Adrenalinmassaker feinliniert auf makellosem Zeichenpapier

„AS IF“, Ralf Ziervogel, in den Deichtorhallen, Sammlung Falkenberg in Harburg

Kreis- und Kettensägen, Bohrer, Elektrohämmer, Schraubendreher, Dildos, Butt-Plugs, Schleifmaschinen, Laptops, Flüssigkeiten aller Art und mehr werden ihnen zum Verhängnis, wenn sie aufeinander losgehen. Es ist der Lärm der Arbeits- und Haushaltsgeräte, der vielen Menschen eine Bestätigung ihrer Existenz bietet, wenn spirituelle und transzendente Verbindungen nicht mehr kraftvoll genug sind, um das Leben mit Sinn zu füllen. Die trostlose Welt langweiliger Routine, manischer Konsum und permanenter Kämpfe in den schlaflosen Metropolen erfüllt viele Menschen mit dem Drang, ihre sinnlose Existenz mit Drogen erträglich zu machen oder ihre Angst mit Waffen zu bekämpfen.

Paraden grotesker Gewalt

Ralf Ziervogel spielt Gott und hat zeichnend eine Auswahl nackter Menschen in die Quarantäne seiner weißen Zeichenpapiere gesetzt. Hintergrundlos fliegen und schweben aufgeriebene und zerfetzte Menschenleiber zwischen verschiedenen Dingen herum. Fein gezeichnete Linien, die Geschoßbahnen, pulsierendes Blut, hausgerissene Sehnen und Nerven darstellen, verbinden sie zu Konglomeraten oder binden sie in Muster ein. Mit Spritzen bestückte Hautfetzen ornamentieren verklumpte Torsi und Extremitäten, die auf bis zu 10 Meter hohen Bahnen makellosen Spezialzeichenpapiers arrangiert werden. Aus der Fernsicht verschwinden die hässlichen Details und man blickt auf Netze, die von einer Parade von durch Gewalt in Verbindung stehenden Menschen auf einem Gerüst oder auf Hängebrücken gebildet werden, die bisweilen die Gestalt einer Partitur annehmen können. Wenn man weiß, dass die Gewalt der Musik auch erst im Konzertsaal hervortritt, so fällt hier die schwierige Aufgabe der Orchestrierung der Seheindrücke keinem Dirigenten zu, sondern die Vervollständigung und Einordnung der Bilder erfordert einen nachdenkenden Betrachter. Wer kein Voyeur sein will und zufrieden damit ist, die hochkonzentrierte Kunst eines ausdauernden Zeichners zu bewundern, muss sich fragen, wohin die jeweils monatelange Arbeit an Tausenden blutrünstiger Details mit spritzendem Blut und anderen Flüssigkeiten ohne einen einzigen unabsichtlichen Tuscheklecks führt?

Ralf Ziervogel, Immobilie, 2004, Ausschnitt, ca. 160×110 cm

Ziervogel hat die Stürzenden und Fallenden im Business-Dress, die Robert Longo in den 1980er bekannt gemacht haben, entkleidet. Er gibt sie nicht nur nackt wieder, sondern nimmt ihnen auch noch jeden lokalen oder territorialen Bezug, und sie haben Pfunde zugelegt. Historisch andere unerträgliche Zustände führten Günter Brus zu Aktionen und zeichnerischen Untersuchungen seiner Existenz, um die Auswirkungen der Gewalt zu bearbeitet, die in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in Österreich noch allgegenwärtig war. Dabei stellte er sich anfänglich meist selbst als Opfer ins Bild, so dass man den Hintergrund in Wien, im Berliner Exil und in Europa (die literarischen Bezüge der Text-Bilder) mitdenken konnte. Bei Ziervogel lässt der weiße Zeichengrund die Figuren bindungslos und ohne Kontext erscheinen und nimmt den Massakern ihren Schauplatz. Wenn überhaupt eine Verortung benennbar ist, dann wäre es der Abgrund – nur einmal ruft er – nicht ohne Humor – eine Schweizer Gegend auf, in der wohl die gelb gemalten Sackgesichter beheimatet sind. Sind also am Ende die meisten Männer, Frauen und Kinder seiner Bilder Märtyrer? Wofür oder wozu sie leiden bleibt unbestimmt.

Die Nichtigkeit der Individuen

Trotz all dieser nicht jugendfreien Gewalt und Sexualität könnten diese Riesenformate in eine Lobby hängen, wo sie sich sowieso kaum jemand aus der Nähe anschaute, insofern eine Nahsicht zum Erkunden der Details überhaupt noch naheliegend wäre. Diese Tatsache zeigt, wie klein und belanglos das Wüten jedes dieser Individuen tatsächlich ist. Aus der Ferne gleichen die Zeichnungen Wimmelbildern und den Bildern der niederländischen Künstler, die zur Vorgeschichte dieses Sujets gehören. Menschen und Gruppen von Menschen, in bis heute rätselhaften Zusammenstellungen schuf Hieronymus Bosch mit Bildern von Himmel und Hölle. Auch die Gemälde der Brueghels mit summarischen Darstellungen von Kinderspielen, Sprichwörtern sowie von Karnevals- und Fastenbräuchen etc. im Getümmel auf Dorfplätzen gehören in diese Kategorie. Triftige Zusammenstellungen von Szenen weisen auch spätmittelalterliche Höllendarstellungen auf, die bis in die Renaissance hinein Kirchen außen und innen schmückten. Hier sind außerdem massenhaft Nackte zu sehen, die Ziervogels Figuren überraschenderweise sogar mit dem christliche Totsündenschema in Verbindung bringen; denn sie töten, prassen, sind lüstern, überfressen, gierig, sex- und rachsüchtig und viel mehr. Doch die Hand des zeitgenössischen Künstlers sortiert die Menschen anders als die Gotteshand. Ziervogels Figuren sind alles andere als demütig. Sie tun gerade das Gegenteil, sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie kämpfen noch während sie in Fetzen durch die Luft fliegen.

Ralf Ziervogel, Tuschezeichnung und Sprühlack, Seitenansicht

Den Himmel auf Erden haben sie nicht gefunden, also machen sie sich und ihresgleichen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Hölle heiß. Die „Deterritorialisierung“ (Deleuze/Guattari) hat die Existenz der Abgebildeten an den Rand eines Zustands getrieben, der in den Religionen als Hölle beschrieben wurde. Selbst das Feuer hat auf den Blättern Spuren in Gestalt mit mattschwarz besprühten Flächen in Gestalt von Rauch- und Rußfahnen hinterlassen.

© Johannes Lothar Schröder

P.S.: Noch viel mehr lässt sich beobachten und auffinden, wenn man die zahlreichen Klein- und Großformate genau inspiziert. Auffallend sind die Blätter mit Fingerabdrücken und winzigen Zahlenkombinationen.

Ralf Ziervogel, Ech, 2016, Bodyprint und Zeichnung, Detail

Neueren Datums sind Body-Prints. Hier werden Finger, Arme, Penisse und andere Körperteile seriell als Objektdrucke gesetzt, bis sie sich zumindest soweit zu Ornamenten fügen, dass sie sich wieder öffnen können, um Verbindung mit der anschließenden Druckfolge aufzunehmen.

Die Ausstellung bis 27. Januar 2019, Wilstorfer Straße 71, 21073 Harburg
Weitere Infos und interessantes Begleitprogramm: www.deichtorhallen.de/ralfziervogel

Eine Drehpunktperson wird Siebzig

Boris Nieslony begegnete ich in Hamburg, wo Besuche in der BuchHandlungWelt sowie das Theater der Nationen 1979 mit einem Performance-Programm mein Interesse an der Performance Art geweckt hatten. Im Künstlerhaus in der Weidenallee trafen wir uns gelegentlich. An einem Winternachmittag schaute uns Dr. Coppi beim Schlürfen des heißen Bohnenkaffees, der mit Getreidekaffee gestreckt war, zu. Man sollte ihn fragen, ob er unsere Gespräche noch erinnert.

Bei einem unserer letzten Treffen in Hamburg vor Nieslonys Umzug nach Düsseldorf und dann nach Köln zeigte er mir einen Band von Pier Paolo Pasolini (Corpi e luogi, Rom 1981). Darin waren Filmstills systematisch nach Themen, Orten, Darstellern, Gesten, Mimik und anderen körpersprachlichen Gesichtspunkten geordnet. Die archaischen Schauplätze waren nach Pasolini, der das kulturelle Erbe durch zügellose Profitgier zerstört sah, für das Gedächtnis der Menschheit essentiell. Das Kino sah er als ein Mittel, die „in die Körper eingeschriebene Geschichte“ zu bezeugen. Man muss bedenken, dass in der Zeit keine Videos von Kinofilmen verfügbar waren, weshalb es schwierig war, die Eindrücke, die nach einem Kinobesuch blieben, zu belegen. Der Pasolini-Band muss Nieslony dazu bewegt haben, seine im Entstehen befindliche Bildersammlung von Körpern, seinen Gesten und Bewegungen zu organisieren. Teile dieser Sammlung, die er „Anthropognostisches Tafelgeschirr“ nennt, waren vom 27.2. bis 22.3.2015 im Künstlerforum Bonn zu sehen. Ein Text mit Fotos aus der Ausstellung von Boris Nieslony und Gerhard Dirmoser „Liegen-Sitzen-Stehen-Gehen-Springen-Fliegen/Fallen. Was Menschen tun-und wie“ ist in dem Band Formen der Wissensgenerierung. Practices in Performance Art (hg. von Manfred Blohm und Elke Mark, ATHENA-Verlag Oberhausen 2015, S. 95-108) erschienen. Sowie: http://thelyingonthefloorabandonedtolie.blogspot.co.at/

Boris Nieslony im Gespräch mit Marco Teubner am 3.7.2015 in Flensburg (Brise3) Foto: johnicon, VG Bild-Kunst

Boris Nieslony im Gespräch mit Marco Teubner am 3.7.2015 in Flensburg (Brise3)
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst

Dieses Archiv aus Tausenden von Ausrissen aus Illustrierten wurde von den besten Fotografen weltweit geliefert, und Nieslonys Sammlung antizipierte zudem die Möglichkeiten des Internets; denn er hatte bemerkt, dass Gesten und Körpersprache in der Fotografie massenhaft vorhanden waren. Das Archiv bildet zudem einen wesentlichen Teil des umfangreichen plastischen, installativen, performativen und zeichnerischen Werks von Nieslony. Letzteres bewirkte übrigens seine Entscheidung, Kunst zu studieren. Tote und Sterbende, denen er bei seiner Arbeit im Pflegeheim begegnete, hatten ihn veranlasst, sie zu portraitieren. Unzufrieden mit den Ergebnissen bewarb er sich mit dem Ziel, das Zeichnen zu lernen, an der Kunstakademie.

Die Zweifel an der Endgültigkeit eines Bildes haben ihn seitdem angetrieben und zum Anreger der Performance Art und zu einer wichtigen Drehpunktperson in Deutschland werden lassen, der Künstler aus aller Welt zusammenbrachte. Er war 1977 Mitbegründer des Künstlerhauses in der Weidenallee in Hamburg, von Black Market (1985-1997). Ab 1995 regte er eine Reihe von Performance-Konferenzen an, die später wie eine Staffel von verschiedenen Künstlern an unterschiedlichen Orten fortgesetzt worden sind. Mehr als 10 dieser Konferenzen waren parallel zur akademischen Institutionalisierung der Performance Art wichtige Treffpunkte und Möglichkeiten des Austauschs.

Mit diesen wenigen Fragmenten aus seinem Werk wünsche ich dir lieber Boris zum 70sten Geburtstag Gesundheit und Schaffenskraft sowie weitere erfolgreiche Veranstaltungen mit dem aktuellen Projekt PAErsche!   http://paersche.org/

PENCILS & MACHINEGUNS

Altars formed by pens, pencils and brushes laid out in memory of the dead of Charlie Hebdo and the other victims of the attacks of Jan. 7th were hardly ever seen in streets and squares, and the younger ones have never witnessed long lines in front of newspaper stands appearing Wednesday-morning in France. This is what neither the terrorist killers nor someone else might have expected to unleash: a blooming of the analogue media in the middle of its crisis. Also the millions of participants in manifestations for freedom of the press throughout the world may announce a renaissance of paper-based media. In fact the cartoon is as vital as the terrorists were convinced that it is. This made pencils and brushes to symbols of freedom in Paris of January 2015. Most remarkable a poster which used the quote of Arlo Guthry for a pencil: “This machine fights against war!”

power of drawing by johnicon

power of drawing I & II
by johnicon

Pencils and brushes in the age of terrorism

Pencils and brushes allow extracting a first sketch of an idea from the brain, which directs arm, hand and fingers to draw a line which finally may resemble things or characters which were immaterial in imagination. This is the reason why these tools make a person independent as no electricity or networks are required. Just a pencil is enough to materialize an idea, which make many people happy but may discomfort fundamentalists. You can buy a pencil but not the ability to use it. To properly draw requires education and training. However it is remarkable that even in times of You Tube, Twitter and Facebook a pen is an intellectual weapon, which terrorists and their commanders have noticed, since they started to reflect media. However the gunmen did not try to stop the printing of the paper or its circulation but shot down the drawers. They could kill some of them but the ability of drawing will last as it is a cultural practice which reaches back to the caves of Lascaux. It seems that the access to it must have been limited in prehistory. Restrictions in the showing of holy images last long until the achievements of enlightenment opened access to art and education to almost everybody and museums and schools have been founded. Centuries of pens and pencils began, and today all pencils, which are in use worldwide exceed the number of guns.