Ephemere Denkmäler zur Situation des Menschen und zur Übernutzung der Erde

Dieter Rühmann zum 85. Geburtstag
von Johannes Lothar Schröder

Umkehr des Denkens

Eine 50 Meter hohe aus über 5000 Blättern zusammen gesetzte Fotokopie eines Mannes hing kopfüber 1993 vor dem Turm der Ruine der Hamburger Nikolaikirche. Anlässlich des 50. Jahrestages des „Feuersturm“ genannten Bombenangriffs auf die Hansestadt hatte die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und eine Firma für Mobilkräne dem Hamburger Künstler Dieter Rühmann ermöglicht, die Installation „ECCE HOMO“ zu präsentieren. Zwei Telekräne hielten die tonnenschwere fast 60 Meter hohe Installation vom 29. – 31. Juli 1993 vor dem Turm aufgespannt.

Dieter Rühmann: ECCE HOMO, 1993 vor dem Turm der Ruine der Nikolaikirche in Hamburg ca. 5500 x 1300 cm, Foto: Ricklef Müller

Kopfüber

Rühmann hatte die Möglichkeiten einer Umkehr während des Durchgangs seines Menschen durch die Kopiermaschine beobachtet und festgestellt: „Doch dieser Mensch ist nicht gebrochen. Er ist unversehrt. Entgegen seiner aufrechten Gangart hängt er mit dem Kopf nach unten und symbolisiert die Umkehr unseres Denkens: Wir sind gewohnt, unsere Vorstellungskraft von unten nach oben, in abmessbaren Strecken, von einem Ziel zum nächsten zu entfalten. Unser vermeintlicher Fortschritt zwingt uns in einem immer schnelleren Tempo zur Abkehr von uns selbst und von unserer Erde.“ Rühmann sah die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Selbstverleugnung zu unterbrechen und schlussfolgerte: „ECCE HOMO weist zurück auf die Erde“[1], und diese Umkehr ist nicht unbeeinflusst von der Notwendigkeit der Veränderungen, die der Club of Rome in seiner Erklärung über die Grenzen des Wachstums bereits 1972 anmahnte. Die Reaktion des Künstlers darauf war nicht nur ökologisch motiviert, sondern umfasste medienkritische und ikonografische Ansätze.[2]

Was uns immer noch beschäftigt – vor 30 Jahren

Angesichts der verschärften Klimakrise sehen wir heute die verwüsteten Stellen eines Planeten, den wir nach Gutdünken geplündert haben, als würde es sich um einen Behälter handeln, der beliebig oft nachgefüllt werden könnte. Zurückblickend gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass die Einsichten und Mahnungen seitens der Wissenschaft nicht stark genug gewirkt haben, um eine Umkehr des Handelns herbeizuführen. Das liegt offensichtlich daran, dass man Wachstum als eine natürliche Gegebenheit hingenommen hat, weil man es etwa von biologischer Vermehrung ableitete und die Frage der Ernährung als eine technische Angelegenheit zur Sättigung von mehreren Milliarden Menschen mit der Möglichkeit, hohe Profite zu erwirtschaften, gesehen hat. Dabei hat man die Vergrößerung der Fläche ignoriert, die ein im Wohlstand lebendes Individuum heute für sich beansprucht. Die Bedürfnisse von Individuen verschlingen immer mehr Räume und Ressourcen für industrielle Produkte, Schränke voller Kleidung, Regale und Lagerflächen mit Ausrüstung, Geräten und Maschinen etc. Immer mehr Menschen halten gemeinschaftlich benutzbare Dinge zum individuellen Gebrauch vor. Dazu kommen voll ausgestattete Zweit- oder Ferienwohnungen an verschiedenen Orten, Arbeitsräume und Büros, die nur 8 bis 10 Stunden am Tag benutzt werden. Hierbei sind Fahr- und Flugzeuge, sowie die Infrastruktur der unterschiedlichen Verkehrssysteme noch gar nicht berücksichtigt. Auch Produktionsanlagen, Hallen und Minen, die Rohstoffe und Energie zutage befördern, ihre Verarbeitung und Verteilung gewährleisten, benötigen immer größere Flächen. Sie verschlingen Stadt- und Landschaftsraum sowie Energie und zuvor landwirtschaftlich genutzte Flächen.

Wie ein Hamburger Künstler vor 26 Jahren auf die Katastrophe reagiert hat

Die von Reichtum und Gewinnmaximierung getriebene Lebensweise ist so raumgreifend geworden, dass für die Produktion von Feldfrüchten, Naturprodukten und Tieren immer weniger Platz bleibt, der außerdem oft noch mit Abfällen, Müll und Fäkalien verschmutzt wird. Natürlicher und naturnaher Lebensraum wird immer seltener; denn um den Rohstoffbedarf zu stillen werden Urwälder und Wälder weiterhin gerodet und Moore trockengelegt. Gleichzeitig greifen Wüsten und Steppen auf ehemaliges Weide- und Ackerland über. Vor diesem Hintergrund von einem „ökologischen Fußabdruck“ zu sprechen, verniedlicht das Problem. Wenn Hühner auf einem zu engen Raum gehalten werden, fressen sie in kürzester Zeit eine blühende Wiese ab und hinterlassen eine platt getretene und mit Fäkalien verschmutzte Fläche, weshalb eine Nahrungszufuhr von außen erforderlich wird. Wenn man Verkehr und Transportleistungen sowie die Kriege zur Durchsetzung der Bewegungsfreiheit mit den damit verbundenen Handelsinteressen dem Flächenverbrauch hinzuzählt, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung durch Zivilisation überschaubar. Auch akustisch ist dieses fast überall als Lärm und Gepolter zu vernehmen, die selbst in der Nacht nicht mehr nachlassen. Man muss sich einmal die durch das Gewicht der Verkehrsmittel und die durch die Wucht der Beschleunigung entfaltete Gewalt vorstellen, um zu erkennen, dass Menschen die Welt messbar erschüttern.[3] Am Ende lässt sich erkennen, dass die menschlichen Aktivitäten permanente Beben auslösen. Die menschengemachte Dynamik auf der Erdoberfläche kommt einem gewaltsamen Hineinrammen vieler Tonnen nahe. Mit einem solchen Bild vor Augen erscheint die im Folgenden beschriebene Aktion von Rühmann nicht trivial. Sie sollte in die Erde gehen, um dort tatsächlich seismische Erschütterungen hervorzurufen.

Dieter Rühmann: TOPOS, 1998, Entwurf für den Abwurf einer auf dem Kopf stehenden Pyramide auf einem Feld bei Stuttgart-Stammheim,

TOPOS

Mit TOPOS plante Rühmann 1998, eine fünf Tonnen schwere Pyramide aus Stahl und Beton von einem Hubschrauber auf ein freies Feld in Stuttgart-Stammheim abzuwerfen. Für den Künstler war TOPOS „Keine Bombe, kein Flugapparat. Ein grundloses Objekt. Etwas, das vom Himmel fällt, sich einrammt in den Boden, unverrückbar.“[4] Damit wollte Rühmann ein Zeichen der Umkehr setzen, das nicht zufällig an den Monolithen aus ‚2001: Odyssee im Weltraum‘ erinnert, dessen Erscheinen allerdings rätselhaft bleibt. Das schwarze quaderförmige Objekt aus Stanley Kubricks Film aus dem Jahr 1968 tauchte jeweils dann auf, wenn sich die Verfasstheit des Menschen durch Erweiterung seiner anatomischen und geistigen Möglichkeiten veränderte. Einmal gelang es einem Menschenaffen, seinesgleichen mit einem Oberschenkelknochen zu erschlagen und ein anderes Mal sandten zukünftige Menschen Weltraumfahrzeuge für Expeditionen zu anderen Planeten. Diese auch von Rühmann mit ‚djun-leb‘ 1985 angerissenen Science-Fiction-Themen geben einen Begriff davon, dass auch Kunst mit der überbordenden Produktion, dem weltweiten Handel und Ausstellungsbetrieb eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung geworden ist. Als sich Rühmann 1985 mit dem Thema Stoffwechsel aus der Sicht der Weltraumfahrt auseinandergesetzt hatte, war klar geworden, dass auch jeder Astronaut wie der Künstler als ‚Artonaut‘ irgendwann auf den Erdboden zurückkehren muss, wobei der menschliche Stoffwechsel gegenüber dem Transport von Besatzungen und ihren Ausrüstungen als das weitaus größere Problem hervortritt.

Die Massen, die auf der Erde von Menschen bewegt werden

Mit TOPOS, dem Konzept für ein tonnenschweres Geschoss, verlieh Rühmann der Beschleunigung von Masse eine skulpturale Quantität und aktionistische Qualität. Allein der Umstand, dass das Objekt und die Aktion außerhalb des Kunstkontextes den meisten Betrachter*innen absurd erschien, macht auch deutlich, wie stark die Entschlüsselung von plastischen Arbeiten verkümmert ist. Die Kraft der Metapher für die verdrängten Umweltprobleme konnte damals nicht durchdringen. Dennoch näherte sich Rühmann dem Unbekannten in bisher ungekannter Schärfe und plante eine Intervention, die einem Terrorakt glich, was der Schauplatz, ein Feld in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem führende Mitglieder der RAF einsaßen, unterstrich. Die aus 1000 Metern Höhe fallende Pyramide sollte der unglaublichen Gewalt von Masse und ihrer Beschleunigung eine künstlerische Gestalt geben. So konnte sie ein punktuell freigesetztes Äquivalent der Energie sein, die wir Menschen mit den von uns gemachten Dingen Tag für Tag freisetzen. Dazu schrieb Rühmann in der Dokumentation seiner Arbeiten: „Die Terror-Anschläge brachen mit einer ihnen eigenen, unerbittlichen Gesetzlichkeit wie ein Naturereignis in das friedliche Leben der Bundesbürger ein. Die Anschläge kamen unerwartet und waren für die meisten Bundesbürger völlig unverständlich.“[5]

Kunst wie ein Terrorakt

Im Licht dieser Äußerung scheint die ungewöhnliche Aktion als eine Parallele zu den terroristischen Anschlägen, die der Belastung der Welt durch menschliches Wirken ein Mahnmal setzt. Diese Aktion gab zugleich dem Zweifel daran eine Gestalt, ob die Richtung unseres Denkens „nach außen oder nach oben“ richtig sei. Rühmann hoffte durch das Objekt, „eine Pyramide, die auf uns zurast“, eine alternative Richtung von oben nach unten, also von oben auf uns zu kommend, nicht nur anschaulich, sondern auch physisch spürbar zu machen. Das Ereignis, das sich „gegen unsere Denkrichtung kehrt und so rational nicht zu begreifen ist“, könnte seiner Meinung nach ein Anlass sein, über eine Umkehr nachzudenken.[6] Rühmann leitet bis heute die Vorstellung, dass ein Kunstwerk einen Schrecken über das menschliche Handeln auslösen könnte, um das Bewusstsein über die Folgen unseres Handelns zu wecken; denn offensichtlich fällt es uns als Menschen schwer, die Gewalt zu begreifen, die von unserer Lebensweise ausgeht.

Mit der Corona-Krise 2020 wurde die Menschheit von einem Ereignis getroffen, das alle erfasst hatte und nur gemeinsam überwunden werden konnte. Es führte die letztendliche Machtlosigkeit des im rasenden Fortschritt nach immer neuen Rekorden gerichteten Denkens vor Augen. Die Reaktionen zur Bewältigung lassen, grob gesehen, zwei Richtungen erkennen. Unter den Politikern fallen diejenigen auf, die in der Lage sind, über die Grenzen ihrer eigenen Interessen und ihre Machtposition hinauszublicken, um das Nötige zu tun. Andere ignorierten das wechselvolle Geschehen der Pandemie und überlassen die Bevölkerung der von ihnen regierten Staaten sich selbst. Als wäre das nicht schon genug des Übels, Maßnahmen zu unterlassen, wiegeln sie auch noch Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Dabei suchen sie Schuld für die Desaster jeweils bei ihren politischen Gegnern oder wirtschaftlichen Rivalen.[7] Auf der anderen Seite gibt es Staatslenker*innen, die umsichtig und fürsorglich handeln und Voraussetzungen schaffen, um Menschenleben in ihrem Einflussbereich zu schützen, Kapazitäten mit Nachbarn teilen und Menschen, die in ihrer Existenz bedroht sind, so gut es geht, zu unterstützen.[8]

Die Lage ist kompliziert und neue Entwicklungen und Ereignisse fordern weitere Entscheidungen heraus. Schwieriger aber als Krisenmanagement wird es sein, die Basis für ein Umsteuern zu legen, damit nachhaltige Lösungen möglich sind. Letztlich wird jeder Einzelne aufgefordert sein, zu handeln und in seinem Umkreis und Verantwortungsbereich mitzuwirken. Künstlerische Arbeiten können als Elemente eines Frühwarnsystems betrachtet werden. Auch wenn offen bleibt, ob sie tatsächlich zu einer konkreten Umkehr ermutigen, ist dieses Werk erneut zur Diskussion zu stellen, zumal TOPOS damals schon nicht realisiert werden konnte, weil dieser Arbeit die Vergabe von Mitteln und die Genehmigungen verweigert wurde.

Die Homepage http://www.buechse-der-pandora.de/ zeigt weitere Pläne des Hamburger Künstlers, die belegen, dass Rühmann nicht aufgegeben hat, die herrschenden Hierarchien auf den Kopf zu stellen.

Der Text basiert auf einer historischen Darstellung und Erörterung wichtiger Werke Rühmanns im Buch „abhängen“ des Autors (s.u.).


[1] Rühmann, Dieter: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993. Hamburg 1993, o.S.

[2] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese Installation, die im Buch des Autors wie auch das Werk Rühmanns dargestellt wird. (Schröder, 2022) Im Folgenden werden die Seiten 133-137 in einem anderen Layout wiedergegeben. Abweichungen vom zitierten Text sind redaktionell bedingt.

[3] Seismologen stellten während des durch die Corona-Pandemie durchgeführten Lockdowns eine deutliche Verminderung der menschengemachten Erschütterungen fest. https://science.sciencemag.org/content/early/2020/07/22/science.abd2438 (07.09.2020) 132

[4] Rühmann, o.J.

[5] (Rühmann, o.J.), S. 96

[6] Ebd., S. 98

[7] In den USA unter ihrem Präsidenten Trump waren es Liberale, die als Umstürzler diskreditiert wurden, und China, das für die Schwächen der amerikanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht und als Ursache des Coronavirus hingestellt wurde. Die Unterlassung von Maßnahmen führte den vermeidbaren vorzeitigen Tod von 300.000 Menschen (Stand Mitte Oktober 2020) herbei.

[8] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zeilen ließ sich nicht abschätzen, wie sich die Situation weiterentwickeln würde. Deshalb kann die tatsächliche Auswirkung der Coronakrise auf die mögliche ökologische Umgestaltung der Wirtschaft erst in der Zukunft beurteilt werden. In Bezug auf die hier angesprochene künstlerische Leistung lässt sich jedenfalls eine an die Schwierigkeiten des antizipierenden ökologischen Umdenkens greifende Verkörperung erkennen.

Literatur:

Rühmann, Dieter: … macht die Kunst kaptt – es lebe die Kunst …, Järnecke, Issendorf 1984.

Pressespiegel: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993“. – Hamburg 1993.

Schröder, Johannes Lothar: abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen. Dieter Rühmann, Annegret Soltau, Boris Nieslony, ConferencePoint Verlag, Hamburg 2022

The Uranium, which was dropped on Hiroshima

The painting shows the amount or #Uranium235, which was placed on a table in Los Alamos in 1945 to exactly prove the estimated critical mass of the load that was packed into “Little Boy”, which was the prosaic name of the Bomb, which was dropped on #Hiroshima 75 years ago. In the background you see instruments and in the foreground the mechanism is visible, which could add tiny little pieces of the heavy metal to get the last one out again of the mass immediately, when it becomes hot and short before the radiation made the block shine blue. To us this experiment alone seems hair-rising. However how do we feel imagining, what happened during the explosion in Hiroshima Aug. 6, 1945?

illustration after a photograph taken in Los Alamos, the nuclear testsite, in 1945. It shows the mass of Uranium 235 short before it was prooven to become critical.

Excerpt from my book “Vorsicht bei Fett”, Übersehenes bei Beuys, ConferencePoint Verlag, Hamburg und Berlin  2016
ISBN 978-3-936406-55-9  

Exzerpt eines Ausschnitts über die Aktion „Vakuum <–> Masse“ von Joseph Beuys 1968

Among other issues, that were overseen in Beuys work, I reflected the lack of themes concerning the atomic threat and came to the conclusion that the use of some of the pieces of fat metaphorically represented the uranium and other nuclear fuels. For those who were educated in physics of conventional energy, the character of nuclear power was hard to understand. Also the scale of the nuclear industry was hard to imagine. For a German, born in 1921 it probably seemed absurd, that two factories of a scale that never was seen before were required (in Hanford and Oak Ridge) to get a spoonful of uraniumhydid in a concentration of 15 percent uranium235 per day. (To get an idea of the scale of work you have to realize, that for the construction of the plant in Hanford alone 45.000 workers had to be hired.)

Selbstlaufende Autoteile

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele performen HYPEROBJEKTE?
in den Sophiensälen in Berlin im Februar

und im WUK performing arts in Wien im März

Monolithisch ragten zwei hochkant aufgestellte ausgeschlachtete Karosseriehälften auf. Dazwischen standen Bauteile von Kraftfahrzeugen. Türen, Sitze, Motorhauben und Scheinwerfer in Transportkäfigen bereit. Von den beiden Protagonisten verschoben und in Funktion gesetzt, begannen die Autoteile gemeinsam mit ausgebauten Scheinwerfern, Blinkern, Bremsleuchten und Scheibenwischern ein Eigenleben zu führen. Mit Akkupacks versehen, waren sie von keiner zentralen Stromversorgung mehr abhängig, so dass sie frei beweglich ihren Tanz in der von Scheinwerfer und Blinker beleuchtet Installation begannen, in der verstärkte Grundgeräusche wie Fahrtwind, klackende Blinker und tickende Relais Takt und Ton vorgaben.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Eine der in das Stück integrierten Lectureperformances brachte die Konstruktion des ersten Atomreaktors in Chicago durch den Atomphysiker Enrico Fermi zur Sprache. Die Zuschauer*innen erfuhren, dass dem Forscher seine Qualitäten als Leichtathlet nützten, weil er die zu untersuchenden Proben zur Messung von Halbwertszeiten des Nuklearmaterials blitzschnell von einem Labor in ein anderes bringen konnte. Da diese Experimente im bitterkalten Winter in ungeheizten Laboren stattfanden, trug das Forscherteam Waschbärenmäntel der Baseballmannschaft der Universität. So verstand man auch die Anspielung von Florian Feigl und Otmar Wagner besser, die anfänglich in Pelzmänteln auftauchten. Darin stellten sie sich auch in die Tradition der ersten Automobilisten, die im Freien auf einer Kutscherbank thronten, ohne Karosserie und vorgespannte Pferde saßen sie mit dem Motor auf vier Rädern und mussten sich vor Wind und Wetter schützen.

Beide Performer hatten sich aber nicht nur in die Kluft von Automobilisten geworfen, sondern erschienen im zweiten Teil der Aktion, nach dem Ablegen der Mäntel, in weißen Kitteln im Stil von Künstlern, Ingenieuren und Konstrukteuren der 1920er Jahre. So ausgestattet und sich in Karosserieteile hineinzwängend, scheinen sie die Fahrgastzelle als Labor zu nutzen. Ein anachronistischer Kontrast, denn mit ausgedienten Autokarosserien geben sich heute weder Forscher noch Pioniere ab. Außerdem waren wesentliche Teile des Autos wie Motor, Getriebe, Kardanwelle, Lenk-  und Antriebsachsen ausgebaut. Zerlegt, mit leerem Tank und ohne Ölwanne wird das Auto verfügbar, weshalb sich diese Darsteller von Künstleringenieuren tatsächlich eher als Forscher an einem Begriff erweisen, denn als Entwickler von Maschinen. Ihre Aktivität ist der Dekonstruktion der Auffassung vom Automobil als Fetisch gewidmet. Mittels der Installation definieren Wagner und Feigl die Bestandteile der Technologie der individuellen Fortbewegung in mehreren Schritten neu, was auch den Untertitel „Blech und Gewebe“ erklären könnte.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Technokratische Überlegungen lassen die irrationalen Ängste vieler Autobesitzer meist außen vor.  Diese träfe der Verlust eines Statussymbols viel stärker, als die Möglichkeit nicht mehr von der Stelle zu kommen. Diese Schwäche zeigt sich nicht nur in der panikartigen Zurückweisung neuer Verkehrskonzepte, sondern im massenhaften Kauf klobiger Sport-Nutzfahrzeug-Hybriden, den sogenannten SUV, die übermotorisiert sind, andere Verkehrsteilnehmer einschüchtern und allen Argumenten zum Trotz die Bereitschaft zur Eskalation statt zur Kooperation ausdrücken.

Es sieht also ganz so aus, als würden sich die ankündigenden Veränderungen genauso schmerzhaft auswirken, wie der Abschied von der Kutsche, an deren Größe, Pracht und vorgespannter Anzahl der Pferde sich der Status des Besitzers ablesen ließ. Ein kleines knatterndes Automobil ohne Zugtier machte nicht viel her und lässt sich daher heute noch leicht belächeln. Vielleicht werden unsere Enkel sich über die gerade vermarkteten und fortschrittlich geltenden Elektroautos mit mächtigen Karosserien lustig machen, denn sie ahmen wie die kutschenartigen Autos von anno dazumal die alte Vehikelform nach. Als Imitation der gewohnten alten lassen sich neuartige Fahrzeuge noch nicht als eigenständige Ikonen lesen und müssen sich vorerst ihr Prestige von den Verbrennern ausleihen. Dabei sehen einige Autotypen sogar wie Rennwagen aus, in denen Plätze für Passagiere geschaffen werden müssen, in denen sie dennoch langsamer unterwegs sind wie die Fahrgäste von Hochgeschwindigkeitszügen.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Ohne sichtbare High-Tech-Features platzieren Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele sich in einem Niemandsland der Mobilität und dennoch wurde die Kantine der Sophiensäle ein temporäres Entwicklungslabor des Wandels. Wagner und Feigl zerstörten das Auto nicht lustvoll wie der Perkussionist Stefan Gwildis mit Vorschlaghammer und Flex, sondern sie machen es durch Zerlegen dysfunktional und ermöglichen den Bauteilen ein komplexes Eigenleben. Auch das hat viel mit Musik zu tun und ist von Industrial und Fluxus inspiriert: Scheibenwischerarme schlagen gegen Motorhauben, rühren in Tankstutzen herum, heben sogar einen kompletten Tank an und tanzen wie Insekten mit nur noch einem Bein. Die Wisch-Wasch-Anlage beeindruckt als plätschernder Springbrunnen und das kinetische Objekt aus Frontscheibenwischern auf einem Mikrofonständer verblüfft als sich automatisch schief stellendes Notenpult und mechanischer Dirigent zugleich. Inmitten sich kreuzender Scheinwerfer bleibt die metallenen Szene in ein unruhiges Licht getaucht, über die alle 20 Minuten der höllische Lärm eines startenden Passagierjets losbricht.

Und wohin geht die Reise?

©Johannes Lothar Schröder

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele: HYPEROBJEKTE?
Wagner und Feigl arbeiten daran… Blech und Gewebe I-IV
in der Kantine der Sophiensäle am 26., 27., 28. und 29. Februar 2020

Blech und Gewebe V – VII
à im März: im WUK performing arts
Einzug in den Projektraum: Sa., 21.3. 21 Uhr, Vorstellungen Do., 26.3., 19:30 Uhr sowie Fr., 27. bis Sa. 28.3.2020 21 Uhr, Projektraum