antrat. McCain hatte zusammen mit den Demokraten ein Amendment durchgesetzt, das neue Standards der Behandlung von Häftlingen setzte. (Binder W. , 2012), S. 648ff
[11] Den Begriff hat der Psychologe Julian Rappaport 1984 geprägt, als er Selbstermächtigung als ein Mittel beschrieb, das in der Gemeindepsychiatrie und -sozialarbeit die Menschen befähigen soll, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen. (Studies in Empowerment: Steps Toward Understanding and Action)
„Empowerment` unterstützt Menschen bei ihrer Suche nach Selbstbestimmung und autonomer Lebensregie.“ https://de.m.wiktionary.org/wiki/Empowerment Erst Jahrzehnte später wurde dieser Begriff im Zuge einer feministischen und postkolonialen Kunstgeschichte rückblickend auf Performances von Künstler*innen übertragen. Für den Vergleich der Motive auf den Fotos aus Abu Ghraib mit Szenen aus der Performance-Dokumentation kann dieser Begriff dazu beitragen, sich einem bisher vernachlässigten Aspekt zu nähern. In den letzten Jahren wurde der Begriff wieder häufiger verwendet. Alice Henkes sieht das Theater von Rimini Protokoll unter dieser Prämisse. https://www.rimini-protokoll.de/website/media/Solothurn/Presse/2023-02-22_Kunst-Bulletin_Rimini%20Protokoll%20u%20Kunst%20als%20Anleitung%20zur%20kritischen%20Selbstermochtigung_.pdf (10.11.2024) Auch fand Selbstermächtigung Eingang in den Titel eines Buchs über Achtsamkeit von Wolfgang Ullrich. Identifikation und Empowerment, Berlin (Wagenbach) 2024.
[12] Die Aussage des psychologischen Gutachtens: „There are only ten kids in the USA who have that.” Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009). Mit dem Satz: „Nur 10 kids in den USA haben diese Begabung“ wird ihre visuelle Intelligenz gewürdigt und es war wohl das einzige Mal, dass ihr als Kind der Unterschicht eine Würdigung zuteilwurde. Auch wenn sie sich in ihrer einfachen Sprache dazu äußerte, wird ersichtlich, wie stolz sie war, dass sie einmal nicht nur als Delinquentin wahrgenommen, sondern ihr eine Begabung zuerkannt wurde, aus der sie trotz ihrer misslichen Lage Selbstbewusstsein beziehen konnte..
[13] Als Grund für ihre Entscheidung, sich als Soldatin für einen Auslandseinsatz zu verpflichten, gab England die Absicht an, genug Geld verdienen zu können, um als Veteranin mit ihrer Abfindung ein teures College zu bezahlen. Es war ihr Ziel, sich durch Bildung zu emanzipieren. Doch konnte sie nicht ahnen, dass die Umstände ihrer militärischen Laufbahn genau das verhinderten. Die Verurteilung führte zum Verlust ihres Dienstgrades, ihres Status als Veteranin und folglich auch der Abfindung. Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009).
[14] Diese Entwicklung verlief nicht isoliert in der Kunst ab. Das Feld war Teil der Emanzipationsbewegungen seit den 1960er Jahren in allen Bereichen des Lebens. Erforscht wurde dieser Bereich allerdings erst etwa zwei Jahrzehnte später in der Soziologie, in der zunächst die Ungleichbehandlung in der Erwerbsarbeit erforscht wurde. Die kulturellen Auswirkungen fanden mit weiterer Verzögerung Beachtung. Hildegard Maria Nickel blickt aus der Zeit der Etablierung dieses Zweigs der Soziologie zurück auf die Anfänge. In: Genderstudien (Hg. von Christina von Braun und Inge Stephan), Stuttgart und Weimar (Metzler) 2000, S. 130-141.
[16] Nach übereinstimmenden Aussagen von England und anderen ließen die Soldaten des Militärgeheimdienstes die Soldaten um Graner ihre Spiele mit den Gefangenen mit der Absicht treiben, diese für die „Verhöre weichzuklopfen“ Der Spiegel berichtete am 10.05.2004 über „einen 53-Seiten-Bericht …, den Generalmajor Antonio Taguba verfasste. Danach vernachlässigten die Offiziere ihre Aufsichtspflicht, und die Militärpolizisten dienten den Verhörern als Büttel – sie sollten die Gefangenen ‚auflockern‘, damit sie ihr Wissen über den Widerstand im Lande leichter ausplauderten.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html (23.08.17)
[17] Zum erneuten Wahlsieg von Donald Trump schrieb Slavoj Zizek bei e-flux über Unterdrückung und auch über die Perversion. Er argumentierte mit Freud, der sagte, dass „bei der Perversion alles Unterdrückte, alle unterdrückten Inhalte in all ihrer Obszönität zum Vorschein (kommt), aber diese Rückkehr des Unterdrückten verstärkt nur die Unterdrückung – und das ist auch der Grund, warum Trumps Obszönitäten nichts Befreiendes haben. Sie verstärken lediglich die soziale Unterdrückung und Mystifizierung. Trumps obszöne Auftritte bringen also die Falschheit seines Populismus zum Ausdruck: Um es mit brutaler Einfachheit auszudrücken: Während er so tut, als kümmere er sich um die einfachen Leute, fördert er das Großkapital.“ (nach #e-flux auf Instagram am 14.11.2024)
[18] Manfred Schneckenburger erwähnte in einer Podiumsdiskussion über den Käfig von Hagebölling, dass ihm sofort die Fotos aus Abu Ghraib von den Augen gestanden hätten, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. (Meyer zu Schlochtern, 2019)
Gustav Metzger im TOWER MMK in Frankfurt am Main Von Johannes Lothar Schröder
Wenn von der Erinnerung an die ermordeten Eltern nur Rudimente bleiben und eine Zeichnung schemenhafte Schatten hervorbringt, was kann dann noch von Kunst verlangt werden?
Die mutmaßlich einzige frühe Erinnerung, die dem mit 13 Jahren im letzten Zug, der jüdische Kinder aus Deutschland nach England brachte, geretteten Jungen aus Nürnberg geblieben ist, hat Gustav Metzger 1950 in einer Zeichnung festgehalten. Es sind Skizzen, die nichts als Schatten sind, die traumgleiche Gesichter andeuten und zugleich wieder mit groben Strichen überzeichnen, können sich kaum noch den ermordeten Eltern annähern. Mit fünf Zeichnungen aus dem Nachlass des Waisen, der bei Stiefeltern in England aufgewachsen ist, beginnt der Rundgang durch die Ausstellung im TOWER MMK in Frankfurt am Main, die darüber hinaus noch spätere farbige figürliche Zeichnungen präsentiert, die das Talent des jungen Künstlers aufscheinen lassen, das sich der Last der Geschichte nicht entwinden konnte.
Die Zerstörung geht weiter
Metzger befasste sich mit der Zerstörung, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte. Er begründete das „Destruction in Art Symposium“ (DIAS) 1967 und behielt wissenschaftliche und technologische Entwicklungen im Blick. „Bewegungen gegen Krieg, Rüstung und Atomenergie, die Abwehr des technologischen Fortschritts und die Konfrontation mit neuen sozialen Problemen prägen die Kunst – ebenso Rückzug, Passivität und Anpassung.“[1] Das formulierte er 1981 im Konzept der Gegenausstellung zu „Westkunst“ in Köln, die nach seiner Erfahrung alle Komplikationen der Nachkriegsgeschichte ignorierte und die Brüchigkeit der internationalen Kunstentwicklung zu glätten versuchte.
Metzgers späteren Werke wie die Visualisierung von Flüssigkristallen und der Fleischkrise nach dem BSE-Skandal in Großbritannien, seine Warnungen von der Automobilität und Atomwirtschaft als Zerstörerinnen des urbanen Lebens, der Landschaft und der Ressourcen, sind als künstlerische Interventionen zu sehen und oft nur in Form von Modellen, Dokumenten und Relikten erhalten oder als Redoings wiederherstellbar.
„Kill the cars!“ riefen auf einem Autowrack herumspringenden Kinder in Camden 1996
Im Tower zu sehen sind die Rekonstruktion von „Tropfen auf einer heißen Platte“ von 1968 und von „Kill the Cars“ Camden Town, London 1996. Die Annoncen für Flüge zu Schleuderpreisen von Ryanair sind Ready-Mades aus Tageszeitungen. „Strampelnde Bäume“ strecken ihre Wurzeln vor dem Taunustower in die Luft, während ihre Kronen im Betonsockel und unter der Erde unsichtbar sind.
Bedeutend sind Metzgers Auseinandersetzungen mit Bildverboten und der Unmöglichkeit Zivilisationsbrüche adäquat abzubilden. Die Reihe „Historischer Fotografien“ mit geplotteten Fotografien der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, vom Anschluss (Österreichs), der Rampe in Auschwitz zeigen Versuche, diese Bilder zu bewältigen. Metzger hat dazu Verschläge, Verschalungen, Einschweißungen und Abdeckungen ersonnen, die diese Bilder entweder vollkommen unsichtbar machen oder ihren Anblick erschweren.
Sein Interesse für wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen brachten kinetische, sich selbst abbauende Skulpturen und „Liquid Cristal Environments“ (1965) hervor, die während Konzerten von The Cream und The Who verwendet wurden.
Zwei wegweisende Begleithefte zur Ausstellung
Was auf 80 Seiten des schmalen hochformatigen Begleithefts zur Ausstellung von Julia Eichler, Ann-Charlotte Günzel, Leon Jankowiak und Susanne Pfeffer formuliert und zusammengefasst wurde, sucht in seiner Kompaktheit und Sachlichkeit seinesgleichen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Raum für Raum werden die Werke und ihr Anlass dargestellt. In einem zweiten Teil ist eine aktualisierte Kurzbiografie Metzgers wiedergegeben. Das schließt wenige, aber bezeichnende Abbildungen von Werken mit ein. Der dritte Teil gibt die Paragrafen der antisemitischen Gesetzgebung wieder, die zwischen 1938 und 1942 die Rechte der jüdischen Bürger mit dem Ziel beschnitt, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen zu zerstören und dem Raub ihres Besitzes einen legalen Anschein zu geben. 1981 trug Metzger die im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Texte für die Ausstellung „Vor dem Abbruch“ in Bern zusammen.
Das zweite Heft zur Ausstellung ist von Marlene Seifert in einfache Sprache übersetzt und besonders empfehlenswert für alle, die wenig über Metzger und das Gebiet der Destruktions-Kunst wissen.
Die Ausstellung ist bis zum 5. Jan. 2025 im TOWER MMK in Frankfurt am Main, Taunusturm, Taunusstraße 1 zu sehen.