Geleakte Fotos und der Käfig aus Abu Ghraib

Vor 20 Jahren in Abu Ghraib und heute Halloween

Am 28. April 2004 erregten die aus dem Gefängnis von Abu Ghraib geschmuggelten Fotos, die Gefangene in erniedrigenden Posen zeigten, international Aufsehen. Sie verbreiteten sich schnell und galten als Beleg für Folter in US-Militärgefängnissen. In einem politisch geprägten und von Empörung geleiteten Kontext blieb die Frage nach den ästhetischen und bildlichen Qualitäten dieser Fotos offen. Redaktionen setzten die Bilder vielmehr auflagesteigernd ein, was sich, nicht zuletzt wegen der zunächst noch wenig bekannten Umstände, unter denen die Fotos entstehen konnten, als zweifelhaft erwies. Ihres Kontexts beraubt, blieb unberücksichtigt, dass die Gefangenen offensichtlich einer Regie unterworfen worden waren. Jemand hatte sie gezwungen, Formationen zu bilden oder Posen einzunehmen. Fotos zeigen eine junge Frau, die einen Gefangenen an einer Leine hält. Die in verschmutzter Kleidung oder nackt und im schlechten Licht auf fleckigem Estrich liegenden Männer offenbaren ein Elend, das durch die Inszenierung gesteigert wird und befremdlich wirkt. Diese Fotos beinhalten ein Potential für Geschichten, die nach und nach ans Licht kamen und Fragen nach den Grenzen des Dokumentarischen aufwerfen. Zugespitzt ließe sich sogar spekulieren, ob es mit Dokumentarfotografien gelungen wäre, so viel Aufmerksamkeit zu erzielen.[1] Besonders wirksam erwies sich die Immaterialität der Fotos. Sie sind digital und boten daher in einer Zeit, als die Sozialen Medien am Anfang ihres bis dahin noch nicht absehbaren Siegeszug standen, die Möglichkeit, sehr schnell in Umlauf gebracht zu werden.

Wenige Jahre später griff die US-amerikanische Populärkultur Szenen aus den Fotos auf und bot Halloweenkostüme an, die auch Kindern und Jugendlichen ermöglichten, in die Rolle von Folteropfern und Folterern aus Abu Ghraib zu schlüpfen, um bei ihren Nachbarn Süßes zu sammeln.

Ein besonders krasses Beispiel zeigt das Foto von J. Hobin. http://copyranter.blogspot.com/2011/10/its-little-early-but-how-bout.html

In einer Halloween-Kulisse stellen Kinder Szenen aus Abu Ghraib nach, die der Fotograf benutzt, um sein Foto mit dem Spruch: “It´s a little early, but how bout a disturbing Halloween photo?” anzupreisen.

Die Abbildung aus dem Archiv des Autors einhält eine Auswahl der Fotos aus Abu Ghraib, die in die in der Originallegende bezeichneten Illustration von Norman Rockwell montiert worden sind.

Auf den beiden Bildern, die einige Jahre nach den Ereignissen in Abu Ghraib entstanden sind, trifft das von der Außenwelt abgeschirmte Geschehen auf US-amerikanische Kinder. Die im Internet kursierenden Bilder erzwingen bis heute eine öffentliche Auseinandersetzung mit Gewalt und zeigen nicht zum ersten Mal, dass die von politischen Akteuren losgetretenen Ereignisse Folgen an jedem Punkt der Erde haben. Im Kinderzimmer werden ursprüngliche Fotodokumente notgedrungen zu einem Spiel. Der in ihnen innewohnende Horror wird im Geiste von Halloween zu einem Phantasieprodukt, das ein alle Vorstellungen übersteigendes Geschehens handhabbar zu machen versucht. Dazu wird die schwer nachvollziehbare Wirklichkeit in Kostüme und andere Artefakte gefasst.[2]

An der Entstehung der zu ikonischen Bildern gewordenen Fotografien aus einem Trakt des Militärgefängnisses aus Abu Ghraib, der vom Militärgeheimdienst kontrolliert wurde, sind drei Gruppen von Akteuren beteiligt. Die Gefangenen, die der Willkür ausgesetzt sind, die Verhörspezialisten, die ihren Methoden folgen, um die von ihnen vermutete Wahrheit herauszufinden und die Militärpolizisten um Feldwebel Graner, die von den Agenten die Erlaubnis haben, ihre Spiele mit den Gefangenen zu treiben. Im Gegensatz zu den Folterern, die nicht einmal die direkten Vorgesetzten der Gruppe um Graner sind, haben letztere keinen Plan, sondern lassen in der Regellosigkeit ihrer Fantasie freien Lauf und bringen diese fraglos verwerflichen aber doch eindringlich wirkenden Schnappschüsse hervor, die bekanntermaßen weltweit Empörung hervorgerufen haben.

Daneben gibt es ein anderes Artefakt, das weniger populär geworden ist, aber eine für die Bearbeitung des Erschütternden produktive Perspektive innerhalb der Folterdebatte öffnet.

Abu Ghraib in Paderborn?

Am Morgen des 30. Oktober 2004 fanden Passanten auf dem Platz vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg in Paderborn einen mit Bandstahl vergitterten hölzernen Käfig vor. Er entsprach 1 zu 1 einer Isolierzelle, die U.S.-Truppen im Foltergefängnis von Abu-Ghraib benutzten. Am Jesuitenkolleg, dem heutigen Gymnasium Theodorianum befand sich vor 400 Jahren die Theologische Fakultät, an der Friedrich von Spee von 1629 bis 1631 als Professor für Moraltheologie unterrichtet hatte.[3] Seine 1631 und 1632 erschienene Schrift Cautio Criminalis leistete einen wichtigen Beitrag für die Bemühungen, Folter und Unterdrückung zu ächten.

Wilfried Hagebölling, Abu Ghureib 2003/2004  /  Friedrich von Spee 1631/1632, Nachbau einer Isolierzelle der US-Armee aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib, 300x130x240 cm, Installation vor dem Gymnasium Theodorianum, Paderborn, 2004, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn 2024

Von Spee stand den in Hexenprozessen zum Tode Verurteilten auf ihrem Weg zur Hinrichtung bei, weshalb er wusste, dass diese Opfer der Inquisition unschuldig waren. Da sie ihren Peinigern chancenlos ausgeliefert waren, konnte jede ihrer Aussagen gegen sie gewendet werden. Um zu klären, warum der in Paderborn lebende Bildhauer Wilfried Hagebölling für seine Intervention eine Isolierzelle instrumentalisiert hat, wird vorgeschlagen, den Käfig als rhetorisches Mittel zu sehen. Seine Verwendung und die künstlerische Objektivierung von Isolation zeigen zudem, dass dieses Gehäuse nicht nur mediale Zusammenhänge berührt, sondern auch moralische, politische und rhetorische Fragen aufwirft.

Von der Imitation zur Metapher

Als Intervention öffentlich aufgestellt, erweist sich der Käfig als mehr als eine bloße Nachbildung, denn das Objekt konnte nicht nur in Paderborn aufgestellt, sondern in Umlauf gebracht werden, um an jedem beliebigen Ort zu erscheinen. Deshalb ist der Käfig als materialisierte Übertragung der rhetorischen Figur der Metapher zu verstehen, wie sie schon antike Redner anwandten, um ihrem Publikum etwas Unbekanntes, Fernes oder noch nicht Verstandenes begreiflich zu machen. Das dreidimensionale Objekt tritt so mit der Erfahrung der Passanten in eine Beziehung und bringt ihnen das kontroverse Thema Einkerkerung und Folter nahe.

Heute haben wir uns daran gewöhnt, für jede Gelegenheit Abbildungen zur Hand zu haben oder auf solche verweisen zu können, obwohl wir allgemein weniger bemüht sind, Bilder sprachlich herzustellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass in der Renaissance Gedanken zunächst in einer bildhaften Sprache vorhanden waren, ehe daraus Bilder entwickelt wurden. Die Maler hatten von den Dichtern gelernt, rhetorische Figuren zu visualisieren, um Menschen beispielsweise durch unterschiedliche Mimik und Gestik zu unterscheiden. Diese Mannigfaltigkeit wurde wie andere Kunstgriffe (Verschiedenartigkeit, Räumlichkeit, Perspektive, Relief etc.) von bildenden Künstlern übernommen und von Kunsttheoretikern ausgeführt,[4] um bildliche Äquivalente zu vervollkommnen. Sinnbildliche Verkörperungen wie sie sich aus den Metaphern zu Allegorien entwickelten, ermöglichten es schließlich, ausdrucksstarke und bisweilen drastische Bilder oder Objekte zu erfinden, mit denen sich bis heute Redner wie Künstler Aufmerksamkeit verschaffen. In dieser kulturhistorischen Entwicklung wurzeln Handwerkszeug und Berufsethos von Menschen, die politisch Einfluss nehmen. Bei Hagebölling fallen die Worte auf dem Boden des Käfigs erst nach einer Annäherung auf. Dort wurden sie als Schablonendruck gesetzt: ISOLIERZELLE WIE SIE US-TRUPPEN FÜR ABU-GHURAIB-HÄFTLINGE IN BAGDAD BENUTZEN [5]

Diese Angaben lösen bei gleichzeitiger Gegenwart des Käfigs einen Denkvorgang aus, der die bedrückende Enge und Rechtlosigkeit der Insassen konkretisiert und ihre gleichzeitige Ausgesetztheit im Freien sinnfällig werden lässt.

Wilfried Hagebölling, Isolierzelle s.o., (Detail), Foto: johnicon, 2004, VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Aktuelle politische Ereignisse verlängerten die Botschaft des Käfigs über den Anlass seiner Aufstellung hinaus. So wurde im November 2004 angesichts des Irakkriegs, des US-amerikanischen Präsidentenwahlkampfs 2004 und 2008[6] und der Zustände in außerterritorialen Gefangenenlagern die Berechtigung von Folter diskutiert. In Deutschland begleitete eine ähnliche Kontroverse auch den Prozess gegen den ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt, der einem Entführer durch eine ‚peinliche Befragung‘ das Versteck seines Opfers entlocken wollte.[7] An dem an sich stummen, aber als Metapher beredt gemachten Käfig liefen die Fäden der internationalen Politik lokal zusammen. Nicht zuletzt fiel im Monat des Gedenkens an die Toten, an den Beginn der Nazipogrome und den Mauerfall am 9. November auch ein Licht auf das Verhältnis des Themas zu unserer eigenen jüngeren Geschichte.[8]

Als Beispiel für die Vorführung von Angeklagten im Käfig wird hier ein Foto verwendet, dass Alexej Navalny, den Gegner Putins, vor Gericht zeigt.

Abb.: Mozilla Lesevorschläge 21.10. 2024. Der Käfig aus an den Kreuzungspunkten geschweißtem Baustahl suggerierte schon die nächste Stufe eines möglichen Angriffs auf das Leben des Oppositionellen: Die Einbetonierung des Gefangenen nach Art der Mafia. Die implizierte Todesdrohung soll außerdem abschrecken.

Fotos heizten den Skandal an.

Rückblickend wird deutlich, dass nicht der Käfig die Diskussionen um die Folter veränderte, sondern die geleakten Fotos aus Abu Ghraib eine unerwartete politische Wirkung entfalteten. Sie brannten sich in das kollektive Gedächtnis ein und veränderten infolge zahlreicher Prozesse, die durch das Bekanntwerden der Bilder forciert wurden, die Haltung einer Mehrheit der US-Amerikaner gegenüber der Folter, die letztlich die Regierung unter Druck setzte.[9]

Ein wichtiger Aspekt der Fotografien und ihrer Inszenierung blieb jedoch unbeachtet. Dieser erschließt sich aus der Funktion der Gruppe um den Feldwebel Charles Graner. Es handelte sich um Militärpolizisten, die im Dienst Gefangene registrierten,[10] und sich in ihrer Freizeit in den Gängen des Trakts herumtrieben, aus dem sich eine Folterabteilung Gefangene für ihre Verhörte holte. Entgegen der Berichterstattung, die den Eindruck erweckte, dass die Gruppe um Graner dienstlich tätig war, als die Fotos entstanden, deutet die unkorrekte Kleidung der Soldaten darauf hin, dass sie nach Dienstschluss eigenmächtig handelten. Wolfgang Binder hat in seiner Dissertation das System der Auslagerung von Verantwortung erkannt, jedoch trotz seiner kunstgeschichtlichen Kenntnisse den durch Künstlerinnen seit den 1960er Jahren mittels Kunst-Performances eingebrachten Aspekt übersehen, der bis heute auch in der Kunstwissenschaft unter dem Begriff „Selbstermächtigung“[11] aufs Neue diskutiert wird.

Selbstermächtigung

Hier ist zuerst auf Carolee Schneemann zu verweisen, die in ihrem Happening „Meat Joy“ seit 1964 ein orgiastisches Geschehen mit mehreren halbnackten Teilnehmern inszenierte. Auch Yayoi Kusama organisierte ab 1968 „Naked Events“ in New York und Buenos Aires. In Europa sorgten ähnliche Aktionen der Wiener Aktionisten unter der Regie von Otto Mühl und Hermann Nitsch für Aufsehen. Valie EXPORT, eine österreichische feministische Künstlerin führte 1968 ihren damaligen Partner Peter Weibel, der ihr auf allen Vieren wie ein Hund an einer Leine folgte, durch die Wiener Innenstadt.

Das löste, nicht etwa einen Skandal aus, sondern belustigte die Passanten. Diese humorige Wendung nimmt der Überschreitung von Konventionen ihre Schwere. Auch dass sie am helllichten Tage in einem urbanen Kontext vorgetragen wurde, befördert grundsätzlich die unmittelbare Kommunikation, die bei einer Inszenierung in einer stickigen und von Angst vergifteten Atmosphäre eines Gefängnisses durch Langeweile und Zwang pervertiert wird. Schon hier zeigt sich der Wert eins künstlerischen Verständnisses, der den Aktionen in Abu Ghraib abgeht.

Valie EXPORT und Peter Weibel: Aus der Mappe der Hundigkeit, Aktion in Wien, 1968,
Video der Aktion: https://www.youtube.com/watch?v=41ES0XrCX6M

Lynndie England mit einem Gefangenen in Abu Ghraib, Irak 24. Okt. 2003

Wenn hier das Skandalfoto von 2003 aus Abu Ghraib mit einem 35 Jahre zuvor entstanden Standbild der Aktion von EXPORT und Weibel konfrontiert wird, fällt zwar die hauptsächliche ikonographische Übereinstimmung auf, dass nämlich eine Frau einen Mann an der Leine hält, doch werden auf den zweiten Blick starke Unterschiede augenfällig. Die Kunst-Aktion wurde bewusst in die Öffentlichkeit verlegt, weil die exklusive Situation in einem Museum aufgeben werden sollte. Der bis auf die Akteure menschenleere Gefängnisflur ist dagegen von der Öffentlichkeit abgeschottet. Darin liegt ein nackter Mann, der sich mit seinem linken Arm aufstützt, um seinen Kopf vom Boden anzuheben, so dass er ein eventuelles Zerren an der Leine pariert kann. Der Blick der Soldatin, die ihre Uniformjacke mit Dienstgrad und Kopfbedeckung abgelegt hat, äußert Interessenlosigkeit, während EXPORT lächelnd im zugewandten Blickkontakt mit ihrem Partner steht.

Eigenmächtigkeit und visuelle Begabung

Die hier nur angedeuteten Unterschiede machen deutlich, dass beide Aktionen, abgesehen vom zeitlichen Abstand, unter grundsätzlich anderen Bedingungen aufgeführt worden sind. EXPORT und Weibel haben sich herausgenommen, das Museum zu verlassen, um Verhalten und Körperlichkeit, Gesten und Abhängigkeiten von Mann und Frau, Künstler und Museen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Diesen Absichten entspricht der später eingeführte Begriff der Selbstermächtigung, während im Gefängnis Machtausübung und Zwang vorherrschen, weshalb hier besser von Eigenmächtigkeit zu sprechen wäre.

Nach diesen ersten Schlussfolgerungen, die aus der Abgrenzung von Misshandlung und Performances gezogen werden können, offenbaren die Aussagen Englands in einem Interview mit Emma Brookes nach der Entlassung aus dem Gefängnis bisher unbeachtet gebliebene Aspekte aus ihrem Soldatenleben. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass England ihre Strafe akzeptierte es aber ungerecht fand, dass sie im Gefängnis landete und nicht auch ihre Vorgesetzten, die ihre Aufsichtspflichten verletzt hatten. Auch erkundigte sich die ehemalige Soldatin nach dem Verbleib der Fotos und zeigte sich durchaus zufrieden damit, dass sie geleakt worden waren, was dazu geführt hatte, dass die Folterpraxis überprüft worden war. Dann spricht England über ihre persönlichen Motive. Sie erwähnt, dass der psychologische Test vor der Gerichtsverhandlung ihr eine herausragende visuelle Wahrnehmungsfähigkeit bescheinigt hätte.[12] Dies sah sie als Bestätigung für ihr gestalterische Begabung. Unter Berücksichtigung ihrer Herkunft aus einer armen Familie, die ihrer Tochter, in einer wirtschaftlich abgehängten Gegend im Wohnwagen lebend, nicht viel bieten konnte, fand England in Abu Ghraib offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben Mittel und Ressourcen vor, die ihr erlaubten, ihrer Begabung freien Lauf zu lassen In dem trostlosen Gefangenenlager und unter dem Schutz ihres Verlobten und Vorgesetzten Graner konnte die junge Frau mit ihren Kameradinnen Sabrina Harman und Megan Ambuhl unbeobachtet und außerhalb jeder Kontrolle in ihrer freien Zeit die Regie übernehmen und ein Theater bizarrer Ideen erschaffen.[13]

Repression schlägt in Perversion um

Mit den Experimenten der Body Art versuchten die oben beispielhaft genannten Künstler*innen die durch Arbeit und patriarchale Verhältnisse eingeschränkten Spielräume zunächst physisch sinnbildlich auszuweiten. Die Aktionen und die daraus hervorgebrachten Dokumente veränderten zunächst das Bild vom Körper und den gegenseitigen Umgang. Somit zielten sie in der Praxis auf die volle Verfügbarkeit ihrer geistigen und körperlichen Ressourcen.[14] Im Gefangenenlager von Abu Ghraib bedeutete die Kasernierung in einer feindlichen Umgebung nicht nur für die Gefangenen sondern auch für die Soldaten erheblichen Stress, der die seelische und physische Verfassung der jungen Soldaten beeinflusste. Sie waren durch die Rationalität einer militärischen Hierarche instrumentalisiert und suchten nach Auswegen, ohne allerdings die daraus resultierende Bedrängnis zu ahnen – geschweige objektivieren zu können. Stattdessen lebte sie ihren Freiheitsdrang mit performativen Mitteln in anarchistischen Akten in einer „vorrationalen Sphäre“[15] aus. Wie es die Fotografien belegen, wurden Bestandteile von Mimik, Gestik und Handlungen freigesetzt, die sich in anderen Bereichen der Gesellschaft unter besseren Bedingungen schon entfaltet worden waren. In einem Gefängnis für Kriegsgefangene, wo die Militärpolizisten um Graner auch noch durch die Folterer des Militärgeheimdienstes protegiert wurden,[16] musste ein derartiger Versuch, die eigene Situation durch Selbstermächtigung zu verbessern oder nur den Stress zu mildern, in Perversion untergehen und scheitern.[17] England blieb wie die von ihr unterworfenen Gefangenen selbst eine Gefangene der militärischen Hierarchie und wurde obendrein dafür verurteilt.

An einem Ort, wo schon die Erpressung von Aussagen durch Folter misslang, wie es Binder hervorhob, konnte es auch keine Freizeit, geschweige denn Freiräume geben, die eine Emanzipation durch Performance ermöglicht hätte. Verglichen mit persönlichen Niederlagen, die mit dem Scheitern des Kampfs gegen den Terror verbunden sind, bot der Nachbau des Käfigs im Verhältnis 1 zu 1, wie ihn Wilfried Hagebölling aufstellte, eine Gelegenheit die Empörung oder auch die Trauer über das Geschehen anzudocken. Es wurde ein Objekt angeboten, das als Projektionsfläche dienen konnte.[18]  Die Freiwilligkeit erlaubte es den Passanten, sich dem Käfig im öffentlichen Raum zu nähern und sich mit dem Sinnbild des Desasters ohne Gesichtsverlust und mit Empathie auseinanderzusetzen. Diese Möglichkeit gestattete es Betrachtern, die durch die Fotos aus Abu Ghraib ausgelöste Beschämung oder auch eine mögliche Re-traumatisierung zu mildern. Das Entsetzen findet einen Kontext, der sich jenseits eines von Geschäftsinteressen getriebenen Mummenschanz entlastend auswirken kann.

© Johannes Lothar Schröder

LITERATURVERZEICHNIS

Binder, W. (2012). Die öffentliche Macht der Moral. Abu Ghraib als ikonische Wendung im Krieg gegen den Terror. Konstanz: Universität Konstanz.

Binder, W. (2014). Folter als Performanz. In: Bernhard Giesen u.a. (Hg.), Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral (S. 66-87). Weilerswist-Metternich: Velbrück.

Brookes, E. (2009). „What happens in war happens“. In: The Guardian, 03.01.2009.

Honneth, A. (1988). Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne. In: Peter Kemper (Hg.), Postmoderne oder der Kampf um die Zukunft (S. 127-144). Frankfurt am Main: Fischer.

Meyer zu Schlochtern, J. (2019). Friedrich Spee und Abu Ghureib. (Professoren der Theologischen Fakultät, Paderborn, Hrsg.) Theologie und Glaube, Aschendorf, Oktober 2019, S. 328-342.

Anmerkungen

[1] Die Ambivalenz von Dokument und Inszenierung fasst Werner Binder in seinem Aufsatz Folter als Performanz folgendermaßen zusammen: „Vor dem Hintergrund der Folterdebatte nach 9/11 müssen die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als eine ‚missglückte’ Performanz von Folter aufgefasst werden.“ (Binder W. , 2014) S. 86

[2] Das ist eine Möglichkeit, die der deutsche Regisseur Werner Herzog auch in Dokumentarfilmen anwendet, weil er nicht an das bloße Abfilmen von Wirklichkeit glaubt.„Werner Herzog legt den Protagonisten in seinen Dokumentarfilmen manchmal Worte in den Mund oder erfindet etwas hinzu. Er schafft Bilder, die eine tiefere, ‚ekstatische Wahrheit‘ enthüllen sollen und dafür auch mal deutlich von den Fakten abweichen.“ Kristina Jaspers und Rainer Rother (Hg.), Werner Herzog, Berlin (Deutsche Kinemathek) 2022, S.234 Die Autoren nähern sich mit der Frage, ob „eine Inszenierung tatsächlich ‚wahrer‘ sein (kann) als ein Dokument?‘ dem Widerstreit zwischen den Möglichkeiten eines Kunstprodukts und der Darstellung seines Inhalts. Herzog nutzt also die Erfassung der Wirklichkeit zur Hervorbringung einer „ekstatischen Wahrheit“.

[3] https://www.thf-paderborn.de/theologische-fakultaet-paderborn-verleiht-friedrich-spee-preis-2018/ 12.12.2018

[4] Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, Oxford 1972, dt.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt 1987

[5] Zur Schreibung von Abu Ghraib ist anzumerken, dass im Text abweichend von der Schreibweise Abu Ghuraib, für die sich Hagebölling entschieden hat, die in Publikationen übliche Schreibung verwendet wird.

[6] Die Veröffentlichung der Bilder und die Prozesse gegen US-Soldaten verstärkten die Diskussion noch einmal während des US-amerikanischen Vorwahlen und dem Wahlkampf um die Präsidentschaft. (Binder W. , 2012), S. 584-597.

[7] Anlass war die Entführung des Sohnes der Bankiersfamilie von Metzler. Der Täter wurde gefasst, doch versuchte die Polizei vergeblich, den Aufenthaltsort des Entführten zu ermitteln, um das Leben von Jakob Metzler zu retten. Aus diesem Anlass wurden die Vor- und Nachteile der Wiedereinführung von Folter – auch zur Abwendung von Terror – diskutiert. Domenico Siciliano rezensierte die zuletzt erschiene Literatur dazu., Folter. Rituale der Macht, in: Rechtsgeschichte, Nr. 7, 2005, S. 161–169. „Resümierend kann man festhalten, dass Folter keine deutsche Rechtsgeschichte ist. Sie ist auch keine Geschichte bzw. keine naturgegebene Konstante der Gesellschaft. Folter dient grundsätzlich der Feststellung bzw. der Konstruktion der Wahrheit durch den Staat im Strafprozess. Insofern hat die Folter immer eine politisch staatliche Dimension. Ihre Verabsolutierung, Naturalisierung und Spektakularisierung lenkt den Blick von den Wahrheits- bzw. Machtstrategien ab, die der Staatsapparat durch sie verfolgt und durchsetzt. Es muss keinen Skandal darstellen, dass Literaten besser als Juristen diese Machtstrategien durchschauen, beschreiben und kritisieren.“ S. 169 Die Herausgeber des Sammelbandes „Ungefähres“ nennen als Grund für ihre Publikation: „Das Geschwätzige Wuchern der Diskurse und die unablässige Vervielfältigung der Bilder fördern eine gesellschaftliche Unübersichtlichkeit, in welcher die Unterscheidung zwischen Gerücht und Wissen, Original und Kopie, Gegnerschaft und Nachahmung zu kollabieren droht.“ (Binder W. , 2014)

[8] (Meyer zu Schlochtern, 2019)

[9] Wolfgang Binder hat die Debatte und Wirkung der Bilder in seiner Dissertation Die öffentliche Macht der Moral zusammengetragen und mit einer Analyse der Fotos verknüpft, um ihre Macht zu begründen. Die Diskussion über die Folterpraktiken führten über mehrere Phasen im Laufe von Jahren zwar nicht zu Rücktritten von Ministern, sondern zog sich bis zur Präsidentenwahl 2008, in der McCain gegen Barak Obama antrat. McCain hatte zusammen mit den Demokraten ein Amendment durchgesetzt, das neue Standards der Behandlung von Häftlingen setzte. (Binder W. , 2012), S. 648ff

[10] 10.05.2004  http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html  (besucht am 23.08.2017)

[11] Den Begriff hat der Psychologe Julian Rappaport 1984 geprägt, als er Selbstermächtigung als ein Mittel beschrieb, das in der Gemeindepsychiatrie und -sozialarbeit die Menschen befähigen soll, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen. (Studies in Empowerment: Steps Toward Understanding and Action)

„Empowerment` unterstützt Menschen bei ihrer Suche nach Selbstbestimmung und autonomer Lebensregie.“ https://de.m.wiktionary.org/wiki/Empowerment Erst Jahrzehnte später wurde dieser Begriff im Zuge einer feministischen und postkolonialen Kunstgeschichte rückblickend auf Performances von Künstler*innen übertragen. Für den Vergleich der Motive auf den Fotos aus Abu Ghraib mit Szenen aus der Performance-Dokumentation kann dieser Begriff dazu beitragen, sich einem bisher vernachlässigten Aspekt zu nähern. In den letzten Jahren wurde der Begriff wieder häufiger verwendet. Alice Henkes sieht das Theater von Rimini Protokoll unter dieser Prämisse. https://www.rimini-protokoll.de/website/media/Solothurn/Presse/2023-02-22_Kunst-Bulletin_Rimini%20Protokoll%20u%20Kunst%20als%20Anleitung%20zur%20kritischen%20Selbstermochtigung_.pdf (10.11.2024) Auch fand Selbstermächtigung Eingang in den Titel eines Buchs über Achtsamkeit von Wolfgang Ullrich. Identifikation und Empowerment, Berlin (Wagenbach) 2024.

[12] Die Aussage des psychologischen Gutachtens: „There are only ten kids in the USA who have that.” Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009). Mit dem Satz: „Nur 10 kids in den USA haben diese Begabung“ wird ihre visuelle Intelligenz gewürdigt und es war wohl das einzige Mal, dass ihr als Kind der Unterschicht eine Würdigung zuteilwurde. Auch wenn sie sich in ihrer einfachen Sprache dazu äußerte, wird ersichtlich, wie stolz sie war, dass sie einmal nicht nur als Delinquentin wahrgenommen, sondern ihr eine Begabung zuerkannt wurde, aus der sie trotz ihrer misslichen Lage Selbstbewusstsein beziehen konnte..

[13] Als Grund für ihre Entscheidung, sich als Soldatin für einen Auslandseinsatz zu verpflichten, gab England die Absicht an, genug Geld verdienen zu können, um als Veteranin mit ihrer Abfindung ein teures College zu bezahlen. Es war ihr Ziel, sich durch Bildung zu emanzipieren. Doch konnte sie nicht ahnen, dass die Umstände ihrer militärischen Laufbahn genau das verhinderten. Die Verurteilung führte zum Verlust ihres Dienstgrades, ihres Status als Veteranin und folglich auch der Abfindung. Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009).

[14] Diese Entwicklung verlief nicht isoliert in der Kunst ab. Das Feld war Teil der Emanzipationsbewegungen seit den 1960er Jahren in allen Bereichen des Lebens. Erforscht wurde dieser Bereich allerdings erst etwa zwei Jahrzehnte später in der Soziologie, in der zunächst die Ungleichbehandlung in der Erwerbsarbeit erforscht wurde. Die kulturellen Auswirkungen fanden mit weiterer Verzögerung Beachtung. Hildegard Maria Nickel blickt aus der Zeit der Etablierung dieses Zweigs der Soziologie zurück auf die Anfänge. In: Genderstudien (Hg. von Christina von Braun und Inge Stephan), Stuttgart und Weimar (Metzler) 2000, S. 130-141.

[15] (Honneth, 1988), S. 135

[16] Nach übereinstimmenden Aussagen von England und anderen ließen die Soldaten des Militärgeheimdienstes die Soldaten um Graner ihre Spiele mit den Gefangenen mit der Absicht treiben, diese für die „Verhöre weichzuklopfen“ Der Spiegel berichtete am 10.05.2004 über „einen 53-Seiten-Bericht …, den Generalmajor Antonio Taguba verfasste. Danach vernachlässigten die Offiziere ihre Aufsichtspflicht, und die Militärpolizisten dienten den Verhörern als Büttel – sie sollten die Gefangenen ‚auflockern‘, damit sie ihr Wissen über den Widerstand im Lande leichter ausplauderten.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html  (23.08.17)

[17] Zum erneuten Wahlsieg von Donald Trump schrieb Slavoj Zizek bei e-flux über Unterdrückung und auch über die Perversion. Er argumentierte mit Freud, der sagte, dass „bei der Perversion alles Unterdrückte, alle unterdrückten Inhalte in all ihrer Obszönität zum Vorschein (kommt), aber diese Rückkehr des Unterdrückten verstärkt nur die Unterdrückung – und das ist auch der Grund, warum Trumps Obszönitäten nichts Befreiendes haben. Sie verstärken lediglich die soziale Unterdrückung und Mystifizierung. Trumps obszöne Auftritte bringen also die Falschheit seines Populismus zum Ausdruck: Um es mit brutaler Einfachheit auszudrücken: Während er so tut, als kümmere er sich um die einfachen Leute, fördert er das Großkapital.“ (nach #e-flux auf Instagram am 14.11.2024)

[18] Manfred Schneckenburger erwähnte in einer Podiumsdiskussion über den Käfig von Hagebölling, dass ihm sofort die Fotos aus Abu Ghraib von den Augen gestanden hätten, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. (Meyer zu Schlochtern, 2019)

Vom Bildverbot zur Bilderskepsis

Gustav Metzger im TOWER MMK in Frankfurt am Main
Von Johannes Lothar Schröder

Wenn von der Erinnerung an die ermordeten Eltern nur Rudimente bleiben und eine Zeichnung schemenhafte Schatten hervorbringt, was kann dann noch von Kunst verlangt werden?

Family at the Table, Zeichnung 1950, The Estate of Gustav Metzger & the Gustav Metzger Foundation, London (UK)

Die mutmaßlich einzige frühe Erinnerung, die dem mit 13 Jahren im letzten Zug, der jüdische Kinder aus Deutschland nach England brachte, geretteten Jungen aus Nürnberg geblieben ist, hat Gustav Metzger 1950 in einer Zeichnung festgehalten. Es sind Skizzen, die nichts als Schatten sind, die traumgleiche Gesichter andeuten und zugleich wieder mit groben Strichen überzeichnen, können sich kaum noch den ermordeten Eltern annähern. Mit fünf Zeichnungen aus dem Nachlass des Waisen, der bei Stiefeltern in England aufgewachsen ist, beginnt der Rundgang durch die Ausstellung im TOWER MMK in Frankfurt am Main, die darüber hinaus noch spätere farbige figürliche Zeichnungen präsentiert, die das Talent des jungen Künstlers aufscheinen lassen, das sich der Last der Geschichte nicht entwinden konnte.

Die Zerstörung geht weiter

Metzger befasste sich mit der Zerstörung, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte. Er begründete das „Destruction in Art Symposium“ (DIAS) 1967 und behielt wissenschaftliche und technologische Entwicklungen im Blick. „Bewegungen gegen Krieg, Rüstung und Atomenergie, die Abwehr des technologischen Fortschritts und die Konfrontation mit neuen sozialen Problemen prägen die Kunst – ebenso Rückzug, Passivität und Anpassung.“[1] Das formulierte er 1981 im Konzept der Gegenausstellung zu „Westkunst“ in Köln, die nach seiner Erfahrung alle Komplikationen der Nachkriegsgeschichte ignorierte und die Brüchigkeit der internationalen Kunstentwicklung zu glätten versuchte.

Metzgers späteren Werke wie die Visualisierung von Flüssigkristallen und der Fleischkrise nach dem BSE-Skandal in Großbritannien, seine Warnungen von der Automobilität und Atomwirtschaft als Zerstörerinnen des urbanen Lebens, der Landschaft und der Ressourcen, sind als künstlerische Interventionen zu sehen und oft nur in Form von Modellen, Dokumenten und Relikten erhalten oder als Redoings wiederherstellbar.

„Kill the cars!“ riefen auf einem Autowrack herumspringenden Kinder in Camden 1996

Nachstellung 2024 von: Historic Photographs: Kill the Cars, Camden Town, 1996

Im Tower zu sehen sind die Rekonstruktion von „Tropfen auf einer heißen Platte“ von 1968 und von „Kill the Cars“ Camden Town, London 1996. Die Annoncen für Flüge zu Schleuderpreisen von Ryanair sind Ready-Mades aus Tageszeitungen. „Strampelnde Bäume“ strecken ihre Wurzeln vor dem Taunustower in die Luft, während ihre Kronen im Betonsockel und unter der Erde unsichtbar sind.

Strampelnde Bäume 2010/2024 (Ausschnitt mit einem von fünf Bäumen)

Bedeutend sind Metzgers Auseinandersetzungen mit Bildverboten und der Unmöglichkeit Zivilisationsbrüche adäquat abzubilden. Die Reihe „Historischer Fotografien“ mit geplotteten Fotografien der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, vom Anschluss (Österreichs), der Rampe in Auschwitz zeigen Versuche, diese Bilder zu bewältigen. Metzger hat dazu Verschläge, Verschalungen, Einschweißungen und Abdeckungen ersonnen, die diese Bilder entweder vollkommen unsichtbar machen oder ihren Anblick erschweren.

Historic Photographs: The Ramp at Auschwitz, Summer 1944, 1998/1924, The Estate of Gustav Metzger & The Gustav Metzger Foundation, London (UK) Der Korridor vor dem Bild hindert daran, das nicht Abbildbare zu überblicken. Im Hintergrund (links) sieht man das zwischen zwei Eisenplatten eingeschweißte Foto „Hitler-Youth“, 1997

Sein Interesse für wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen brachten kinetische, sich selbst abbauende Skulpturen und „Liquid Cristal Environments“ (1965) hervor, die während Konzerten von The Cream und The Who verwendet wurden.

Liquid Crystal Environment (Ausschnitt) 1965/2024, The Estate of Gustav Metzger & The Gustav Metzger Foundation, London (UK)

Zwei wegweisende Begleithefte zur Ausstellung

Was auf 80 Seiten des schmalen hochformatigen Begleithefts zur Ausstellung von Julia Eichler, Ann-Charlotte Günzel, Leon Jankowiak und Susanne Pfeffer formuliert und zusammengefasst wurde, sucht in seiner Kompaktheit und Sachlichkeit seinesgleichen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Raum für Raum werden die Werke und ihr Anlass dargestellt. In einem zweiten Teil ist eine aktualisierte Kurzbiografie Metzgers wiedergegeben. Das schließt wenige, aber bezeichnende Abbildungen von Werken mit ein. Der dritte Teil gibt die Paragrafen der antisemitischen Gesetzgebung wieder, die zwischen 1938 und 1942 die Rechte der jüdischen Bürger mit dem Ziel beschnitt, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen zu zerstören und dem Raub ihres Besitzes einen legalen Anschein zu geben. 1981 trug Metzger die im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Texte für die Ausstellung „Vor dem Abbruch“ in Bern zusammen.

Das zweite Heft zur Ausstellung ist von Marlene Seifert in einfache Sprache übersetzt und besonders empfehlenswert für alle, die wenig über Metzger und das Gebiet der Destruktions-Kunst wissen.

Die Ausstellung ist bis zum 5. Jan. 2025 im TOWER MMK in Frankfurt am Main, Taunusturm, Taunusstraße 1 zu sehen.

https://www.mmk.art

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[1] Passiv-Explosiv, Entwurf einer Ausstellung in Köln 1981, Konzept: Gustav Metzger, in: Katalog, Generali Foundation, Wien 2005, S. 263f

Erzwungene Sendezeit

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Zwischen Identitätssuche und Terror

Der Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 war nach Auffassung von Horst Bredekamp der erste „Bildproduktionsaufstand“ [1]. Da kaum jemand sein Gesicht verbarg, obwohl sich die Teilnehmer aus verschiedenen Gruppierungen der nationalistischen Rechten an strafbaren Handlungen beteiligten, wobei sie sich mit ihren Smartphonekameras filmten, fragt man sich, weshalb sie keine Strafverfolgung befürchteten? Es ist möglich, dass sie sich wie ihr Idol Trump unantastbar fühlten. Dagegen geht der Berliner Kunsthistoriker davon aus, dass die Taten begangen worden sind, „um Bilder zu erzeugen, um die eigene Identität zu finden.“[2] Bredekamp bezog sich mit dieser Behauptung auch auf frühere Ereignisse, bei denen sich irreguläre Kämpfer z.B. während der Balkankriege oder in Syrien vor laufender Kamera mit Kriegsverbrechen brüsteten.

Was Bredekamp – wahrscheinlich aufgrund des Sendeformats – unerwähnt ließ, ist das Muster der Mediennutzung, das seitens bildender Künstler*innen auch als Spiel mit Identität betrieben worden ist.[3] Unter ihnen war die kalkulierte mediale Aufbereitung von performativen Akten von Anfang an ein Mittel der Wahl und fand einen neuen Höhepunkt mit ephemeren Kunstformen wie Happenings und Performances seit den 1950ern. Es waren die skandalösen Performances der Wiener Aktionisten, mit denen sich die von den akademischen Künstlern und Kritikern Geächteten in die Kunstgeschichte eingeschrieben haben. Sie ließen ihre Aktionen noch mit Film- und Fotokameras aufnehmen, während die Performances der nächsten Künstlergeneration mit einem neuen elektronischen Medium dokumentiert worden sind. Als SONY in den 1970er Jahren eine tragbare Videokamera auf den Markt brachte, die mit einem Kabel an einen Betamax-Kassettenrecorder angeschlossen werden konnte, stand erstmals eine erschwingliche Kamera zur Aufnahme von Aktionen zur Verfügung. Diese konnten ohne Zwischenschritte wie Filmentwicklung aufgezeichnet werden, um sie nach dem Zurückspulen wiedergeben zu können. Das war eine Revolution, denn es machte die Künstler*innen vom Foto- und Filmdispositiv unabhängig und ermöglichte es zudem, sich selbst am Monitor in Echtzeit zu beobachten.[4] Besonders Künstlerinnen, die in dieser Zeit mit Performances experimentierten, begriffen sofort die darin liegenden Möglichkeiten. Ungestört im Studio ließen sich beispielsweise eigene Bewegungen beobachten und korrigieren. Weiterreichender war jedoch, dass Video es gestattete, ein Medium einzusetzen, dass nicht schon von Männern definiert worden wäre. Dies, die zunehmende Miniaturisierung und Verfügbarkeit machte Video zu einem Medium der Selbstermächtigung von Künstler*innen und damit zu einem Instrument der Emanzipation, das immer weitere Kreise zog, bis es eine breite Öffentlichkeit erreichte.

Heute, wo generalisierend von „lensbased oder timebased media“ gesprochen wird, werden Film und Video oft unbedacht gleichgesetzt. Wegen der Rolle von Video als Medium der Emanzipation ist es jedoch dringlich, die Unterschiede der Dispositive Film und Video zu beachten. Es ist die leichte Handhabung von Video im Künstlerstudio und der umweglose Weg zum Publikum, der es bis heute erlaubt, einen zunehmenden gesellschaftlichen Nutzen des bewegten Bildes zu gewährleisten. Video hatte die Bildproduktion von Laboren und der industriellen Verwertung, wie die des Films durch Kino oder TV, unabhängig gemacht.

Video als Medium von Gewalt

Das Potential konnte sich erst recht durch die direkte Verschaltung von Videokamera und Internet im Smartphone seit der Jahrtausendwende entfalten und wurde besonders für zahlreiche Emanzipationsbewegungen und die Durchsetzung von Eigeninteressen essenziell. Auf der Suche nach Zugang zu Ausstellungen in Galerien und Museen ging es nicht immer beschaulich zu. Kaum noch jemand erinnert sich daran, dass Chris Burden im Lauf der Aktion TV Hijack am 9. Februar 1972 den TV-Kabelsender Channel 3 im kalifornischen Irvine dazu zwang, ein Interview mit ihm live auszustrahlen. Dazu hielt er der Moderatorin Phyllis Lutjeans ein Messer an den Hals. Am Ende ließ er sich die Aufzeichnung des Senders herausgeben und zerstörte das Band mit Aceton. Nur die von ihm durch das ihn begleitende Videoteam gedrehte Sicht auf die Aktion blieb erhalten.[5]

Der zeitliche Abstand könnte nahelegen, dass sich Terror und Performance- sowie Medienkunst gegenseitig inspiriert haben. Das würde aber die Wirkmacht der Kunst überschätzen, wogegen die Erkenntnismacht von Kunst durchaus auf der Höhe der Zeit und der medialen Möglichkeiten ist. Die Qualifikation der Künstler als Bildspezialisten ermöglichte es einigen von ihnen, das Potential neuer Technologien zu antizipieren und auszuschöpfen, während sich gleichzeitig auch militärisch unterlegene Terroristen durch die Überrumpelung von Medien und konventionellen Streitkräften einen – wenn auch nur kurzfristigen – Vorteil verschaffen konnten. Beide Gruppen wurden aus unterschiedlichen Gründen avantgardistisch, weil sie sich gesellschaftlich wie politisch aus einer Minderheitenposition mit geringer Machtfülle gegenüber etablierten und feindlichen Positionen durchsetzen wollten. Das zwang sie zu Spezialisten für Überraschungen auf einem erweiterten medialen Gebiet zu werden.

Einen Paradigmenwechsel gab es 1968, als sich Terroristen und vom Terror inspirierte kriegsführende Parteien mit Flugzeugentführungen Zugang zur Berichterstattung in den Massenmedien verschafft haben.[6] Wurde anfänglich noch das Leben von Flugzeuginsassen benutzt, um eigene Kombattanten freizupressen, entwickelten sich Flugzeugentführungen in eine Richtung, in der es nicht mehr nur auf die Passagiere als Geiseln ankam, sondern das dabei produzierte bildmächtige Ereignis für die Nachrichten trat in den Vordergrund, weil es Botschaften in die Medien transportierte.[7] Das Topereignis und zugleich das Ende dieser Phase war 9/11, wo – notwendiger Zufall – in Manhattan sogar ein professionelles Filmteam in Begleitung einer Feuerwache unterwegs war und den unangekündigten Schlag aufzeichnen konnte. Jules und Gédéon Naudet folgten mit ihrer Filmkamera sofort dem kreischenden Geräusch des Flugzeugs über ihnen, wodurch der erste Einschlag in den Word-Trade-Center-Turm hochauflösend dokumentiert wurde. Zwei der drei weiteren Abstürze ereigneten sich außerhalb von Ballungsgebieten, wo kaum private Kameras eingeschaltet waren, um plötzliche Ereignisse sofort festzuhalten.

Der Weg zur direkt oder indirekt erzwungenen Sendezeit zeigt sowohl in der künstlerischen wie auch in der politischen Anwendung die ganze Ambivalenz der Unternehmungen, die von Achtsamkeit bis hin zur Brachialgewalt reicht, so dass es geboten ist, die Aufmerksamkeit auf die Übergänge zwischen den emanzipatorischen und zerstörerischen Ansätzen der Mediennutzung zu richten.

Verhöhnung der aufklärerischen Funktion von Medien

Eine Episode aus dem Krieg im früheren Jugoslawien wurde am 16. März 1999 auf CNN gesendet. Die Zuschauer*innen sehen plündernde serbische Polizisten in einem albanischen Dorf, das anschließend dem Erdboden gleich gemacht wurde. Thomas Keenan fragte sich, warum die auf frischer Tat ertappten Plünderer nicht versuchten, ihr Unrecht zu verbergen? Statt die Journalisten anzugreifen oder in die Flucht zu schlagen, winkten sie dem Kamerateam sogar zu. Keenan sah darin ein Indiz dafür, dass „eines der fundamentalen Ziele der Bürgerrechtsbewegung im Zeitalter der Publizität unwirksam geworden war, denn die erwartbare Offenlegung der Gewalt wurde seitens der Delinquenten nicht mehr gefürchtet. Zuvor war sie mehr als die Erfüllung eines ethischen Anspruchs, sondern eine Intervention.“[8]

Bill Neely, Mijalic-im-Kosovo-wird von serbischen Polizisten-zerstört, Still eines Videos ausgestrahlt auf ITV Nightly News und CNN am 16.03.1999, Abb. aus: Fabian Marcaccio, Katalog, Kunstmuseum Liechtenstein 2004, S. 83

Die plündernden Serben hatten es wohl kaum darauf angelegt, es in die Abendnachrichten zu schaffen, obwohl das Kamerateam wahrscheinlich aus guten Gründen in dieser Gegend unterwegs war. Am Ende erweist sich das Verhalten der Polizisten, die offensichtlich keine Sanktionierung ihrer Verbrechen befürchten mussten, als Angriff auf die aufklärerische Wirksamkeit von Medieninhalten. Damit verkörperten die marodierenden Polizisten nationalistische und totalitäre Bestrebungen, die nach dem Ende des kalten Krieges ein neues Kapitel der Einschränkung von Pressefreiheit einläuteten. Es war bekannt, dass es bei der Allgegenwart von Kameras nur noch schwer möglich war, unbeobachtet zu bleiben. Angesichts des einsetzenden Siegeszugs des Internets verbreitete sich unter autoritären Kräften eine zunehmende Hartnäckigkeit, die mit Ignoranz, Desinformation, Leugnung und Verleumdung einhergeht. Man setzte auf solche Reaktionsmöglichkeit gegen die schnelle Verbreitung unerwünschter Bilder und versuchte sich sogar gegen weitere Verzweigungen von Informationsflüssen in einer vernetzten Welt territorial abzuschotten. Wenn es nicht möglich war, das Kursieren von Bildern zu unterbinden, so nutzte man eigene Medien und Nachrichtenkanäle, um Personen, Demokratiebewegungen und andere Aktivisten verächtlich zu machen.

Im letzten Jahrzehnt ist dieser Trend in den ältesten Demokratien der Neuzeit voll durchgeschlagen, besonders seit das Führungspersonal von Parteien und Kandidaten sich das Wissen von Firmen aneignete, um Wahlen und Stimmungen in ihren Ländern zu beeinflussen. Boris Johnson und Donald Trump holten sich einschlägiges Know-how bei spezialisierten Nachrichtensendern, Internetfirmen und Beratern.[9] Die rasante Verbreitung der permanenten Bildproduktion und die Manipulation von Informationen schritt unterdessen so weit fort, dass es selbst bei Übeltätern zu einem paradoxen Verhalten kam. Sie ließen sich auch während Straftaten von ihren Medien begleiten. Schließlich ermöglichte die Miniaturisierung der Medien und die Vernetzung der Welt es einzelnen Aufständischen, mit dem Smartphone in der einen die mit der anderen Hand ausgeübten Gewalttaten zu filmen. Als sich am 6. Januar 2021 in Washington die Angreifer auf das Kapitol, dem Sitz des gewählten Souveräns, selbst und gegenseitig filmten, wurden massenhaft Straftaten dokumentiert und in den Sozialen Medien verbreitet. Ihr überwältigender Siegeszug hatte einen Höhepunkt erreicht, den sich diejenigen, die Video als Medium der Aufklärung veranschlagten, nicht hätten vorstellen können. Um diesen Angriff auf die wichtigste Institution der demokratischen Verfassung zu interpretieren, sprach Horst Bredekamp von einem „ersten Bildproduktionsaufstand“. Weil kaum jemand sein Gesicht verbarg, sondern im Gegenteil das Parlament als eine Kulisse betrachtet wurde, um sich selbst in Szene zu setzen, ging Bredekamp sogar weiter und behauptete, dass die Straftaten begangen wurden, „um Bilder zu erzeugen, um die eigene Identität zu finden.“[10]

Waffen im Kampf um Aufmerksamkeit

Diese Schlussfolgerung gegenüber einem paradoxen Verhalten ist zugleich irre- wie zielführend. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es auf Performances zurückgeht, mit denen sich Künstler*innen in Szene setzten, die seit den 1950er Jahren befürchten mussten, durch die Großartigkeit von technologischen, sportlichen, politischen und militärischen Ereignissen und ihre Multiplikation in den traditionellen Printmedien und im TV zurückgedrängt zu werden. Sie wählten Aktionsformen, die ihnen Aufmerksamkeit über die Kunstszene hinaus verschafften.[11] Ein halbes Jahrhundert später hat sich sowohl das Gefühl, in die Bedeutungslosigkeit zurückgedrängt zu werden, durch das Wirken von Aufmerksamkeitsbeschaffungsprofis noch verstärkt. Vor dem Hintergrund der Informationen aus der globalisierten Welt, in der sich ständig und überall etwas Wichtiges ereignet, ist die Sorge darum, unbeachtet zu bleiben, zu einem Massenphänomen geworden. Jede*r Einzelne kämpft auf seine Art und Weise dafür beachtet zu werden. Das eigene Smartphone ist zur Waffe im Kampf für mehr Aufmerksamkeit geworden, und wird mit Selfies, kruden Bildern und Clip geladen, um möglichst viele Klicks zu erheischen.

In den USA mit Donald Trump wurde die Situation weiter angeheizt, weil ein Präsident die Entwicklung des multilateralen Systems der Globalisierung zurückdrehen wollte, indem er die Nation aus internationalen Verträgen und Verpflichtungen herauslöste und gleichzeitig versprach das Land zu neuer Blüte zu führen. Trump konnte mit so einer Entscheidung bei seinen Anhängern, deren Leben sich verschlechtert hatte, punkten, weil er versprochen hatte, Aufmerksamkeit für die Unbeachteten zu schaffen und Jobs zurückzuholen, die weniger qualifizierte Arbeitnehmer*innen wieder Auskommen durch Arbeit ermöglichen sollte. Das weckte Hoffnung, führte jedoch angesichts der neuen Quellen des Reichtums, die gerade durch die Produktion von Bildern und Daten sowie von Geräten und Programmen für deren globale Zirkulation sprudelten, in eine Sackgasse. Um das zu verschleiern, wurde der Sektor der Software- und Medienkonzerne bezichtigt, manipulativ zu sein, während der Präsident, der selbst als Medienprofi im TV-Sektor tätig gewesen war, sich aller medialen Möglichkeiten und auch der Sozialen Medien bediente, um seine Anhänger für sich und seine Ziele einzuspannen und seine Gegner zu beleidigen. Dabei war das Ausspielen der alten gegen die neuen Industrien von vorneherein ein unglaubwürdiges Täuschungsmanöver, weil die Internetkonzerne eng in wichtige Bereiche staatlichen Handelns (z.B. Verwaltung, Waffen, Verteidigung, Spionage, Sicherheit) eingebunden sind.

Da er das industriepolitische Ruder nicht umwerfen konnte, musste Trump zum Finale seiner Präsidentschaft, die er nicht bereit war aufzugeben, seinen Anhängern ein Spektakel bieten, das ihm erlaubte, sein Image als Befreier und Arbeiterführer mit erhobener Faust zu festigen. Also setzte er sich in den letzten Tagen seiner Präsidentschaft an die Spitze der Bewegung und rief seine Anhänger dazu auf, das Kapitol zu stürmen. Als Anführer beteiligte er sie symbolisch an seiner zu diesem Zeitpunkt schwindenden Macht. Es entstand eine Situation, in der es so aussah, als würden die Anhänger des Präsidenten sich selbst ermächtigen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen.

Unverträgliche Auffassungen von Identität

Die vielschichtige Wechselbeziehung zwischen Mediennutzung zur Erzeugung von Identität in der Kunst und in der Politik wird bei Bredekamp nur in einem Nebensatz angedeutet, während ein anderer Kommentator, Manfred Schneider in der NZZ, seinen Akzent auf die Wildheit in der Selbstdarstellung der Aufständischen in Washington setzte, die er mit Fußballhooligans vergleicht. Die partielle Existenz von Krawalltruppen aus dem Bereich des Sports in Europa auf die politischen Kämpfe in den USA zu übertragen erscheint schon allein deshalb fragwürdig, weil dort die Aufständischen von ihrem Präsidenten eingespannt worden sind, um an einer Medieninszenierung teilzunehmen, während Hooligans in Europa von einer Mehrheit der Vereinsmitglieder und den Vorständen der Fußballclubs geächtet werden. Außerdem stellt die Anstiftung der Krawalle in Washington durch den Präsidenten und die ihm nahestehenden Teile seiner Partei, die Idee der Selbstermächtigung und Entwicklung von Identität in Kunst und Gesellschaft auf den Kopf; denn die in vielen Ländern Protestierenden setzten ihr Leben und ihre Gesundheit aufs Spiel, um sich gegen Autokraten durchzusetzen und Unterdrückung aufzulehnen. Merkwürdig genug, dass Trump als noch amtierender Präsident seinen Anhängern suggerierte, sie würden es den Protestierenden in Weißrussland oder in Hongkong gleichtun.

Beim Sturm auf das Kapitol in Washington zeigten die Protestierenden Ausstattungselemente, die Stammeskulturen entlehnt sind, mit denen sich auch Performancekünstler*innen im 20. Jahrhundert immer wieder auseinandergesetzt hatten. In Washington wurden von den Aufständischen Kleidungsstücken aus der Zeit der Kolonisierung Nordamerikas getragen und durch Kopfschmuck, Tattoos und Gesichtsbemalungen ergänzt, die auch ihr Idol und Anführer verwendet. Donald Trump trägt diese Kennzeichen in einer verfeinerten und mediengerechten Art und Weise, deshalb waren seine gelben Haarbüschel von Anfang an ein wirkungsvolles optisches Signal seiner Stammesführerschaft, das zum präsidialen Markenzeichen auf Fotografien und Karikaturen wurde. Zusätzlich entwickelten sich die weißen Augenränder immer stärker, bis sie in der letzten Phase seiner Präsidentschaft immer deutlicher wie eine Kriegsbemalung hervortraten, um in der Bedrängnis, in die ihn sein unpräsidiales Verhalten bei den Wahlen gebracht hatte, Kampfbereitschaft zu signalisieren. Genannt werden muss auch der rote Schlips, der zunächst einmal ein konventionelles männliches Bekleidungsstück ist, doch befremdet die Trageweise des roten Binders, der bei notorisch offen getragenem Mantel oder Jackett unmanierlich bis zu den Knien herunterhängt. Vermutlich wird das damit an seine Anhänger ausgesendete Signal als Blutspur verstanden. Die jüngst ausgesprochene Bereitschaft einiger Befürworter, Morde in Betracht zu ziehen und die Drohung, das Parlament in die Luft zu sprengen, weist in diese Richtung.[12]

English Excerpt

During the storming of the Capitol in Washington, the protesters showed face paint, clothing, and headgear, which was borrowed from tribal cultures, which could be watched since the 20th century, when performance artists repeatedly costumed in such elements. In addition to garments dating back to the times of colonists insurgents used headdresses, tattoos and face paints just as much as by their idol and leader does. Even Trump wears these hallmarks in a refined and media-friendly manner, since his yellow tufts of hair were an effective instrument of his tribal leadership from the outset, which were constantly present in the media and became a trademark in photographs and cartoons. The white eye-edges also developed more and more, until, in the final phase of his presidency, they emerged increasingly as a war paint to signal a willingness to fight in the affliction that his unpresidential conduct had brought him in the elections. The red slip, which at first represents a conventional male garment, must also be mentioned, however the wearing of the red binder hanging down to the  knees under an open coat and jacket appears unmannerly. It seems that the leader is sending a signal to his followers, which they reads as a trace of blood. The recent willingness of some supporters to consider murders, and their threat of blowing up Parliament, points in this direction.[13]


[1] Deutschlandfunk, 8.01.2021, Kultur Heute, im Gespräch, 17:36; https://www.deutschlandfunk.de/sturm-auf-us-kapitol-kunsthistoriker-bilder-wie-aus-dem.691.de.html?dram:article_id=490478 (18.02.2021)

[2] Ebd.

[3] Sind von den Filmclips der Futuristischen Serate nur ein paar verwischte Bilder erhalten, ließ sich Hugo Ball als „magischer Bischof“ beim Vortrag seines Gedichts KARAWANE im Fotostudio für die Nachwelt fixieren.   Siehe meinen blog-Beitrag über Hugo Ball

[4] Diese Möglichkeiten wurden von den feministischen Künstlerinnen im Umkreis von Judy Chicago und von Bruce Nauman genutzt. In Deutschland war es Ulrike Rosenbach, die diese Technologie in den USA kennenlernte und sie seit 1972 nutzt. https://www.ulrike-rosenbach.de/lebenslauf/ (04.03.2021)

[5] Diese Aktion Burdens steht in Verbindung mit den Flugzeugentführungen der Volksfront zur Befreiung Palästinas, die 1968, 1969 und 1970.

[6] Besonders spektakulär ging die Serie von fünf Flugzeugentführungen im September 1970 mit der Sprengung von drei der entführten Maschinen im jordanischen Zarqa zu Ende, wodurch die Bilder in die TV-Nachrichten und auf die Titelseiten der Zeitungen gelangten.

[7][7] Georg Franck prägte diesen Begriff mit dem Titel seines Buchs „Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf“ erst 1998, als nicht politische Ereignisse, sondern Werbeleute und Berater schon dazu beigetragen hatten, den Wahrheitsgehalt journalistischer Angebote zu zersetzen, und nach die Wende mit der Globalisierung eine Goldgräberstimmung aufkam.

[8] „With this simple gesture, not simply cynical or ironic, not simply nihilistic, no matter how destructive, these policemen announced the effective erasure of a fundamental aim of the human rights movement in an age of publicity: that the exposure of violence is feared by these perpetrators, and hence that the act of witness is not simply an ethical gesture but an active intervention.“ Thomas Keenan, Three Situations, in: Fabian Marcaccio: From Altered Paintings to Paintants, Köln 2004, p. 72 -85. 80. Keenan refers to a Video, which was aired by CNN March 16th, 1999

[9] Zum Beispiel spielte Cambridge Analytica (2013-2018) eine Rolle bei der Kür von Präsidentschaftskandidaten und im Präsidentschaftswahlkampf Trumps https://netzpolitik.org/2018/cambridge-analytica-was-wir-ueber-das-groesste-datenleck-in-der-geschichte-von-facebook-wissen/ (08.03.2021)

[10] Deutschlandfunk, 08.01.2021, Kultur Heute, im Gespräch, 17:36  https://www.deutschlandfunk.de/sturm-auf-us-kapitol-kunsthistoriker-bilder-wie-aus-dem.691.de.html?dram:article_id=490478 (18.02.2021)

[11] Johannes Lothar Schröder, Identität – Überschreitung/Verwandlung, Münster 1990

[12] Vergangene Woche warnte die amtierende Chefin der Kapitol-Polizei, Yogananda Pittman, bei einer Kongressanhörung davor, die Sicherheitsvorkehrungen am US-Kapitol zurückzufahren. Extremisten hätten den Wunsch, „das Kapitol in die Luft zu sprengen und so viele Parlamentarier wie möglich zu töten“. Als möglicher Anlass für eine Attacke wurde Bidens erste Rede zur Lage der Nation genannt. Ein Termin für diese sogenannte State of the Union Address steht noch nicht fest. https://www.tagesschau.de/ausland/miliz-plante-offenbar-attacke-auf-kapitol-101.html (07/03/2021)

[13]Last week, the acting head of the Capitol Police, Yogananda Pittman, warned at a congressional hearing against reducing security measures at the U.S. Capitol. Extremists want to „blow up the Capitol and kill as many parliamentarians as possible.“ Biden’s first State of the Nation address was cited as a possible cause for an attack. A date for this so-called State of the Union Address has not yet been set. https://www.tagesschau.de/ausland/miliz-plante-offenbar-attacke-auf-kapitol-101.html  (07/03/2021)