Geleakte Fotos und der Käfig aus Abu Ghraib

Vor 20 Jahren in Abu Ghraib und heute Halloween

Am 28. April 2004 erregten die aus dem Gefängnis von Abu Ghraib geschmuggelten Fotos, die Gefangene in erniedrigenden Posen zeigten, international Aufsehen. Sie verbreiteten sich schnell und galten als Beleg für Folter in US-Militärgefängnissen. In einem politisch geprägten und von Empörung geleiteten Kontext blieb die Frage nach den ästhetischen und bildlichen Qualitäten dieser Fotos offen. Redaktionen setzten die Bilder vielmehr auflagesteigernd ein, was sich, nicht zuletzt wegen der zunächst noch wenig bekannten Umstände, unter denen die Fotos entstehen konnten, als zweifelhaft erwies. Ihres Kontexts beraubt, blieb unberücksichtigt, dass die Gefangenen offensichtlich einer Regie unterworfen worden waren. Jemand hatte sie gezwungen, Formationen zu bilden oder Posen einzunehmen. Fotos zeigen eine junge Frau, die einen Gefangenen an einer Leine hält. Die in verschmutzter Kleidung oder nackt und im schlechten Licht auf fleckigem Estrich liegenden Männer offenbaren ein Elend, das durch die Inszenierung gesteigert wird und befremdlich wirkt. Diese Fotos beinhalten ein Potential für Geschichten, die nach und nach ans Licht kamen und Fragen nach den Grenzen des Dokumentarischen aufwerfen. Zugespitzt ließe sich sogar spekulieren, ob es mit Dokumentarfotografien gelungen wäre, so viel Aufmerksamkeit zu erzielen.[1] Besonders wirksam erwies sich die Immaterialität der Fotos. Sie sind digital und boten daher in einer Zeit, als die Sozialen Medien am Anfang ihres bis dahin noch nicht absehbaren Siegeszug standen, die Möglichkeit, sehr schnell in Umlauf gebracht zu werden.

Wenige Jahre später griff die US-amerikanische Populärkultur Szenen aus den Fotos auf und bot Halloweenkostüme an, die auch Kindern und Jugendlichen ermöglichten, in die Rolle von Folteropfern und Folterern aus Abu Ghraib zu schlüpfen, um bei ihren Nachbarn Süßes zu sammeln.

Ein besonders krasses Beispiel zeigt das Foto von J. Hobin. http://copyranter.blogspot.com/2011/10/its-little-early-but-how-bout.html

In einer Halloween-Kulisse stellen Kinder Szenen aus Abu Ghraib nach, die der Fotograf benutzt, um sein Foto mit dem Spruch: “It´s a little early, but how bout a disturbing Halloween photo?” anzupreisen.

Die Abbildung aus dem Archiv des Autors einhält eine Auswahl der Fotos aus Abu Ghraib, die in die in der Originallegende bezeichneten Illustration von Norman Rockwell montiert worden sind.

Auf den beiden Bildern, die einige Jahre nach den Ereignissen in Abu Ghraib entstanden sind, trifft das von der Außenwelt abgeschirmte Geschehen auf US-amerikanische Kinder. Die im Internet kursierenden Bilder erzwingen bis heute eine öffentliche Auseinandersetzung mit Gewalt und zeigen nicht zum ersten Mal, dass die von politischen Akteuren losgetretenen Ereignisse Folgen an jedem Punkt der Erde haben. Im Kinderzimmer werden ursprüngliche Fotodokumente notgedrungen zu einem Spiel. Der in ihnen innewohnende Horror wird im Geiste von Halloween zu einem Phantasieprodukt, das ein alle Vorstellungen übersteigendes Geschehens handhabbar zu machen versucht. Dazu wird die schwer nachvollziehbare Wirklichkeit in Kostüme und andere Artefakte gefasst.[2]

An der Entstehung der zu ikonischen Bildern gewordenen Fotografien aus einem Trakt des Militärgefängnisses aus Abu Ghraib, der vom Militärgeheimdienst kontrolliert wurde, sind drei Gruppen von Akteuren beteiligt. Die Gefangenen, die der Willkür ausgesetzt sind, die Verhörspezialisten, die ihren Methoden folgen, um die von ihnen vermutete Wahrheit herauszufinden und die Militärpolizisten um Feldwebel Graner, die von den Agenten die Erlaubnis haben, ihre Spiele mit den Gefangenen zu treiben. Im Gegensatz zu den Folterern, die nicht einmal die direkten Vorgesetzten der Gruppe um Graner sind, haben letztere keinen Plan, sondern lassen in der Regellosigkeit ihrer Fantasie freien Lauf und bringen diese fraglos verwerflichen aber doch eindringlich wirkenden Schnappschüsse hervor, die bekanntermaßen weltweit Empörung hervorgerufen haben.

Daneben gibt es ein anderes Artefakt, das weniger populär geworden ist, aber eine für die Bearbeitung des Erschütternden produktive Perspektive innerhalb der Folterdebatte öffnet.

Abu Ghraib in Paderborn?

Am Morgen des 30. Oktober 2004 fanden Passanten auf dem Platz vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg in Paderborn einen mit Bandstahl vergitterten hölzernen Käfig vor. Er entsprach 1 zu 1 einer Isolierzelle, die U.S.-Truppen im Foltergefängnis von Abu-Ghraib benutzten. Am Jesuitenkolleg, dem heutigen Gymnasium Theodorianum befand sich vor 400 Jahren die Theologische Fakultät, an der Friedrich von Spee von 1629 bis 1631 als Professor für Moraltheologie unterrichtet hatte.[3] Seine 1631 und 1632 erschienene Schrift Cautio Criminalis leistete einen wichtigen Beitrag für die Bemühungen, Folter und Unterdrückung zu ächten.

Wilfried Hagebölling, Abu Ghureib 2003/2004  /  Friedrich von Spee 1631/1632, Nachbau einer Isolierzelle der US-Armee aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib, 300x130x240 cm, Installation vor dem Gymnasium Theodorianum, Paderborn, 2004, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn 2024

Von Spee stand den in Hexenprozessen zum Tode Verurteilten auf ihrem Weg zur Hinrichtung bei, weshalb er wusste, dass diese Opfer der Inquisition unschuldig waren. Da sie ihren Peinigern chancenlos ausgeliefert waren, konnte jede ihrer Aussagen gegen sie gewendet werden. Um zu klären, warum der in Paderborn lebende Bildhauer Wilfried Hagebölling für seine Intervention eine Isolierzelle instrumentalisiert hat, wird vorgeschlagen, den Käfig als rhetorisches Mittel zu sehen. Seine Verwendung und die künstlerische Objektivierung von Isolation zeigen zudem, dass dieses Gehäuse nicht nur mediale Zusammenhänge berührt, sondern auch moralische, politische und rhetorische Fragen aufwirft.

Von der Imitation zur Metapher

Als Intervention öffentlich aufgestellt, erweist sich der Käfig als mehr als eine bloße Nachbildung, denn das Objekt konnte nicht nur in Paderborn aufgestellt, sondern in Umlauf gebracht werden, um an jedem beliebigen Ort zu erscheinen. Deshalb ist der Käfig als materialisierte Übertragung der rhetorischen Figur der Metapher zu verstehen, wie sie schon antike Redner anwandten, um ihrem Publikum etwas Unbekanntes, Fernes oder noch nicht Verstandenes begreiflich zu machen. Das dreidimensionale Objekt tritt so mit der Erfahrung der Passanten in eine Beziehung und bringt ihnen das kontroverse Thema Einkerkerung und Folter nahe.

Heute haben wir uns daran gewöhnt, für jede Gelegenheit Abbildungen zur Hand zu haben oder auf solche verweisen zu können, obwohl wir allgemein weniger bemüht sind, Bilder sprachlich herzustellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass in der Renaissance Gedanken zunächst in einer bildhaften Sprache vorhanden waren, ehe daraus Bilder entwickelt wurden. Die Maler hatten von den Dichtern gelernt, rhetorische Figuren zu visualisieren, um Menschen beispielsweise durch unterschiedliche Mimik und Gestik zu unterscheiden. Diese Mannigfaltigkeit wurde wie andere Kunstgriffe (Verschiedenartigkeit, Räumlichkeit, Perspektive, Relief etc.) von bildenden Künstlern übernommen und von Kunsttheoretikern ausgeführt,[4] um bildliche Äquivalente zu vervollkommnen. Sinnbildliche Verkörperungen wie sie sich aus den Metaphern zu Allegorien entwickelten, ermöglichten es schließlich, ausdrucksstarke und bisweilen drastische Bilder oder Objekte zu erfinden, mit denen sich bis heute Redner wie Künstler Aufmerksamkeit verschaffen. In dieser kulturhistorischen Entwicklung wurzeln Handwerkszeug und Berufsethos von Menschen, die politisch Einfluss nehmen. Bei Hagebölling fallen die Worte auf dem Boden des Käfigs erst nach einer Annäherung auf. Dort wurden sie als Schablonendruck gesetzt: ISOLIERZELLE WIE SIE US-TRUPPEN FÜR ABU-GHURAIB-HÄFTLINGE IN BAGDAD BENUTZEN [5]

Diese Angaben lösen bei gleichzeitiger Gegenwart des Käfigs einen Denkvorgang aus, der die bedrückende Enge und Rechtlosigkeit der Insassen konkretisiert und ihre gleichzeitige Ausgesetztheit im Freien sinnfällig werden lässt.

Wilfried Hagebölling, Isolierzelle s.o., (Detail), Foto: johnicon, 2004, VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Aktuelle politische Ereignisse verlängerten die Botschaft des Käfigs über den Anlass seiner Aufstellung hinaus. So wurde im November 2004 angesichts des Irakkriegs, des US-amerikanischen Präsidentenwahlkampfs 2004 und 2008[6] und der Zustände in außerterritorialen Gefangenenlagern die Berechtigung von Folter diskutiert. In Deutschland begleitete eine ähnliche Kontroverse auch den Prozess gegen den ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt, der einem Entführer durch eine ‚peinliche Befragung‘ das Versteck seines Opfers entlocken wollte.[7] An dem an sich stummen, aber als Metapher beredt gemachten Käfig liefen die Fäden der internationalen Politik lokal zusammen. Nicht zuletzt fiel im Monat des Gedenkens an die Toten, an den Beginn der Nazipogrome und den Mauerfall am 9. November auch ein Licht auf das Verhältnis des Themas zu unserer eigenen jüngeren Geschichte.[8]

Als Beispiel für die Vorführung von Angeklagten im Käfig wird hier ein Foto verwendet, dass Alexej Navalny, den Gegner Putins, vor Gericht zeigt.

Abb.: Mozilla Lesevorschläge 21.10. 2024. Der Käfig aus an den Kreuzungspunkten geschweißtem Baustahl suggerierte schon die nächste Stufe eines möglichen Angriffs auf das Leben des Oppositionellen: Die Einbetonierung des Gefangenen nach Art der Mafia. Die implizierte Todesdrohung soll außerdem abschrecken.

Fotos heizten den Skandal an.

Rückblickend wird deutlich, dass nicht der Käfig die Diskussionen um die Folter veränderte, sondern die geleakten Fotos aus Abu Ghraib eine unerwartete politische Wirkung entfalteten. Sie brannten sich in das kollektive Gedächtnis ein und veränderten infolge zahlreicher Prozesse, die durch das Bekanntwerden der Bilder forciert wurden, die Haltung einer Mehrheit der US-Amerikaner gegenüber der Folter, die letztlich die Regierung unter Druck setzte.[9]

Ein wichtiger Aspekt der Fotografien und ihrer Inszenierung blieb jedoch unbeachtet. Dieser erschließt sich aus der Funktion der Gruppe um den Feldwebel Charles Graner. Es handelte sich um Militärpolizisten, die im Dienst Gefangene registrierten,[10] und sich in ihrer Freizeit in den Gängen des Trakts herumtrieben, aus dem sich eine Folterabteilung Gefangene für ihre Verhörte holte. Entgegen der Berichterstattung, die den Eindruck erweckte, dass die Gruppe um Graner dienstlich tätig war, als die Fotos entstanden, deutet die unkorrekte Kleidung der Soldaten darauf hin, dass sie nach Dienstschluss eigenmächtig handelten. Wolfgang Binder hat in seiner Dissertation das System der Auslagerung von Verantwortung erkannt, jedoch trotz seiner kunstgeschichtlichen Kenntnisse den durch Künstlerinnen seit den 1960er Jahren mittels Kunst-Performances eingebrachten Aspekt übersehen, der bis heute auch in der Kunstwissenschaft unter dem Begriff „Selbstermächtigung“[11] aufs Neue diskutiert wird.

Selbstermächtigung

Hier ist zuerst auf Carolee Schneemann zu verweisen, die in ihrem Happening „Meat Joy“ seit 1964 ein orgiastisches Geschehen mit mehreren halbnackten Teilnehmern inszenierte. Auch Yayoi Kusama organisierte ab 1968 „Naked Events“ in New York und Buenos Aires. In Europa sorgten ähnliche Aktionen der Wiener Aktionisten unter der Regie von Otto Mühl und Hermann Nitsch für Aufsehen. Valie EXPORT, eine österreichische feministische Künstlerin führte 1968 ihren damaligen Partner Peter Weibel, der ihr auf allen Vieren wie ein Hund an einer Leine folgte, durch die Wiener Innenstadt.

Das löste, nicht etwa einen Skandal aus, sondern belustigte die Passanten. Diese humorige Wendung nimmt der Überschreitung von Konventionen ihre Schwere. Auch dass sie am helllichten Tage in einem urbanen Kontext vorgetragen wurde, befördert grundsätzlich die unmittelbare Kommunikation, die bei einer Inszenierung in einer stickigen und von Angst vergifteten Atmosphäre eines Gefängnisses durch Langeweile und Zwang pervertiert wird. Schon hier zeigt sich der Wert eins künstlerischen Verständnisses, der den Aktionen in Abu Ghraib abgeht.

Valie EXPORT und Peter Weibel: Aus der Mappe der Hundigkeit, Aktion in Wien, 1968,
Video der Aktion: https://www.youtube.com/watch?v=41ES0XrCX6M

Lynndie England mit einem Gefangenen in Abu Ghraib, Irak 24. Okt. 2003

Wenn hier das Skandalfoto von 2003 aus Abu Ghraib mit einem 35 Jahre zuvor entstanden Standbild der Aktion von EXPORT und Weibel konfrontiert wird, fällt zwar die hauptsächliche ikonographische Übereinstimmung auf, dass nämlich eine Frau einen Mann an der Leine hält, doch werden auf den zweiten Blick starke Unterschiede augenfällig. Die Kunst-Aktion wurde bewusst in die Öffentlichkeit verlegt, weil die exklusive Situation in einem Museum aufgeben werden sollte. Der bis auf die Akteure menschenleere Gefängnisflur ist dagegen von der Öffentlichkeit abgeschottet. Darin liegt ein nackter Mann, der sich mit seinem linken Arm aufstützt, um seinen Kopf vom Boden anzuheben, so dass er ein eventuelles Zerren an der Leine pariert kann. Der Blick der Soldatin, die ihre Uniformjacke mit Dienstgrad und Kopfbedeckung abgelegt hat, äußert Interessenlosigkeit, während EXPORT lächelnd im zugewandten Blickkontakt mit ihrem Partner steht.

Eigenmächtigkeit und visuelle Begabung

Die hier nur angedeuteten Unterschiede machen deutlich, dass beide Aktionen, abgesehen vom zeitlichen Abstand, unter grundsätzlich anderen Bedingungen aufgeführt worden sind. EXPORT und Weibel haben sich herausgenommen, das Museum zu verlassen, um Verhalten und Körperlichkeit, Gesten und Abhängigkeiten von Mann und Frau, Künstler und Museen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Diesen Absichten entspricht der später eingeführte Begriff der Selbstermächtigung, während im Gefängnis Machtausübung und Zwang vorherrschen, weshalb hier besser von Eigenmächtigkeit zu sprechen wäre.

Nach diesen ersten Schlussfolgerungen, die aus der Abgrenzung von Misshandlung und Performances gezogen werden können, offenbaren die Aussagen Englands in einem Interview mit Emma Brookes nach der Entlassung aus dem Gefängnis bisher unbeachtet gebliebene Aspekte aus ihrem Soldatenleben. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass England ihre Strafe akzeptierte es aber ungerecht fand, dass sie im Gefängnis landete und nicht auch ihre Vorgesetzten, die ihre Aufsichtspflichten verletzt hatten. Auch erkundigte sich die ehemalige Soldatin nach dem Verbleib der Fotos und zeigte sich durchaus zufrieden damit, dass sie geleakt worden waren, was dazu geführt hatte, dass die Folterpraxis überprüft worden war. Dann spricht England über ihre persönlichen Motive. Sie erwähnt, dass der psychologische Test vor der Gerichtsverhandlung ihr eine herausragende visuelle Wahrnehmungsfähigkeit bescheinigt hätte.[12] Dies sah sie als Bestätigung für ihr gestalterische Begabung. Unter Berücksichtigung ihrer Herkunft aus einer armen Familie, die ihrer Tochter, in einer wirtschaftlich abgehängten Gegend im Wohnwagen lebend, nicht viel bieten konnte, fand England in Abu Ghraib offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben Mittel und Ressourcen vor, die ihr erlaubten, ihrer Begabung freien Lauf zu lassen In dem trostlosen Gefangenenlager und unter dem Schutz ihres Verlobten und Vorgesetzten Graner konnte die junge Frau mit ihren Kameradinnen Sabrina Harman und Megan Ambuhl unbeobachtet und außerhalb jeder Kontrolle in ihrer freien Zeit die Regie übernehmen und ein Theater bizarrer Ideen erschaffen.[13]

Repression schlägt in Perversion um

Mit den Experimenten der Body Art versuchten die oben beispielhaft genannten Künstler*innen die durch Arbeit und patriarchale Verhältnisse eingeschränkten Spielräume zunächst physisch sinnbildlich auszuweiten. Die Aktionen und die daraus hervorgebrachten Dokumente veränderten zunächst das Bild vom Körper und den gegenseitigen Umgang. Somit zielten sie in der Praxis auf die volle Verfügbarkeit ihrer geistigen und körperlichen Ressourcen.[14] Im Gefangenenlager von Abu Ghraib bedeutete die Kasernierung in einer feindlichen Umgebung nicht nur für die Gefangenen sondern auch für die Soldaten erheblichen Stress, der die seelische und physische Verfassung der jungen Soldaten beeinflusste. Sie waren durch die Rationalität einer militärischen Hierarche instrumentalisiert und suchten nach Auswegen, ohne allerdings die daraus resultierende Bedrängnis zu ahnen – geschweige objektivieren zu können. Stattdessen lebte sie ihren Freiheitsdrang mit performativen Mitteln in anarchistischen Akten in einer „vorrationalen Sphäre“[15] aus. Wie es die Fotografien belegen, wurden Bestandteile von Mimik, Gestik und Handlungen freigesetzt, die sich in anderen Bereichen der Gesellschaft unter besseren Bedingungen schon entfaltet worden waren. In einem Gefängnis für Kriegsgefangene, wo die Militärpolizisten um Graner auch noch durch die Folterer des Militärgeheimdienstes protegiert wurden,[16] musste ein derartiger Versuch, die eigene Situation durch Selbstermächtigung zu verbessern oder nur den Stress zu mildern, in Perversion untergehen und scheitern.[17] England blieb wie die von ihr unterworfenen Gefangenen selbst eine Gefangene der militärischen Hierarchie und wurde obendrein dafür verurteilt.

An einem Ort, wo schon die Erpressung von Aussagen durch Folter misslang, wie es Binder hervorhob, konnte es auch keine Freizeit, geschweige denn Freiräume geben, die eine Emanzipation durch Performance ermöglicht hätte. Verglichen mit persönlichen Niederlagen, die mit dem Scheitern des Kampfs gegen den Terror verbunden sind, bot der Nachbau des Käfigs im Verhältnis 1 zu 1, wie ihn Wilfried Hagebölling aufstellte, eine Gelegenheit die Empörung oder auch die Trauer über das Geschehen anzudocken. Es wurde ein Objekt angeboten, das als Projektionsfläche dienen konnte.[18]  Die Freiwilligkeit erlaubte es den Passanten, sich dem Käfig im öffentlichen Raum zu nähern und sich mit dem Sinnbild des Desasters ohne Gesichtsverlust und mit Empathie auseinanderzusetzen. Diese Möglichkeit gestattete es Betrachtern, die durch die Fotos aus Abu Ghraib ausgelöste Beschämung oder auch eine mögliche Re-traumatisierung zu mildern. Das Entsetzen findet einen Kontext, der sich jenseits eines von Geschäftsinteressen getriebenen Mummenschanz entlastend auswirken kann.

© Johannes Lothar Schröder

LITERATURVERZEICHNIS

Binder, W. (2012). Die öffentliche Macht der Moral. Abu Ghraib als ikonische Wendung im Krieg gegen den Terror. Konstanz: Universität Konstanz.

Binder, W. (2014). Folter als Performanz. In: Bernhard Giesen u.a. (Hg.), Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral (S. 66-87). Weilerswist-Metternich: Velbrück.

Brookes, E. (2009). „What happens in war happens“. In: The Guardian, 03.01.2009.

Honneth, A. (1988). Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne. In: Peter Kemper (Hg.), Postmoderne oder der Kampf um die Zukunft (S. 127-144). Frankfurt am Main: Fischer.

Meyer zu Schlochtern, J. (2019). Friedrich Spee und Abu Ghureib. (Professoren der Theologischen Fakultät, Paderborn, Hrsg.) Theologie und Glaube, Aschendorf, Oktober 2019, S. 328-342.

Anmerkungen

[1] Die Ambivalenz von Dokument und Inszenierung fasst Werner Binder in seinem Aufsatz Folter als Performanz folgendermaßen zusammen: „Vor dem Hintergrund der Folterdebatte nach 9/11 müssen die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als eine ‚missglückte’ Performanz von Folter aufgefasst werden.“ (Binder W. , 2014) S. 86

[2] Das ist eine Möglichkeit, die der deutsche Regisseur Werner Herzog auch in Dokumentarfilmen anwendet, weil er nicht an das bloße Abfilmen von Wirklichkeit glaubt.„Werner Herzog legt den Protagonisten in seinen Dokumentarfilmen manchmal Worte in den Mund oder erfindet etwas hinzu. Er schafft Bilder, die eine tiefere, ‚ekstatische Wahrheit‘ enthüllen sollen und dafür auch mal deutlich von den Fakten abweichen.“ Kristina Jaspers und Rainer Rother (Hg.), Werner Herzog, Berlin (Deutsche Kinemathek) 2022, S.234 Die Autoren nähern sich mit der Frage, ob „eine Inszenierung tatsächlich ‚wahrer‘ sein (kann) als ein Dokument?‘ dem Widerstreit zwischen den Möglichkeiten eines Kunstprodukts und der Darstellung seines Inhalts. Herzog nutzt also die Erfassung der Wirklichkeit zur Hervorbringung einer „ekstatischen Wahrheit“.

[3] https://www.thf-paderborn.de/theologische-fakultaet-paderborn-verleiht-friedrich-spee-preis-2018/ 12.12.2018

[4] Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, Oxford 1972, dt.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt 1987

[5] Zur Schreibung von Abu Ghraib ist anzumerken, dass im Text abweichend von der Schreibweise Abu Ghuraib, für die sich Hagebölling entschieden hat, die in Publikationen übliche Schreibung verwendet wird.

[6] Die Veröffentlichung der Bilder und die Prozesse gegen US-Soldaten verstärkten die Diskussion noch einmal während des US-amerikanischen Vorwahlen und dem Wahlkampf um die Präsidentschaft. (Binder W. , 2012), S. 584-597.

[7] Anlass war die Entführung des Sohnes der Bankiersfamilie von Metzler. Der Täter wurde gefasst, doch versuchte die Polizei vergeblich, den Aufenthaltsort des Entführten zu ermitteln, um das Leben von Jakob Metzler zu retten. Aus diesem Anlass wurden die Vor- und Nachteile der Wiedereinführung von Folter – auch zur Abwendung von Terror – diskutiert. Domenico Siciliano rezensierte die zuletzt erschiene Literatur dazu., Folter. Rituale der Macht, in: Rechtsgeschichte, Nr. 7, 2005, S. 161–169. „Resümierend kann man festhalten, dass Folter keine deutsche Rechtsgeschichte ist. Sie ist auch keine Geschichte bzw. keine naturgegebene Konstante der Gesellschaft. Folter dient grundsätzlich der Feststellung bzw. der Konstruktion der Wahrheit durch den Staat im Strafprozess. Insofern hat die Folter immer eine politisch staatliche Dimension. Ihre Verabsolutierung, Naturalisierung und Spektakularisierung lenkt den Blick von den Wahrheits- bzw. Machtstrategien ab, die der Staatsapparat durch sie verfolgt und durchsetzt. Es muss keinen Skandal darstellen, dass Literaten besser als Juristen diese Machtstrategien durchschauen, beschreiben und kritisieren.“ S. 169 Die Herausgeber des Sammelbandes „Ungefähres“ nennen als Grund für ihre Publikation: „Das Geschwätzige Wuchern der Diskurse und die unablässige Vervielfältigung der Bilder fördern eine gesellschaftliche Unübersichtlichkeit, in welcher die Unterscheidung zwischen Gerücht und Wissen, Original und Kopie, Gegnerschaft und Nachahmung zu kollabieren droht.“ (Binder W. , 2014)

[8] (Meyer zu Schlochtern, 2019)

[9] Wolfgang Binder hat die Debatte und Wirkung der Bilder in seiner Dissertation Die öffentliche Macht der Moral zusammengetragen und mit einer Analyse der Fotos verknüpft, um ihre Macht zu begründen. Die Diskussion über die Folterpraktiken führten über mehrere Phasen im Laufe von Jahren zwar nicht zu Rücktritten von Ministern, sondern zog sich bis zur Präsidentenwahl 2008, in der McCain gegen Barak Obama antrat. McCain hatte zusammen mit den Demokraten ein Amendment durchgesetzt, das neue Standards der Behandlung von Häftlingen setzte. (Binder W. , 2012), S. 648ff

[10] 10.05.2004  http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html  (besucht am 23.08.2017)

[11] Den Begriff hat der Psychologe Julian Rappaport 1984 geprägt, als er Selbstermächtigung als ein Mittel beschrieb, das in der Gemeindepsychiatrie und -sozialarbeit die Menschen befähigen soll, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen. (Studies in Empowerment: Steps Toward Understanding and Action)

„Empowerment` unterstützt Menschen bei ihrer Suche nach Selbstbestimmung und autonomer Lebensregie.“ https://de.m.wiktionary.org/wiki/Empowerment Erst Jahrzehnte später wurde dieser Begriff im Zuge einer feministischen und postkolonialen Kunstgeschichte rückblickend auf Performances von Künstler*innen übertragen. Für den Vergleich der Motive auf den Fotos aus Abu Ghraib mit Szenen aus der Performance-Dokumentation kann dieser Begriff dazu beitragen, sich einem bisher vernachlässigten Aspekt zu nähern. In den letzten Jahren wurde der Begriff wieder häufiger verwendet. Alice Henkes sieht das Theater von Rimini Protokoll unter dieser Prämisse. https://www.rimini-protokoll.de/website/media/Solothurn/Presse/2023-02-22_Kunst-Bulletin_Rimini%20Protokoll%20u%20Kunst%20als%20Anleitung%20zur%20kritischen%20Selbstermochtigung_.pdf (10.11.2024) Auch fand Selbstermächtigung Eingang in den Titel eines Buchs über Achtsamkeit von Wolfgang Ullrich. Identifikation und Empowerment, Berlin (Wagenbach) 2024.

[12] Die Aussage des psychologischen Gutachtens: „There are only ten kids in the USA who have that.” Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009). Mit dem Satz: „Nur 10 kids in den USA haben diese Begabung“ wird ihre visuelle Intelligenz gewürdigt und es war wohl das einzige Mal, dass ihr als Kind der Unterschicht eine Würdigung zuteilwurde. Auch wenn sie sich in ihrer einfachen Sprache dazu äußerte, wird ersichtlich, wie stolz sie war, dass sie einmal nicht nur als Delinquentin wahrgenommen, sondern ihr eine Begabung zuerkannt wurde, aus der sie trotz ihrer misslichen Lage Selbstbewusstsein beziehen konnte..

[13] Als Grund für ihre Entscheidung, sich als Soldatin für einen Auslandseinsatz zu verpflichten, gab England die Absicht an, genug Geld verdienen zu können, um als Veteranin mit ihrer Abfindung ein teures College zu bezahlen. Es war ihr Ziel, sich durch Bildung zu emanzipieren. Doch konnte sie nicht ahnen, dass die Umstände ihrer militärischen Laufbahn genau das verhinderten. Die Verurteilung führte zum Verlust ihres Dienstgrades, ihres Status als Veteranin und folglich auch der Abfindung. Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009).

[14] Diese Entwicklung verlief nicht isoliert in der Kunst ab. Das Feld war Teil der Emanzipationsbewegungen seit den 1960er Jahren in allen Bereichen des Lebens. Erforscht wurde dieser Bereich allerdings erst etwa zwei Jahrzehnte später in der Soziologie, in der zunächst die Ungleichbehandlung in der Erwerbsarbeit erforscht wurde. Die kulturellen Auswirkungen fanden mit weiterer Verzögerung Beachtung. Hildegard Maria Nickel blickt aus der Zeit der Etablierung dieses Zweigs der Soziologie zurück auf die Anfänge. In: Genderstudien (Hg. von Christina von Braun und Inge Stephan), Stuttgart und Weimar (Metzler) 2000, S. 130-141.

[15] (Honneth, 1988), S. 135

[16] Nach übereinstimmenden Aussagen von England und anderen ließen die Soldaten des Militärgeheimdienstes die Soldaten um Graner ihre Spiele mit den Gefangenen mit der Absicht treiben, diese für die „Verhöre weichzuklopfen“ Der Spiegel berichtete am 10.05.2004 über „einen 53-Seiten-Bericht …, den Generalmajor Antonio Taguba verfasste. Danach vernachlässigten die Offiziere ihre Aufsichtspflicht, und die Militärpolizisten dienten den Verhörern als Büttel – sie sollten die Gefangenen ‚auflockern‘, damit sie ihr Wissen über den Widerstand im Lande leichter ausplauderten.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html  (23.08.17)

[17] Zum erneuten Wahlsieg von Donald Trump schrieb Slavoj Zizek bei e-flux über Unterdrückung und auch über die Perversion. Er argumentierte mit Freud, der sagte, dass „bei der Perversion alles Unterdrückte, alle unterdrückten Inhalte in all ihrer Obszönität zum Vorschein (kommt), aber diese Rückkehr des Unterdrückten verstärkt nur die Unterdrückung – und das ist auch der Grund, warum Trumps Obszönitäten nichts Befreiendes haben. Sie verstärken lediglich die soziale Unterdrückung und Mystifizierung. Trumps obszöne Auftritte bringen also die Falschheit seines Populismus zum Ausdruck: Um es mit brutaler Einfachheit auszudrücken: Während er so tut, als kümmere er sich um die einfachen Leute, fördert er das Großkapital.“ (nach #e-flux auf Instagram am 14.11.2024)

[18] Manfred Schneckenburger erwähnte in einer Podiumsdiskussion über den Käfig von Hagebölling, dass ihm sofort die Fotos aus Abu Ghraib von den Augen gestanden hätten, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. (Meyer zu Schlochtern, 2019)

Ephemere Denkmäler zur Situation des Menschen und zur Übernutzung der Erde

Dieter Rühmann zum 85. Geburtstag
von Johannes Lothar Schröder

Umkehr des Denkens

Eine 50 Meter hohe aus über 5000 Blättern zusammen gesetzte Fotokopie eines Mannes hing kopfüber 1993 vor dem Turm der Ruine der Hamburger Nikolaikirche. Anlässlich des 50. Jahrestages des „Feuersturm“ genannten Bombenangriffs auf die Hansestadt hatte die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und eine Firma für Mobilkräne dem Hamburger Künstler Dieter Rühmann ermöglicht, die Installation „ECCE HOMO“ zu präsentieren. Zwei Telekräne hielten die tonnenschwere fast 60 Meter hohe Installation vom 29. – 31. Juli 1993 vor dem Turm aufgespannt.

Dieter Rühmann: ECCE HOMO, 1993 vor dem Turm der Ruine der Nikolaikirche in Hamburg ca. 5500 x 1300 cm, Foto: Ricklef Müller

Kopfüber

Rühmann hatte die Möglichkeiten einer Umkehr während des Durchgangs seines Menschen durch die Kopiermaschine beobachtet und festgestellt: „Doch dieser Mensch ist nicht gebrochen. Er ist unversehrt. Entgegen seiner aufrechten Gangart hängt er mit dem Kopf nach unten und symbolisiert die Umkehr unseres Denkens: Wir sind gewohnt, unsere Vorstellungskraft von unten nach oben, in abmessbaren Strecken, von einem Ziel zum nächsten zu entfalten. Unser vermeintlicher Fortschritt zwingt uns in einem immer schnelleren Tempo zur Abkehr von uns selbst und von unserer Erde.“ Rühmann sah die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Selbstverleugnung zu unterbrechen und schlussfolgerte: „ECCE HOMO weist zurück auf die Erde“[1], und diese Umkehr ist nicht unbeeinflusst von der Notwendigkeit der Veränderungen, die der Club of Rome in seiner Erklärung über die Grenzen des Wachstums bereits 1972 anmahnte. Die Reaktion des Künstlers darauf war nicht nur ökologisch motiviert, sondern umfasste medienkritische und ikonografische Ansätze.[2]

Was uns immer noch beschäftigt – vor 30 Jahren

Angesichts der verschärften Klimakrise sehen wir heute die verwüsteten Stellen eines Planeten, den wir nach Gutdünken geplündert haben, als würde es sich um einen Behälter handeln, der beliebig oft nachgefüllt werden könnte. Zurückblickend gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass die Einsichten und Mahnungen seitens der Wissenschaft nicht stark genug gewirkt haben, um eine Umkehr des Handelns herbeizuführen. Das liegt offensichtlich daran, dass man Wachstum als eine natürliche Gegebenheit hingenommen hat, weil man es etwa von biologischer Vermehrung ableitete und die Frage der Ernährung als eine technische Angelegenheit zur Sättigung von mehreren Milliarden Menschen mit der Möglichkeit, hohe Profite zu erwirtschaften, gesehen hat. Dabei hat man die Vergrößerung der Fläche ignoriert, die ein im Wohlstand lebendes Individuum heute für sich beansprucht. Die Bedürfnisse von Individuen verschlingen immer mehr Räume und Ressourcen für industrielle Produkte, Schränke voller Kleidung, Regale und Lagerflächen mit Ausrüstung, Geräten und Maschinen etc. Immer mehr Menschen halten gemeinschaftlich benutzbare Dinge zum individuellen Gebrauch vor. Dazu kommen voll ausgestattete Zweit- oder Ferienwohnungen an verschiedenen Orten, Arbeitsräume und Büros, die nur 8 bis 10 Stunden am Tag benutzt werden. Hierbei sind Fahr- und Flugzeuge, sowie die Infrastruktur der unterschiedlichen Verkehrssysteme noch gar nicht berücksichtigt. Auch Produktionsanlagen, Hallen und Minen, die Rohstoffe und Energie zutage befördern, ihre Verarbeitung und Verteilung gewährleisten, benötigen immer größere Flächen. Sie verschlingen Stadt- und Landschaftsraum sowie Energie und zuvor landwirtschaftlich genutzte Flächen.

Wie ein Hamburger Künstler vor 26 Jahren auf die Katastrophe reagiert hat

Die von Reichtum und Gewinnmaximierung getriebene Lebensweise ist so raumgreifend geworden, dass für die Produktion von Feldfrüchten, Naturprodukten und Tieren immer weniger Platz bleibt, der außerdem oft noch mit Abfällen, Müll und Fäkalien verschmutzt wird. Natürlicher und naturnaher Lebensraum wird immer seltener; denn um den Rohstoffbedarf zu stillen werden Urwälder und Wälder weiterhin gerodet und Moore trockengelegt. Gleichzeitig greifen Wüsten und Steppen auf ehemaliges Weide- und Ackerland über. Vor diesem Hintergrund von einem „ökologischen Fußabdruck“ zu sprechen, verniedlicht das Problem. Wenn Hühner auf einem zu engen Raum gehalten werden, fressen sie in kürzester Zeit eine blühende Wiese ab und hinterlassen eine platt getretene und mit Fäkalien verschmutzte Fläche, weshalb eine Nahrungszufuhr von außen erforderlich wird. Wenn man Verkehr und Transportleistungen sowie die Kriege zur Durchsetzung der Bewegungsfreiheit mit den damit verbundenen Handelsinteressen dem Flächenverbrauch hinzuzählt, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung durch Zivilisation überschaubar. Auch akustisch ist dieses fast überall als Lärm und Gepolter zu vernehmen, die selbst in der Nacht nicht mehr nachlassen. Man muss sich einmal die durch das Gewicht der Verkehrsmittel und die durch die Wucht der Beschleunigung entfaltete Gewalt vorstellen, um zu erkennen, dass Menschen die Welt messbar erschüttern.[3] Am Ende lässt sich erkennen, dass die menschlichen Aktivitäten permanente Beben auslösen. Die menschengemachte Dynamik auf der Erdoberfläche kommt einem gewaltsamen Hineinrammen vieler Tonnen nahe. Mit einem solchen Bild vor Augen erscheint die im Folgenden beschriebene Aktion von Rühmann nicht trivial. Sie sollte in die Erde gehen, um dort tatsächlich seismische Erschütterungen hervorzurufen.

Dieter Rühmann: TOPOS, 1998, Entwurf für den Abwurf einer auf dem Kopf stehenden Pyramide auf einem Feld bei Stuttgart-Stammheim,

TOPOS

Mit TOPOS plante Rühmann 1998, eine fünf Tonnen schwere Pyramide aus Stahl und Beton von einem Hubschrauber auf ein freies Feld in Stuttgart-Stammheim abzuwerfen. Für den Künstler war TOPOS „Keine Bombe, kein Flugapparat. Ein grundloses Objekt. Etwas, das vom Himmel fällt, sich einrammt in den Boden, unverrückbar.“[4] Damit wollte Rühmann ein Zeichen der Umkehr setzen, das nicht zufällig an den Monolithen aus ‚2001: Odyssee im Weltraum‘ erinnert, dessen Erscheinen allerdings rätselhaft bleibt. Das schwarze quaderförmige Objekt aus Stanley Kubricks Film aus dem Jahr 1968 tauchte jeweils dann auf, wenn sich die Verfasstheit des Menschen durch Erweiterung seiner anatomischen und geistigen Möglichkeiten veränderte. Einmal gelang es einem Menschenaffen, seinesgleichen mit einem Oberschenkelknochen zu erschlagen und ein anderes Mal sandten zukünftige Menschen Weltraumfahrzeuge für Expeditionen zu anderen Planeten. Diese auch von Rühmann mit ‚djun-leb‘ 1985 angerissenen Science-Fiction-Themen geben einen Begriff davon, dass auch Kunst mit der überbordenden Produktion, dem weltweiten Handel und Ausstellungsbetrieb eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung geworden ist. Als sich Rühmann 1985 mit dem Thema Stoffwechsel aus der Sicht der Weltraumfahrt auseinandergesetzt hatte, war klar geworden, dass auch jeder Astronaut wie der Künstler als ‚Artonaut‘ irgendwann auf den Erdboden zurückkehren muss, wobei der menschliche Stoffwechsel gegenüber dem Transport von Besatzungen und ihren Ausrüstungen als das weitaus größere Problem hervortritt.

Die Massen, die auf der Erde von Menschen bewegt werden

Mit TOPOS, dem Konzept für ein tonnenschweres Geschoss, verlieh Rühmann der Beschleunigung von Masse eine skulpturale Quantität und aktionistische Qualität. Allein der Umstand, dass das Objekt und die Aktion außerhalb des Kunstkontextes den meisten Betrachter*innen absurd erschien, macht auch deutlich, wie stark die Entschlüsselung von plastischen Arbeiten verkümmert ist. Die Kraft der Metapher für die verdrängten Umweltprobleme konnte damals nicht durchdringen. Dennoch näherte sich Rühmann dem Unbekannten in bisher ungekannter Schärfe und plante eine Intervention, die einem Terrorakt glich, was der Schauplatz, ein Feld in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem führende Mitglieder der RAF einsaßen, unterstrich. Die aus 1000 Metern Höhe fallende Pyramide sollte der unglaublichen Gewalt von Masse und ihrer Beschleunigung eine künstlerische Gestalt geben. So konnte sie ein punktuell freigesetztes Äquivalent der Energie sein, die wir Menschen mit den von uns gemachten Dingen Tag für Tag freisetzen. Dazu schrieb Rühmann in der Dokumentation seiner Arbeiten: „Die Terror-Anschläge brachen mit einer ihnen eigenen, unerbittlichen Gesetzlichkeit wie ein Naturereignis in das friedliche Leben der Bundesbürger ein. Die Anschläge kamen unerwartet und waren für die meisten Bundesbürger völlig unverständlich.“[5]

Kunst wie ein Terrorakt

Im Licht dieser Äußerung scheint die ungewöhnliche Aktion als eine Parallele zu den terroristischen Anschlägen, die der Belastung der Welt durch menschliches Wirken ein Mahnmal setzt. Diese Aktion gab zugleich dem Zweifel daran eine Gestalt, ob die Richtung unseres Denkens „nach außen oder nach oben“ richtig sei. Rühmann hoffte durch das Objekt, „eine Pyramide, die auf uns zurast“, eine alternative Richtung von oben nach unten, also von oben auf uns zu kommend, nicht nur anschaulich, sondern auch physisch spürbar zu machen. Das Ereignis, das sich „gegen unsere Denkrichtung kehrt und so rational nicht zu begreifen ist“, könnte seiner Meinung nach ein Anlass sein, über eine Umkehr nachzudenken.[6] Rühmann leitet bis heute die Vorstellung, dass ein Kunstwerk einen Schrecken über das menschliche Handeln auslösen könnte, um das Bewusstsein über die Folgen unseres Handelns zu wecken; denn offensichtlich fällt es uns als Menschen schwer, die Gewalt zu begreifen, die von unserer Lebensweise ausgeht.

Mit der Corona-Krise 2020 wurde die Menschheit von einem Ereignis getroffen, das alle erfasst hatte und nur gemeinsam überwunden werden konnte. Es führte die letztendliche Machtlosigkeit des im rasenden Fortschritt nach immer neuen Rekorden gerichteten Denkens vor Augen. Die Reaktionen zur Bewältigung lassen, grob gesehen, zwei Richtungen erkennen. Unter den Politikern fallen diejenigen auf, die in der Lage sind, über die Grenzen ihrer eigenen Interessen und ihre Machtposition hinauszublicken, um das Nötige zu tun. Andere ignorierten das wechselvolle Geschehen der Pandemie und überlassen die Bevölkerung der von ihnen regierten Staaten sich selbst. Als wäre das nicht schon genug des Übels, Maßnahmen zu unterlassen, wiegeln sie auch noch Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Dabei suchen sie Schuld für die Desaster jeweils bei ihren politischen Gegnern oder wirtschaftlichen Rivalen.[7] Auf der anderen Seite gibt es Staatslenker*innen, die umsichtig und fürsorglich handeln und Voraussetzungen schaffen, um Menschenleben in ihrem Einflussbereich zu schützen, Kapazitäten mit Nachbarn teilen und Menschen, die in ihrer Existenz bedroht sind, so gut es geht, zu unterstützen.[8]

Die Lage ist kompliziert und neue Entwicklungen und Ereignisse fordern weitere Entscheidungen heraus. Schwieriger aber als Krisenmanagement wird es sein, die Basis für ein Umsteuern zu legen, damit nachhaltige Lösungen möglich sind. Letztlich wird jeder Einzelne aufgefordert sein, zu handeln und in seinem Umkreis und Verantwortungsbereich mitzuwirken. Künstlerische Arbeiten können als Elemente eines Frühwarnsystems betrachtet werden. Auch wenn offen bleibt, ob sie tatsächlich zu einer konkreten Umkehr ermutigen, ist dieses Werk erneut zur Diskussion zu stellen, zumal TOPOS damals schon nicht realisiert werden konnte, weil dieser Arbeit die Vergabe von Mitteln und die Genehmigungen verweigert wurde.

Die Homepage http://www.buechse-der-pandora.de/ zeigt weitere Pläne des Hamburger Künstlers, die belegen, dass Rühmann nicht aufgegeben hat, die herrschenden Hierarchien auf den Kopf zu stellen.

Der Text basiert auf einer historischen Darstellung und Erörterung wichtiger Werke Rühmanns im Buch „abhängen“ des Autors (s.u.).


[1] Rühmann, Dieter: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993. Hamburg 1993, o.S.

[2] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese Installation, die im Buch des Autors wie auch das Werk Rühmanns dargestellt wird. (Schröder, 2022) Im Folgenden werden die Seiten 133-137 in einem anderen Layout wiedergegeben. Abweichungen vom zitierten Text sind redaktionell bedingt.

[3] Seismologen stellten während des durch die Corona-Pandemie durchgeführten Lockdowns eine deutliche Verminderung der menschengemachten Erschütterungen fest. https://science.sciencemag.org/content/early/2020/07/22/science.abd2438 (07.09.2020) 132

[4] Rühmann, o.J.

[5] (Rühmann, o.J.), S. 96

[6] Ebd., S. 98

[7] In den USA unter ihrem Präsidenten Trump waren es Liberale, die als Umstürzler diskreditiert wurden, und China, das für die Schwächen der amerikanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht und als Ursache des Coronavirus hingestellt wurde. Die Unterlassung von Maßnahmen führte den vermeidbaren vorzeitigen Tod von 300.000 Menschen (Stand Mitte Oktober 2020) herbei.

[8] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zeilen ließ sich nicht abschätzen, wie sich die Situation weiterentwickeln würde. Deshalb kann die tatsächliche Auswirkung der Coronakrise auf die mögliche ökologische Umgestaltung der Wirtschaft erst in der Zukunft beurteilt werden. In Bezug auf die hier angesprochene künstlerische Leistung lässt sich jedenfalls eine an die Schwierigkeiten des antizipierenden ökologischen Umdenkens greifende Verkörperung erkennen.

Literatur:

Rühmann, Dieter: … macht die Kunst kaptt – es lebe die Kunst …, Järnecke, Issendorf 1984.

Pressespiegel: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993“. – Hamburg 1993.

Schröder, Johannes Lothar: abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen. Dieter Rühmann, Annegret Soltau, Boris Nieslony, ConferencePoint Verlag, Hamburg 2022

Ewigkeiten. Netze und Inselhaftes

„Es ist Ewigkeiten her.“, heißt es, wenn einem seit dem letzten Besuch etwas fremd geworden aber nicht klar ist, was sich tatsächlich verändert hat.

Die vier Jahrzehnte, die vergangen waren, seit er zuletzt die ABC-Straße hinunter zum Gänsemark gelaufen ist, musste er ausrechnen. Als Schüler hatte er in einem seiner ersten Romane über diese Hamburger Gegend gelesen und sich am Leben und an den Sprüchen der Außenseiter ergötzt, die in der Palette verkehrten. Wie viele Stufen waren es noch, die hinunter in das Souterrain mit den drei Gasträumen führten?  Er hätte gerne noch mal nachgezählt. Und wo stand der Kachelofen? Es war unmöglich, jetzt das Haus finden. Hier hatten sie neue Kulissen aufgestellt. Eine einfallslose Hotelfassade und andere mehrfach übermalte Versatzstücke gaben das Bühnenbild für das Theaterstück über liberales Wirtschaften. Nichts mehr hatte die Bedeutung von einst. Die alten Orte der Nacht waren in Staub aufgegangen, der über Bauschutt hinunterrieselte. Bagger und Abrissbirnen brauchten Tage und Woche, um zu leisten, was nebenan die Bomben über Nacht angerichtet hatten. Dazu die Räumungsklagen, die Schweinereien mit mutwillig zerstörten Abwasserleitungen und Dächern, bis die Abbruchgenehmigungen erteilt wurden.

Müllexplosion

BROMMA-RAUM, Screenshot: Post auf INSTA @antje_bromma vom 30.10.2023

Jetzt stand er vor der verglasten Fassade im Torweg eines neuen Bürogebäudes, hinter der Tausende von Objekten an dünnen Fäden im Raum schwebten, als wären sie in einer Explosionswelle erstarrt. Michelangelo Antonionis Zeitlupenaufnahmen aus Zabriski Point traten vor sein inneres Auge. Die explosiv zerlegte Villa inmitten der Natur verkörperte damals den Bruch mit der Moderne. Eine Druckwelle hat die Inhalte der Schränke und Regale von ihren Plätzen gefegt und die Zeitlupe hatte sie in einen schwebenden Zustand versetzt, der ihnen eine verwischte aber Kinomomente lange Dauer verlieh.

Die Installation von Antje Bromma ist den über 50 Jahre alten Filmbildern allein schon durch ihre physische Präsenz an Schärfe, Klarheit, Räumlichkeit und Prägnanz überlegen. Es hatte den Anschein, als seien kleine und große, leichte und schwere, monochrome und farbige Objekte auf ihren Flugbahnen angehalten worden. Doch entbehren sie einer Erzählung, der dem Film seinen roten Faden gab. Hier und jetzt verbindet ein solcher Faden tatsächlich alle Fundstücke aus der Sammlung der Künstlerin. Nach Zabriskie Point muss man nicht mehr denken, dass hinweggedrückte und zerschellte Dinge zu trivial und zu allgemein sind, um ihnen eine Geschichte zuzusprechen. Auch wenn sie jetzt vereinzelt oder als Konglomerate über den Besucher*innen der Ausstellung schweben, kommt mindestens die Frage nach ihrer Herkunft auf. Darüber hinaus fallen ästhetische Merkmale auf; denn jeder Gegenstand hat eine eigene Farbe, Größe, Form, Stofflichkeit und Materialität. Die Anordnung und das Erkennen möglicher Funktionen sowie imaginäre Ergänzungen der Teile zu einem Ganzen bringt Kristallisationskerne hervor, an die sich Gedanken heften und von denen aus Geschichten ranken können.

Der künstlerische Eingriff bringt Kriterien ins Spiel, die anzeigen, dass es um mehr als nur um Dinge geht, die verworfen wurden. Dass Archäologen anhand ausgegrabener Scherben plausible Mutmaßungen über längst vergangens Leben treffen können, ist bekannt. Doch haben die Überlegungen von Julia Kristeva uns den Begriff „abject“ geschenkt. Sie hat ihn analog zu den grammatischen Begriffen wie Subjekt und Objekt gestellt und damit zu Bedenken gegeben, das es Dinge gibt, die noch keinen gültigen Platz im Satzbau haben. Mit Abjekt wird das Verworfene, also das Unsägliche und damit aus der Kultur entfernte, bezeichnet, womit auch die gestörte Zugehörigkeit zum Text angezeigt wird.

Verworfenes einbezogen

Es sieht so aus, als würden Brommas Installationen Anschauung über dieses Feld liefern; denn mit dem Aufheben des Weggeworfenen unternimmt die Künstlerin den Versuch, die außerhalb der Kultur gelandeten Objekte wieder in den kulturellen Gebrauch einzubinden. Die Künstlerin befördert das Verworfene in den Erfahrungsraum, der den Diskurs über Grammatologie für Nicht-Philosoph*innen ergänzt. Einen Zugang könnten Anekdoten des Findens bahnen und die Erinnerungen an die Fundorte könnten Geschichten iniziiren. Gelangen dann die gesammelten Gegenstände nach einer Zwischenlagerung im Künstleratelier in einen Ausstellungsraum beginnt mit dem Aufbau der Installation eine neue Phase von Präsenz und Bedeutung. Die Objekte bekommen durch die handelnde Künstlerin (Subjekt) einen Platz im Raum und in der Zeit zugewiesen. Ihre Exposition und ihre Nachbarschaft innerhalb der Installationen löst neue Zusammenhänge aus und begleitet von der Neugierde des Publikums wachsen möglicherweise erste Sätze einer neuen Erzählung.

BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023
BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Selbst wenn zunächst noch Kriterien, Diskurse und Begriffe fehlen und es schwerfällt, über die Gegenstände und die Installationen zu reden, hat die Künstlerin als Fachfrau des Ästetischen einen Anfang gemacht. Ihre Kompetenz hilft dem Publikum auf die Sprünge. Vielleicht wird dadurch die Entscheidung befördert, etwas bewußt anzuschauen, wenn nicht wiederzuverwenden, statt es achtlos wegzuwerfen. Nachdem die Teile durch Installationen und Worte in einen räumlichen und zeitlichen Kontext gebracht wurden und zum Bestandteil des Bewußtseins geworden sind, kann aus einem Stück Abfall eine Ressource werden, ehe es die Flüsse hinunter ins Meer gespült wird und sich mit anderen unter die Räder geratenen überschüssigen Gegenständen zu einer schwimmenden Insel in den Ozeanen vereint, um dort ein dubioses Biotop zu begründen.

Mitlerweile glauben nur noch Idioten, den Verbleib der immer größer werdenen Abfallmengen und der darin enthaltenen problematischen Stoffe im Griff zu haben. Seit Jahrzehnten wächst der Druck auf die Mächtigen, zu erkennen, dass es nicht mehr reicht, die Stoffe zu sammeln, um sie „thermisch zu verwerten“ oder zu deponieren. Das war möglich, weil sie aus dem Blickfeld genommen und der Sprache entzogen wurden. Daran konnte die Praxis anschließen, die als Wertstoffe gesammelten Dinge durch Export zu entfernen. Durch Pseudo-Recycling überließ man sie mit Profit dem Zufall und schadete dem organischen Leben nach ihrer Produktion noch ein zweites Mal.

Produkte aus Abfall zu gewinnen und sie in anderer Form weiter zu nutzen, erfordert Wertschätzung, die Künstler*innen und Handwerker*innen ihnen teilweise schon früher verleihen konnten. Diese setzt aber eine ästhetische Beurteilung voraus, die schon seit Jahrzehnten dazu führt, Abfällen in die Herstellung und Reparatur von Objekten einzubeziehen, bis diese Praxis endlich auch Eingang in die Diskurse fand.

Literatur:

Einen Anfang machte Michael Thompson mit Rubbish Theorie. The creation and destruction of value. Oxford Univ. Press 1979, dt.: Die Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981. Den Autoren der Themenhefte Theorie des Abfalls und Müllkunst, Kunstforum, Bd. 167 (2003) und Bd. 168 (2004) zufolge, nehmen die mit Abfall produziierenden Künstler die Überforderung des Einzelnen durch den Abfall aus der zunehmenden Überproduktion im auf Wachstum ausgerichteten Kapitalismus zum Anlass, immer größere Mengen von Müll in ihrer Kunst zu verarbeiten. (Kathrin Luz, Strategien gegen die Überproduktion, Bd. 167, S. 118-135. Sie geht u.a. auf Nancy Rubins, Jonathan Meese und Rirkrit Tiravanija ein.) Als Spezialformen von Überproduktion und Vernichtung sind zudem noch Krieg, Terror und Genozid zu nennen, die sowohl als Wert vernichtender wie auch als Wert schaffende menschliche Tätigkeit wirken.

Zu „abject“ Julia Kristeva, Pouvoir de l’horreur. Paris 1980, engl.: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982

Netze und Inseln

Das Besondere bei Bromma ist die Verteilung der Gegenstände im Raum, wobei auch ihr Gewicht, ihre Beschaffenheit und die Vielfalt der Materialien eine Rolle spielen. Speziell ist auch die Verwendung einer dünnen roten Kunststofffaser, die die Künstlerin aus einem achtfaserigen Faden zieht, den sie 1998 bei einem Studienaufenthalt in Island erwarb. Diese Faseranekdote führt zu zwei Themen: dem Netz und dem Inselhaften.

BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023
BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2023

Alle Fundstücke werden in die Faser eingeknotet und so locker im Raum verteilt. Wenn die Installation später abgebaut wird, entstehen Verklumpungen, die wie Inseln in die jeweils folgende Vernetzung mit neuen Objekten eingebunden werden. Innerhalb solcher Inseln verschmelzen Objekte zu Konglomeraten, die es erschweren, Einzelheiten und individuelle Besonderheiten zu unterscheiden. Diese Unübersichtlichkeit kann als eine Metapher für Menschenmassen und die von ihnen produzierten, konsumierten und benutzen Dinge gesehen werden, die die Megacities der Welt kennzeichnen, wo Anhäufungen und Verdichtungen individuelle Besonderheiten relativieren und es Außenstehenden erschwert wird, diese zu unterscheiden.

Was von Weitem aber wie eine amorphe Verklumpung aussieht, zeigt sich aus der Nahsicht als Gespinnst von Gegenständen und ihrer kulturellen Verbundenheit mit den Menschen, was Kombinationsmöglichkeiten nahelegt und die Koexistenz zum Prinzip erhebt.

©Johannes Lothar Schröder