Gustav Metzger im TOWER MMK in Frankfurt am Main Von Johannes Lothar Schröder
Wenn von der Erinnerung an die ermordeten Eltern nur Rudimente bleiben und eine Zeichnung schemenhafte Schatten hervorbringt, was kann dann noch von Kunst verlangt werden?
Die mutmaßlich einzige frühe Erinnerung, die dem mit 13 Jahren im letzten Zug, der jüdische Kinder aus Deutschland nach England brachte, geretteten Jungen aus Nürnberg geblieben ist, hat Gustav Metzger 1950 in einer Zeichnung festgehalten. Es sind Skizzen, die nichts als Schatten sind, die traumgleiche Gesichter andeuten und zugleich wieder mit groben Strichen überzeichnen, können sich kaum noch den ermordeten Eltern annähern. Mit fünf Zeichnungen aus dem Nachlass des Waisen, der bei Stiefeltern in England aufgewachsen ist, beginnt der Rundgang durch die Ausstellung im TOWER MMK in Frankfurt am Main, die darüber hinaus noch spätere farbige figürliche Zeichnungen präsentiert, die das Talent des jungen Künstlers aufscheinen lassen, das sich der Last der Geschichte nicht entwinden konnte.
Die Zerstörung geht weiter
Metzger befasste sich mit der Zerstörung, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte. Er begründete das „Destruction in Art Symposium“ (DIAS) 1967 und behielt wissenschaftliche und technologische Entwicklungen im Blick. „Bewegungen gegen Krieg, Rüstung und Atomenergie, die Abwehr des technologischen Fortschritts und die Konfrontation mit neuen sozialen Problemen prägen die Kunst – ebenso Rückzug, Passivität und Anpassung.“[1] Das formulierte er 1981 im Konzept der Gegenausstellung zu „Westkunst“ in Köln, die nach seiner Erfahrung alle Komplikationen der Nachkriegsgeschichte ignorierte und die Brüchigkeit der internationalen Kunstentwicklung zu glätten versuchte.
Metzgers späteren Werke wie die Visualisierung von Flüssigkristallen und der Fleischkrise nach dem BSE-Skandal in Großbritannien, seine Warnungen von der Automobilität und Atomwirtschaft als Zerstörerinnen des urbanen Lebens, der Landschaft und der Ressourcen, sind als künstlerische Interventionen zu sehen und oft nur in Form von Modellen, Dokumenten und Relikten erhalten oder als Redoings wiederherstellbar.
„Kill the cars!“ riefen auf einem Autowrack herumspringenden Kinder in Camden 1996
Im Tower zu sehen sind die Rekonstruktion von „Tropfen auf einer heißen Platte“ von 1968 und von „Kill the Cars“ Camden Town, London 1996. Die Annoncen für Flüge zu Schleuderpreisen von Ryanair sind Ready-Mades aus Tageszeitungen. „Strampelnde Bäume“ strecken ihre Wurzeln vor dem Taunustower in die Luft, während ihre Kronen im Betonsockel und unter der Erde unsichtbar sind.
Bedeutend sind Metzgers Auseinandersetzungen mit Bildverboten und der Unmöglichkeit Zivilisationsbrüche adäquat abzubilden. Die Reihe „Historischer Fotografien“ mit geplotteten Fotografien der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, vom Anschluss (Österreichs), der Rampe in Auschwitz zeigen Versuche, diese Bilder zu bewältigen. Metzger hat dazu Verschläge, Verschalungen, Einschweißungen und Abdeckungen ersonnen, die diese Bilder entweder vollkommen unsichtbar machen oder ihren Anblick erschweren.
Sein Interesse für wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen brachten kinetische, sich selbst abbauende Skulpturen und „Liquid Cristal Environments“ (1965) hervor, die während Konzerten von The Cream und The Who verwendet wurden.
Zwei wegweisende Begleithefte zur Ausstellung
Was auf 80 Seiten des schmalen hochformatigen Begleithefts zur Ausstellung von Julia Eichler, Ann-Charlotte Günzel, Leon Jankowiak und Susanne Pfeffer formuliert und zusammengefasst wurde, sucht in seiner Kompaktheit und Sachlichkeit seinesgleichen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Raum für Raum werden die Werke und ihr Anlass dargestellt. In einem zweiten Teil ist eine aktualisierte Kurzbiografie Metzgers wiedergegeben. Das schließt wenige, aber bezeichnende Abbildungen von Werken mit ein. Der dritte Teil gibt die Paragrafen der antisemitischen Gesetzgebung wieder, die zwischen 1938 und 1942 die Rechte der jüdischen Bürger mit dem Ziel beschnitt, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen zu zerstören und dem Raub ihres Besitzes einen legalen Anschein zu geben. 1981 trug Metzger die im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Texte für die Ausstellung „Vor dem Abbruch“ in Bern zusammen.
Das zweite Heft zur Ausstellung ist von Marlene Seifert in einfache Sprache übersetzt und besonders empfehlenswert für alle, die wenig über Metzger und das Gebiet der Destruktions-Kunst wissen.
Die Ausstellung ist bis zum 5. Jan. 2025 im TOWER MMK in Frankfurt am Main, Taunusturm, Taunusstraße 1 zu sehen.
Dieter Rühmann zum 85. Geburtstag von Johannes Lothar Schröder
Umkehr des Denkens
Eine 50 Meter hohe aus über 5000 Blättern zusammen gesetzte Fotokopie eines Mannes hing kopfüber 1993 vor dem Turm der Ruine der Hamburger Nikolaikirche. Anlässlich des 50. Jahrestages des „Feuersturm“ genannten Bombenangriffs auf die Hansestadt hatte die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und eine Firma für Mobilkräne dem Hamburger Künstler Dieter Rühmann ermöglicht, die Installation „ECCE HOMO“ zu präsentieren. Zwei Telekräne hielten die tonnenschwere fast 60 Meter hohe Installation vom 29. – 31. Juli 1993 vor dem Turm aufgespannt.
Kopfüber
Rühmann hatte die Möglichkeiten einer Umkehr während des Durchgangs seines Menschen durch die Kopiermaschine beobachtet und festgestellt: „Doch dieser Mensch ist nicht gebrochen. Er ist unversehrt. Entgegen seiner aufrechten Gangart hängt er mit dem Kopf nach unten und symbolisiert die Umkehr unseres Denkens: Wir sind gewohnt, unsere Vorstellungskraft von unten nach oben, in abmessbaren Strecken, von einem Ziel zum nächsten zu entfalten. Unser vermeintlicher Fortschritt zwingt uns in einem immer schnelleren Tempo zur Abkehr von uns selbst und von unserer Erde.“ Rühmann sah die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Selbstverleugnung zu unterbrechen und schlussfolgerte: „ECCE HOMO weist zurück auf die Erde“[1], und diese Umkehr ist nicht unbeeinflusst von der Notwendigkeit der Veränderungen, die der Club of Rome in seiner Erklärung über die Grenzen des Wachstums bereits 1972 anmahnte. Die Reaktion des Künstlers darauf war nicht nur ökologisch motiviert, sondern umfasste medienkritische und ikonografische Ansätze.[2]
Was uns immer noch beschäftigt – vor 30 Jahren
Angesichts der verschärften Klimakrise sehen wir heute die verwüsteten Stellen eines Planeten, den wir nach Gutdünken geplündert haben, als würde es sich um einen Behälter handeln, der beliebig oft nachgefüllt werden könnte. Zurückblickend gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass die Einsichten und Mahnungen seitens der Wissenschaft nicht stark genug gewirkt haben, um eine Umkehr des Handelns herbeizuführen. Das liegt offensichtlich daran, dass man Wachstum als eine natürliche Gegebenheit hingenommen hat, weil man es etwa von biologischer Vermehrung ableitete und die Frage der Ernährung als eine technische Angelegenheit zur Sättigung von mehreren Milliarden Menschen mit der Möglichkeit, hohe Profite zu erwirtschaften, gesehen hat. Dabei hat man die Vergrößerung der Fläche ignoriert, die ein im Wohlstand lebendes Individuum heute für sich beansprucht. Die Bedürfnisse von Individuen verschlingen immer mehr Räume und Ressourcen für industrielle Produkte, Schränke voller Kleidung, Regale und Lagerflächen mit Ausrüstung, Geräten und Maschinen etc. Immer mehr Menschen halten gemeinschaftlich benutzbare Dinge zum individuellen Gebrauch vor. Dazu kommen voll ausgestattete Zweit- oder Ferienwohnungen an verschiedenen Orten, Arbeitsräume und Büros, die nur 8 bis 10 Stunden am Tag benutzt werden. Hierbei sind Fahr- und Flugzeuge, sowie die Infrastruktur der unterschiedlichen Verkehrssysteme noch gar nicht berücksichtigt. Auch Produktionsanlagen, Hallen und Minen, die Rohstoffe und Energie zutage befördern, ihre Verarbeitung und Verteilung gewährleisten, benötigen immer größere Flächen. Sie verschlingen Stadt- und Landschaftsraum sowie Energie und zuvor landwirtschaftlich genutzte Flächen.
Wie ein Hamburger Künstler vor 26 Jahren auf die Katastrophe reagiert hat
Die von Reichtum und Gewinnmaximierung getriebene Lebensweise ist so raumgreifend geworden, dass für die Produktion von Feldfrüchten, Naturprodukten und Tieren immer weniger Platz bleibt, der außerdem oft noch mit Abfällen, Müll und Fäkalien verschmutzt wird. Natürlicher und naturnaher Lebensraum wird immer seltener; denn um den Rohstoffbedarf zu stillen werden Urwälder und Wälder weiterhin gerodet und Moore trockengelegt. Gleichzeitig greifen Wüsten und Steppen auf ehemaliges Weide- und Ackerland über. Vor diesem Hintergrund von einem „ökologischen Fußabdruck“ zu sprechen, verniedlicht das Problem. Wenn Hühner auf einem zu engen Raum gehalten werden, fressen sie in kürzester Zeit eine blühende Wiese ab und hinterlassen eine platt getretene und mit Fäkalien verschmutzte Fläche, weshalb eine Nahrungszufuhr von außen erforderlich wird. Wenn man Verkehr und Transportleistungen sowie die Kriege zur Durchsetzung der Bewegungsfreiheit mit den damit verbundenen Handelsinteressen dem Flächenverbrauch hinzuzählt, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung durch Zivilisation überschaubar. Auch akustisch ist dieses fast überall als Lärm und Gepolter zu vernehmen, die selbst in der Nacht nicht mehr nachlassen. Man muss sich einmal die durch das Gewicht der Verkehrsmittel und die durch die Wucht der Beschleunigung entfaltete Gewalt vorstellen, um zu erkennen, dass Menschen die Welt messbar erschüttern.[3] Am Ende lässt sich erkennen, dass die menschlichen Aktivitäten permanente Beben auslösen. Die menschengemachte Dynamik auf der Erdoberfläche kommt einem gewaltsamen Hineinrammen vieler Tonnen nahe. Mit einem solchen Bild vor Augen erscheint die im Folgenden beschriebene Aktion von Rühmann nicht trivial. Sie sollte in die Erde gehen, um dort tatsächlich seismische Erschütterungen hervorzurufen.
TOPOS
Mit TOPOS plante Rühmann 1998, eine fünf Tonnen schwere Pyramide aus Stahl und Beton von einem Hubschrauber auf ein freies Feld in Stuttgart-Stammheim abzuwerfen. Für den Künstler war TOPOS „Keine Bombe, kein Flugapparat. Ein grundloses Objekt. Etwas, das vom Himmel fällt, sich einrammt in den Boden, unverrückbar.“[4] Damit wollte Rühmann ein Zeichen der Umkehr setzen, das nicht zufällig an den Monolithen aus ‚2001: Odyssee im Weltraum‘ erinnert, dessen Erscheinen allerdings rätselhaft bleibt. Das schwarze quaderförmige Objekt aus Stanley Kubricks Film aus dem Jahr 1968 tauchte jeweils dann auf, wenn sich die Verfasstheit des Menschen durch Erweiterung seiner anatomischen und geistigen Möglichkeiten veränderte. Einmal gelang es einem Menschenaffen, seinesgleichen mit einem Oberschenkelknochen zu erschlagen und ein anderes Mal sandten zukünftige Menschen Weltraumfahrzeuge für Expeditionen zu anderen Planeten. Diese auch von Rühmann mit ‚djun-leb‘ 1985 angerissenen Science-Fiction-Themen geben einen Begriff davon, dass auch Kunst mit der überbordenden Produktion, dem weltweiten Handel und Ausstellungsbetrieb eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung geworden ist. Als sich Rühmann 1985 mit dem Thema Stoffwechsel aus der Sicht der Weltraumfahrt auseinandergesetzt hatte, war klar geworden, dass auch jeder Astronaut wie der Künstler als ‚Artonaut‘ irgendwann auf den Erdboden zurückkehren muss, wobei der menschliche Stoffwechsel gegenüber dem Transport von Besatzungen und ihren Ausrüstungen als das weitaus größere Problem hervortritt.
Die Massen, die auf der Erde von Menschen bewegt werden
Mit TOPOS, dem Konzept für ein tonnenschweres Geschoss, verlieh Rühmann der Beschleunigung von Masse eine skulpturale Quantität und aktionistische Qualität. Allein der Umstand, dass das Objekt und die Aktion außerhalb des Kunstkontextes den meisten Betrachter*innen absurd erschien, macht auch deutlich, wie stark die Entschlüsselung von plastischen Arbeiten verkümmert ist. Die Kraft der Metapher für die verdrängten Umweltprobleme konnte damals nicht durchdringen. Dennoch näherte sich Rühmann dem Unbekannten in bisher ungekannter Schärfe und plante eine Intervention, die einem Terrorakt glich, was der Schauplatz, ein Feld in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem führende Mitglieder der RAF einsaßen, unterstrich. Die aus 1000 Metern Höhe fallende Pyramide sollte der unglaublichen Gewalt von Masse und ihrer Beschleunigung eine künstlerische Gestalt geben. So konnte sie ein punktuell freigesetztes Äquivalent der Energie sein, die wir Menschen mit den von uns gemachten Dingen Tag für Tag freisetzen. Dazu schrieb Rühmann in der Dokumentation seiner Arbeiten: „Die Terror-Anschläge brachen mit einer ihnen eigenen, unerbittlichen Gesetzlichkeit wie ein Naturereignis in das friedliche Leben der Bundesbürger ein. Die Anschläge kamen unerwartet und waren für die meisten Bundesbürger völlig unverständlich.“[5]
Kunst wie ein Terrorakt
Im Licht dieser Äußerung scheint die ungewöhnliche Aktion als eine Parallele zu den terroristischen Anschlägen, die der Belastung der Welt durch menschliches Wirken ein Mahnmal setzt. Diese Aktion gab zugleich dem Zweifel daran eine Gestalt, ob die Richtung unseres Denkens „nach außen oder nach oben“ richtig sei. Rühmann hoffte durch das Objekt, „eine Pyramide, die auf uns zurast“, eine alternative Richtung von oben nach unten, also von oben auf uns zu kommend, nicht nur anschaulich, sondern auch physisch spürbar zu machen. Das Ereignis, das sich „gegen unsere Denkrichtung kehrt und so rational nicht zu begreifen ist“, könnte seiner Meinung nach ein Anlass sein, über eine Umkehr nachzudenken.[6] Rühmann leitet bis heute die Vorstellung, dass ein Kunstwerk einen Schrecken über das menschliche Handeln auslösen könnte, um das Bewusstsein über die Folgen unseres Handelns zu wecken; denn offensichtlich fällt es uns als Menschen schwer, die Gewalt zu begreifen, die von unserer Lebensweise ausgeht.
Mit der Corona-Krise 2020 wurde die Menschheit von einem Ereignis getroffen, das alle erfasst hatte und nur gemeinsam überwunden werden konnte. Es führte die letztendliche Machtlosigkeit des im rasenden Fortschritt nach immer neuen Rekorden gerichteten Denkens vor Augen. Die Reaktionen zur Bewältigung lassen, grob gesehen, zwei Richtungen erkennen. Unter den Politikern fallen diejenigen auf, die in der Lage sind, über die Grenzen ihrer eigenen Interessen und ihre Machtposition hinauszublicken, um das Nötige zu tun. Andere ignorierten das wechselvolle Geschehen der Pandemie und überlassen die Bevölkerung der von ihnen regierten Staaten sich selbst. Als wäre das nicht schon genug des Übels, Maßnahmen zu unterlassen, wiegeln sie auch noch Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Dabei suchen sie Schuld für die Desaster jeweils bei ihren politischen Gegnern oder wirtschaftlichen Rivalen.[7] Auf der anderen Seite gibt es Staatslenker*innen, die umsichtig und fürsorglich handeln und Voraussetzungen schaffen, um Menschenleben in ihrem Einflussbereich zu schützen, Kapazitäten mit Nachbarn teilen und Menschen, die in ihrer Existenz bedroht sind, so gut es geht, zu unterstützen.[8]
Die Lage ist kompliziert und neue Entwicklungen und Ereignisse fordern weitere Entscheidungen heraus. Schwieriger aber als Krisenmanagement wird es sein, die Basis für ein Umsteuern zu legen, damit nachhaltige Lösungen möglich sind. Letztlich wird jeder Einzelne aufgefordert sein, zu handeln und in seinem Umkreis und Verantwortungsbereich mitzuwirken. Künstlerische Arbeiten können als Elemente eines Frühwarnsystems betrachtet werden. Auch wenn offen bleibt, ob sie tatsächlich zu einer konkreten Umkehr ermutigen, ist dieses Werk erneut zur Diskussion zu stellen, zumal TOPOS damals schon nicht realisiert werden konnte, weil dieser Arbeit die Vergabe von Mitteln und die Genehmigungen verweigert wurde.
Die Homepage http://www.buechse-der-pandora.de/ zeigt weitere Pläne des Hamburger Künstlers, die belegen, dass Rühmann nicht aufgegeben hat, die herrschenden Hierarchien auf den Kopf zu stellen.
Der Text basiert auf einer historischen Darstellung und Erörterung wichtiger Werke Rühmanns im Buch „abhängen“ des Autors (s.u.).
[1] Rühmann, Dieter: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993. Hamburg 1993, o.S.
[2] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese Installation, die im Buch des Autors wie auch das Werk Rühmanns dargestellt wird. (Schröder, 2022) Im Folgenden werden die Seiten 133-137 in einem anderen Layout wiedergegeben. Abweichungen vom zitierten Text sind redaktionell bedingt.
[3] Seismologen stellten während des durch die Corona-Pandemie durchgeführten Lockdowns eine deutliche Verminderung der menschengemachten Erschütterungen fest. https://science.sciencemag.org/content/early/2020/07/22/science.abd2438 (07.09.2020) 132
[7] In den USA unter ihrem Präsidenten Trump waren es Liberale, die als Umstürzler diskreditiert wurden, und China, das für die Schwächen der amerikanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht und als Ursache des Coronavirus hingestellt wurde. Die Unterlassung von Maßnahmen führte den vermeidbaren vorzeitigen Tod von 300.000 Menschen (Stand Mitte Oktober 2020) herbei.
[8] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zeilen ließ sich nicht abschätzen, wie sich die Situation weiterentwickeln würde. Deshalb kann die tatsächliche Auswirkung der Coronakrise auf die mögliche ökologische Umgestaltung der Wirtschaft erst in der Zukunft beurteilt werden. In Bezug auf die hier angesprochene künstlerische Leistung lässt sich jedenfalls eine an die Schwierigkeiten des antizipierenden ökologischen Umdenkens greifende Verkörperung erkennen.
Literatur:
Rühmann, Dieter: … macht die Kunst kaptt – es lebe die Kunst …, Järnecke, Issendorf 1984.
Pressespiegel: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993“. – Hamburg 1993.
Schröder, Johannes Lothar: abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen. Dieter Rühmann, Annegret Soltau, Boris Nieslony, ConferencePoint Verlag, Hamburg 2022
„Es ist Ewigkeiten her.“, heißt es, wenn einem seit dem letzten Besuch etwas fremd geworden aber nicht klar ist, was sich tatsächlich verändert hat.
Die vier Jahrzehnte, die vergangen waren, seit er zuletzt die ABC-Straße hinunter zum Gänsemark gelaufen ist, musste er ausrechnen. Als Schüler hatte er in einem seiner ersten Romane über diese Hamburger Gegend gelesen und sich am Leben und an den Sprüchen der Außenseiter ergötzt, die in der Palette verkehrten. Wie viele Stufen waren es noch, die hinunter in das Souterrain mit den drei Gasträumen führten? Er hätte gerne noch mal nachgezählt. Und wo stand der Kachelofen? Es war unmöglich, jetzt das Haus finden. Hier hatten sie neue Kulissen aufgestellt. Eine einfallslose Hotelfassade und andere mehrfach übermalte Versatzstücke gaben das Bühnenbild für das Theaterstück über liberales Wirtschaften. Nichts mehr hatte die Bedeutung von einst. Die alten Orte der Nacht waren in Staub aufgegangen, der über Bauschutt hinunterrieselte. Bagger und Abrissbirnen brauchten Tage und Woche, um zu leisten, was nebenan die Bomben über Nacht angerichtet hatten. Dazu die Räumungsklagen, die Schweinereien mit mutwillig zerstörten Abwasserleitungen und Dächern, bis die Abbruchgenehmigungen erteilt wurden.
Müllexplosion
Jetzt stand er vor der verglasten Fassade im Torweg eines neuen Bürogebäudes, hinter der Tausende von Objekten an dünnen Fäden im Raum schwebten, als wären sie in einer Explosionswelle erstarrt. Michelangelo Antonionis Zeitlupenaufnahmen aus Zabriski Point traten vor sein inneres Auge. Die explosiv zerlegte Villa inmitten der Natur verkörperte damals den Bruch mit der Moderne. Eine Druckwelle hat die Inhalte der Schränke und Regale von ihren Plätzen gefegt und die Zeitlupe hatte sie in einen schwebenden Zustand versetzt, der ihnen eine verwischte aber Kinomomente lange Dauer verlieh.
Die Installation von Antje Bromma ist den über 50 Jahre alten Filmbildern allein schon durch ihre physische Präsenz an Schärfe, Klarheit, Räumlichkeit und Prägnanz überlegen. Es hatte den Anschein, als seien kleine und große, leichte und schwere, monochrome und farbige Objekte auf ihren Flugbahnen angehalten worden. Doch entbehren sie einer Erzählung, der dem Film seinen roten Faden gab. Hier und jetzt verbindet ein solcher Faden tatsächlich alle Fundstücke aus der Sammlung der Künstlerin. Nach Zabriskie Point muss man nicht mehr denken, dass hinweggedrückte und zerschellte Dinge zu trivial und zu allgemein sind, um ihnen eine Geschichte zuzusprechen. Auch wenn sie jetzt vereinzelt oder als Konglomerate über den Besucher*innen der Ausstellung schweben, kommt mindestens die Frage nach ihrer Herkunft auf. Darüber hinaus fallen ästhetische Merkmale auf; denn jeder Gegenstand hat eine eigene Farbe, Größe, Form, Stofflichkeit und Materialität. Die Anordnung und das Erkennen möglicher Funktionen sowie imaginäre Ergänzungen der Teile zu einem Ganzen bringt Kristallisationskerne hervor, an die sich Gedanken heften und von denen aus Geschichten ranken können.
Der künstlerische Eingriff bringt Kriterien ins Spiel, die anzeigen, dass es um mehr als nur um Dinge geht, die verworfen wurden. Dass Archäologen anhand ausgegrabener Scherben plausible Mutmaßungen über längst vergangens Leben treffen können, ist bekannt. Doch haben die Überlegungen von Julia Kristeva uns den Begriff „abject“ geschenkt. Sie hat ihn analog zu den grammatischen Begriffen wie Subjekt und Objekt gestellt und damit zu Bedenken gegeben, das es Dinge gibt, die noch keinen gültigen Platz im Satzbau haben. Mit Abjekt wird das Verworfene, also das Unsägliche und damit aus der Kultur entfernte, bezeichnet, womit auch die gestörte Zugehörigkeit zum Text angezeigt wird.
Verworfenes einbezogen
Es sieht so aus, als würden Brommas Installationen Anschauung über dieses Feld liefern; denn mit dem Aufheben des Weggeworfenen unternimmt die Künstlerin den Versuch, die außerhalb der Kultur gelandeten Objekte wieder in den kulturellen Gebrauch einzubinden. Die Künstlerin befördert das Verworfene in den Erfahrungsraum, der den Diskurs über Grammatologie für Nicht-Philosoph*innen ergänzt. Einen Zugang könnten Anekdoten des Findens bahnen und die Erinnerungen an die Fundorte könnten Geschichten iniziiren. Gelangen dann die gesammelten Gegenstände nach einer Zwischenlagerung im Künstleratelier in einen Ausstellungsraum beginnt mit dem Aufbau der Installation eine neue Phase von Präsenz und Bedeutung. Die Objekte bekommen durch die handelnde Künstlerin (Subjekt) einen Platz im Raum und in der Zeit zugewiesen. Ihre Exposition und ihre Nachbarschaft innerhalb der Installationen löst neue Zusammenhänge aus und begleitet von der Neugierde des Publikums wachsen möglicherweise erste Sätze einer neuen Erzählung.
Selbst wenn zunächst noch Kriterien, Diskurse und Begriffe fehlen und es schwerfällt, über die Gegenstände und die Installationen zu reden, hat die Künstlerin als Fachfrau des Ästetischen einen Anfang gemacht. Ihre Kompetenz hilft dem Publikum auf die Sprünge. Vielleicht wird dadurch die Entscheidung befördert, etwas bewußt anzuschauen, wenn nicht wiederzuverwenden, statt es achtlos wegzuwerfen. Nachdem die Teile durch Installationen und Worte in einen räumlichen und zeitlichen Kontext gebracht wurden und zum Bestandteil des Bewußtseins geworden sind, kann aus einem Stück Abfall eine Ressource werden, ehe es die Flüsse hinunter ins Meer gespült wird und sich mit anderen unter die Räder geratenen überschüssigen Gegenständen zu einer schwimmenden Insel in den Ozeanen vereint, um dort ein dubioses Biotop zu begründen.
Mitlerweile glauben nur noch Idioten, den Verbleib der immer größer werdenen Abfallmengen und der darin enthaltenen problematischen Stoffe im Griff zu haben. Seit Jahrzehnten wächst der Druck auf die Mächtigen, zu erkennen, dass es nicht mehr reicht, die Stoffe zu sammeln, um sie „thermisch zu verwerten“ oder zu deponieren. Das war möglich, weil sie aus dem Blickfeld genommen und der Sprache entzogen wurden. Daran konnte die Praxis anschließen, die als Wertstoffe gesammelten Dinge durch Export zu entfernen. Durch Pseudo-Recycling überließ man sie mit Profit dem Zufall und schadete dem organischen Leben nach ihrer Produktion noch ein zweites Mal.
Produkte aus Abfall zu gewinnen und sie in anderer Form weiter zu nutzen, erfordert Wertschätzung, die Künstler*innen und Handwerker*innen ihnen teilweise schon früher verleihen konnten. Diese setzt aber eine ästhetische Beurteilung voraus, die schon seit Jahrzehnten dazu führt, Abfällen in die Herstellung und Reparatur von Objekten einzubeziehen, bis diese Praxis endlich auch Eingang in die Diskurse fand.
Literatur:
Einen Anfang machte Michael Thompson mitRubbish Theorie. The creation and destruction of value. Oxford Univ. Press 1979, dt.: Die Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981. Den Autoren der Themenhefte Theorie des Abfalls und Müllkunst, Kunstforum, Bd. 167 (2003) und Bd. 168 (2004) zufolge, nehmen die mit Abfall produziierenden Künstler die Überforderung des Einzelnen durch den Abfall aus der zunehmenden Überproduktion im auf Wachstum ausgerichteten Kapitalismus zum Anlass, immer größere Mengen von Müll in ihrer Kunst zu verarbeiten. (Kathrin Luz, Strategien gegen die Überproduktion, Bd. 167, S. 118-135. Sie geht u.a. auf Nancy Rubins, Jonathan Meese und Rirkrit Tiravanija ein.) Als Spezialformen von Überproduktion und Vernichtung sind zudem noch Krieg, Terror und Genozid zu nennen, die sowohl als Wert vernichtender wie auch als Wert schaffende menschliche Tätigkeit wirken.
Zu „abject“ Julia Kristeva, Pouvoir de l’horreur. Paris 1980, engl.: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982
Netze und Inseln
Das Besondere bei Bromma ist die Verteilung der Gegenstände im Raum, wobei auch ihr Gewicht, ihre Beschaffenheit und die Vielfalt der Materialien eine Rolle spielen. Speziell ist auch die Verwendung einer dünnen roten Kunststofffaser, die die Künstlerin aus einem achtfaserigen Faden zieht, den sie 1998 bei einem Studienaufenthalt in Island erwarb. Diese Faseranekdote führt zu zwei Themen: dem Netz und dem Inselhaften.
Alle Fundstücke werden in die Faser eingeknotet und so locker im Raum verteilt. Wenn die Installation später abgebaut wird, entstehen Verklumpungen, die wie Inseln in die jeweils folgende Vernetzung mit neuen Objekten eingebunden werden. Innerhalb solcher Inseln verschmelzen Objekte zu Konglomeraten, die es erschweren, Einzelheiten und individuelle Besonderheiten zu unterscheiden. Diese Unübersichtlichkeit kann als eine Metapher für Menschenmassen und die von ihnen produzierten, konsumierten und benutzen Dinge gesehen werden, die die Megacities der Welt kennzeichnen, wo Anhäufungen und Verdichtungen individuelle Besonderheiten relativieren und es Außenstehenden erschwert wird, diese zu unterscheiden.
Was von Weitem aber wie eine amorphe Verklumpung aussieht, zeigt sich aus der Nahsicht als Gespinnst von Gegenständen und ihrer kulturellen Verbundenheit mit den Menschen, was Kombinationsmöglichkeiten nahelegt und die Koexistenz zum Prinzip erhebt.