Geleakte Fotos und der Käfig aus Abu Ghraib

Vor 20 Jahren in Abu Ghraib und heute Halloween

Am 28. April 2004 erregten die aus dem Gefängnis von Abu Ghraib geschmuggelten Fotos, die Gefangene in erniedrigenden Posen zeigten, international Aufsehen. Sie verbreiteten sich schnell und galten als Beleg für Folter in US-Militärgefängnissen. In einem politisch geprägten und von Empörung geleiteten Kontext blieb die Frage nach den ästhetischen und bildlichen Qualitäten dieser Fotos offen. Redaktionen setzten die Bilder vielmehr auflagesteigernd ein, was sich, nicht zuletzt wegen der zunächst noch wenig bekannten Umstände, unter denen die Fotos entstehen konnten, als zweifelhaft erwies. Ihres Kontexts beraubt, blieb unberücksichtigt, dass die Gefangenen offensichtlich einer Regie unterworfen worden waren. Jemand hatte sie gezwungen, Formationen zu bilden oder Posen einzunehmen. Fotos zeigen eine junge Frau, die einen Gefangenen an einer Leine hält. Die in verschmutzter Kleidung oder nackt und im schlechten Licht auf fleckigem Estrich liegenden Männer offenbaren ein Elend, das durch die Inszenierung gesteigert wird und befremdlich wirkt. Diese Fotos beinhalten ein Potential für Geschichten, die nach und nach ans Licht kamen und Fragen nach den Grenzen des Dokumentarischen aufwerfen. Zugespitzt ließe sich sogar spekulieren, ob es mit Dokumentarfotografien gelungen wäre, so viel Aufmerksamkeit zu erzielen.[1] Besonders wirksam erwies sich die Immaterialität der Fotos. Sie sind digital und boten daher in einer Zeit, als die Sozialen Medien am Anfang ihres bis dahin noch nicht absehbaren Siegeszug standen, die Möglichkeit, sehr schnell in Umlauf gebracht zu werden.

Wenige Jahre später griff die US-amerikanische Populärkultur Szenen aus den Fotos auf und bot Halloweenkostüme an, die auch Kindern und Jugendlichen ermöglichten, in die Rolle von Folteropfern und Folterern aus Abu Ghraib zu schlüpfen, um bei ihren Nachbarn Süßes zu sammeln.

Ein besonders krasses Beispiel zeigt das Foto von J. Hobin. http://copyranter.blogspot.com/2011/10/its-little-early-but-how-bout.html

In einer Halloween-Kulisse stellen Kinder Szenen aus Abu Ghraib nach, die der Fotograf benutzt, um sein Foto mit dem Spruch: “It´s a little early, but how bout a disturbing Halloween photo?” anzupreisen.

Die Abbildung aus dem Archiv des Autors einhält eine Auswahl der Fotos aus Abu Ghraib, die in die in der Originallegende bezeichneten Illustration von Norman Rockwell montiert worden sind.

Auf den beiden Bildern, die einige Jahre nach den Ereignissen in Abu Ghraib entstanden sind, trifft das von der Außenwelt abgeschirmte Geschehen auf US-amerikanische Kinder. Die im Internet kursierenden Bilder erzwingen bis heute eine öffentliche Auseinandersetzung mit Gewalt und zeigen nicht zum ersten Mal, dass die von politischen Akteuren losgetretenen Ereignisse Folgen an jedem Punkt der Erde haben. Im Kinderzimmer werden ursprüngliche Fotodokumente notgedrungen zu einem Spiel. Der in ihnen innewohnende Horror wird im Geiste von Halloween zu einem Phantasieprodukt, das ein alle Vorstellungen übersteigendes Geschehens handhabbar zu machen versucht. Dazu wird die schwer nachvollziehbare Wirklichkeit in Kostüme und andere Artefakte gefasst.[2]

An der Entstehung der zu ikonischen Bildern gewordenen Fotografien aus einem Trakt des Militärgefängnisses aus Abu Ghraib, der vom Militärgeheimdienst kontrolliert wurde, sind drei Gruppen von Akteuren beteiligt. Die Gefangenen, die der Willkür ausgesetzt sind, die Verhörspezialisten, die ihren Methoden folgen, um die von ihnen vermutete Wahrheit herauszufinden und die Militärpolizisten um Feldwebel Graner, die von den Agenten die Erlaubnis haben, ihre Spiele mit den Gefangenen zu treiben. Im Gegensatz zu den Folterern, die nicht einmal die direkten Vorgesetzten der Gruppe um Graner sind, haben letztere keinen Plan, sondern lassen in der Regellosigkeit ihrer Fantasie freien Lauf und bringen diese fraglos verwerflichen aber doch eindringlich wirkenden Schnappschüsse hervor, die bekanntermaßen weltweit Empörung hervorgerufen haben.

Daneben gibt es ein anderes Artefakt, das weniger populär geworden ist, aber eine für die Bearbeitung des Erschütternden produktive Perspektive innerhalb der Folterdebatte öffnet.

Abu Ghraib in Paderborn?

Am Morgen des 30. Oktober 2004 fanden Passanten auf dem Platz vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg in Paderborn einen mit Bandstahl vergitterten hölzernen Käfig vor. Er entsprach 1 zu 1 einer Isolierzelle, die U.S.-Truppen im Foltergefängnis von Abu-Ghraib benutzten. Am Jesuitenkolleg, dem heutigen Gymnasium Theodorianum befand sich vor 400 Jahren die Theologische Fakultät, an der Friedrich von Spee von 1629 bis 1631 als Professor für Moraltheologie unterrichtet hatte.[3] Seine 1631 und 1632 erschienene Schrift Cautio Criminalis leistete einen wichtigen Beitrag für die Bemühungen, Folter und Unterdrückung zu ächten.

Wilfried Hagebölling, Abu Ghureib 2003/2004  /  Friedrich von Spee 1631/1632, Nachbau einer Isolierzelle der US-Armee aus dem Militärgefängnis Abu Ghraib, 300x130x240 cm, Installation vor dem Gymnasium Theodorianum, Paderborn, 2004, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn 2024

Von Spee stand den in Hexenprozessen zum Tode Verurteilten auf ihrem Weg zur Hinrichtung bei, weshalb er wusste, dass diese Opfer der Inquisition unschuldig waren. Da sie ihren Peinigern chancenlos ausgeliefert waren, konnte jede ihrer Aussagen gegen sie gewendet werden. Um zu klären, warum der in Paderborn lebende Bildhauer Wilfried Hagebölling für seine Intervention eine Isolierzelle instrumentalisiert hat, wird vorgeschlagen, den Käfig als rhetorisches Mittel zu sehen. Seine Verwendung und die künstlerische Objektivierung von Isolation zeigen zudem, dass dieses Gehäuse nicht nur mediale Zusammenhänge berührt, sondern auch moralische, politische und rhetorische Fragen aufwirft.

Von der Imitation zur Metapher

Als Intervention öffentlich aufgestellt, erweist sich der Käfig als mehr als eine bloße Nachbildung, denn das Objekt konnte nicht nur in Paderborn aufgestellt, sondern in Umlauf gebracht werden, um an jedem beliebigen Ort zu erscheinen. Deshalb ist der Käfig als materialisierte Übertragung der rhetorischen Figur der Metapher zu verstehen, wie sie schon antike Redner anwandten, um ihrem Publikum etwas Unbekanntes, Fernes oder noch nicht Verstandenes begreiflich zu machen. Das dreidimensionale Objekt tritt so mit der Erfahrung der Passanten in eine Beziehung und bringt ihnen das kontroverse Thema Einkerkerung und Folter nahe.

Heute haben wir uns daran gewöhnt, für jede Gelegenheit Abbildungen zur Hand zu haben oder auf solche verweisen zu können, obwohl wir allgemein weniger bemüht sind, Bilder sprachlich herzustellen. Wir sollten uns daran erinnern, dass in der Renaissance Gedanken zunächst in einer bildhaften Sprache vorhanden waren, ehe daraus Bilder entwickelt wurden. Die Maler hatten von den Dichtern gelernt, rhetorische Figuren zu visualisieren, um Menschen beispielsweise durch unterschiedliche Mimik und Gestik zu unterscheiden. Diese Mannigfaltigkeit wurde wie andere Kunstgriffe (Verschiedenartigkeit, Räumlichkeit, Perspektive, Relief etc.) von bildenden Künstlern übernommen und von Kunsttheoretikern ausgeführt,[4] um bildliche Äquivalente zu vervollkommnen. Sinnbildliche Verkörperungen wie sie sich aus den Metaphern zu Allegorien entwickelten, ermöglichten es schließlich, ausdrucksstarke und bisweilen drastische Bilder oder Objekte zu erfinden, mit denen sich bis heute Redner wie Künstler Aufmerksamkeit verschaffen. In dieser kulturhistorischen Entwicklung wurzeln Handwerkszeug und Berufsethos von Menschen, die politisch Einfluss nehmen. Bei Hagebölling fallen die Worte auf dem Boden des Käfigs erst nach einer Annäherung auf. Dort wurden sie als Schablonendruck gesetzt: ISOLIERZELLE WIE SIE US-TRUPPEN FÜR ABU-GHURAIB-HÄFTLINGE IN BAGDAD BENUTZEN [5]

Diese Angaben lösen bei gleichzeitiger Gegenwart des Käfigs einen Denkvorgang aus, der die bedrückende Enge und Rechtlosigkeit der Insassen konkretisiert und ihre gleichzeitige Ausgesetztheit im Freien sinnfällig werden lässt.

Wilfried Hagebölling, Isolierzelle s.o., (Detail), Foto: johnicon, 2004, VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Aktuelle politische Ereignisse verlängerten die Botschaft des Käfigs über den Anlass seiner Aufstellung hinaus. So wurde im November 2004 angesichts des Irakkriegs, des US-amerikanischen Präsidentenwahlkampfs 2004 und 2008[6] und der Zustände in außerterritorialen Gefangenenlagern die Berechtigung von Folter diskutiert. In Deutschland begleitete eine ähnliche Kontroverse auch den Prozess gegen den ehemaligen stellvertretenden Polizeipräsidenten von Frankfurt, der einem Entführer durch eine ‚peinliche Befragung‘ das Versteck seines Opfers entlocken wollte.[7] An dem an sich stummen, aber als Metapher beredt gemachten Käfig liefen die Fäden der internationalen Politik lokal zusammen. Nicht zuletzt fiel im Monat des Gedenkens an die Toten, an den Beginn der Nazipogrome und den Mauerfall am 9. November auch ein Licht auf das Verhältnis des Themas zu unserer eigenen jüngeren Geschichte.[8]

Als Beispiel für die Vorführung von Angeklagten im Käfig wird hier ein Foto verwendet, dass Alexej Navalny, den Gegner Putins, vor Gericht zeigt.

Abb.: Mozilla Lesevorschläge 21.10. 2024. Der Käfig aus an den Kreuzungspunkten geschweißtem Baustahl suggerierte schon die nächste Stufe eines möglichen Angriffs auf das Leben des Oppositionellen: Die Einbetonierung des Gefangenen nach Art der Mafia. Die implizierte Todesdrohung soll außerdem abschrecken.

Fotos heizten den Skandal an.

Rückblickend wird deutlich, dass nicht der Käfig die Diskussionen um die Folter veränderte, sondern die geleakten Fotos aus Abu Ghraib eine unerwartete politische Wirkung entfalteten. Sie brannten sich in das kollektive Gedächtnis ein und veränderten infolge zahlreicher Prozesse, die durch das Bekanntwerden der Bilder forciert wurden, die Haltung einer Mehrheit der US-Amerikaner gegenüber der Folter, die letztlich die Regierung unter Druck setzte.[9]

Ein wichtiger Aspekt der Fotografien und ihrer Inszenierung blieb jedoch unbeachtet. Dieser erschließt sich aus der Funktion der Gruppe um den Feldwebel Charles Graner. Es handelte sich um Militärpolizisten, die im Dienst Gefangene registrierten,[10] und sich in ihrer Freizeit in den Gängen des Trakts herumtrieben, aus dem sich eine Folterabteilung Gefangene für ihre Verhörte holte. Entgegen der Berichterstattung, die den Eindruck erweckte, dass die Gruppe um Graner dienstlich tätig war, als die Fotos entstanden, deutet die unkorrekte Kleidung der Soldaten darauf hin, dass sie nach Dienstschluss eigenmächtig handelten. Wolfgang Binder hat in seiner Dissertation das System der Auslagerung von Verantwortung erkannt, jedoch trotz seiner kunstgeschichtlichen Kenntnisse den durch Künstlerinnen seit den 1960er Jahren mittels Kunst-Performances eingebrachten Aspekt übersehen, der bis heute auch in der Kunstwissenschaft unter dem Begriff „Selbstermächtigung“[11] aufs Neue diskutiert wird.

Selbstermächtigung

Hier ist zuerst auf Carolee Schneemann zu verweisen, die in ihrem Happening „Meat Joy“ seit 1964 ein orgiastisches Geschehen mit mehreren halbnackten Teilnehmern inszenierte. Auch Yayoi Kusama organisierte ab 1968 „Naked Events“ in New York und Buenos Aires. In Europa sorgten ähnliche Aktionen der Wiener Aktionisten unter der Regie von Otto Mühl und Hermann Nitsch für Aufsehen. Valie EXPORT, eine österreichische feministische Künstlerin führte 1968 ihren damaligen Partner Peter Weibel, der ihr auf allen Vieren wie ein Hund an einer Leine folgte, durch die Wiener Innenstadt.

Das löste, nicht etwa einen Skandal aus, sondern belustigte die Passanten. Diese humorige Wendung nimmt der Überschreitung von Konventionen ihre Schwere. Auch dass sie am helllichten Tage in einem urbanen Kontext vorgetragen wurde, befördert grundsätzlich die unmittelbare Kommunikation, die bei einer Inszenierung in einer stickigen und von Angst vergifteten Atmosphäre eines Gefängnisses durch Langeweile und Zwang pervertiert wird. Schon hier zeigt sich der Wert eins künstlerischen Verständnisses, der den Aktionen in Abu Ghraib abgeht.

Valie EXPORT und Peter Weibel: Aus der Mappe der Hundigkeit, Aktion in Wien, 1968,
Video der Aktion: https://www.youtube.com/watch?v=41ES0XrCX6M

Lynndie England mit einem Gefangenen in Abu Ghraib, Irak 24. Okt. 2003

Wenn hier das Skandalfoto von 2003 aus Abu Ghraib mit einem 35 Jahre zuvor entstanden Standbild der Aktion von EXPORT und Weibel konfrontiert wird, fällt zwar die hauptsächliche ikonographische Übereinstimmung auf, dass nämlich eine Frau einen Mann an der Leine hält, doch werden auf den zweiten Blick starke Unterschiede augenfällig. Die Kunst-Aktion wurde bewusst in die Öffentlichkeit verlegt, weil die exklusive Situation in einem Museum aufgeben werden sollte. Der bis auf die Akteure menschenleere Gefängnisflur ist dagegen von der Öffentlichkeit abgeschottet. Darin liegt ein nackter Mann, der sich mit seinem linken Arm aufstützt, um seinen Kopf vom Boden anzuheben, so dass er ein eventuelles Zerren an der Leine pariert kann. Der Blick der Soldatin, die ihre Uniformjacke mit Dienstgrad und Kopfbedeckung abgelegt hat, äußert Interessenlosigkeit, während EXPORT lächelnd im zugewandten Blickkontakt mit ihrem Partner steht.

Eigenmächtigkeit und visuelle Begabung

Die hier nur angedeuteten Unterschiede machen deutlich, dass beide Aktionen, abgesehen vom zeitlichen Abstand, unter grundsätzlich anderen Bedingungen aufgeführt worden sind. EXPORT und Weibel haben sich herausgenommen, das Museum zu verlassen, um Verhalten und Körperlichkeit, Gesten und Abhängigkeiten von Mann und Frau, Künstler und Museen öffentlich zur Diskussion zu stellen. Diesen Absichten entspricht der später eingeführte Begriff der Selbstermächtigung, während im Gefängnis Machtausübung und Zwang vorherrschen, weshalb hier besser von Eigenmächtigkeit zu sprechen wäre.

Nach diesen ersten Schlussfolgerungen, die aus der Abgrenzung von Misshandlung und Performances gezogen werden können, offenbaren die Aussagen Englands in einem Interview mit Emma Brookes nach der Entlassung aus dem Gefängnis bisher unbeachtet gebliebene Aspekte aus ihrem Soldatenleben. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass England ihre Strafe akzeptierte es aber ungerecht fand, dass sie im Gefängnis landete und nicht auch ihre Vorgesetzten, die ihre Aufsichtspflichten verletzt hatten. Auch erkundigte sich die ehemalige Soldatin nach dem Verbleib der Fotos und zeigte sich durchaus zufrieden damit, dass sie geleakt worden waren, was dazu geführt hatte, dass die Folterpraxis überprüft worden war. Dann spricht England über ihre persönlichen Motive. Sie erwähnt, dass der psychologische Test vor der Gerichtsverhandlung ihr eine herausragende visuelle Wahrnehmungsfähigkeit bescheinigt hätte.[12] Dies sah sie als Bestätigung für ihr gestalterische Begabung. Unter Berücksichtigung ihrer Herkunft aus einer armen Familie, die ihrer Tochter, in einer wirtschaftlich abgehängten Gegend im Wohnwagen lebend, nicht viel bieten konnte, fand England in Abu Ghraib offensichtlich zum ersten Mal in ihrem Leben Mittel und Ressourcen vor, die ihr erlaubten, ihrer Begabung freien Lauf zu lassen In dem trostlosen Gefangenenlager und unter dem Schutz ihres Verlobten und Vorgesetzten Graner konnte die junge Frau mit ihren Kameradinnen Sabrina Harman und Megan Ambuhl unbeobachtet und außerhalb jeder Kontrolle in ihrer freien Zeit die Regie übernehmen und ein Theater bizarrer Ideen erschaffen.[13]

Repression schlägt in Perversion um

Mit den Experimenten der Body Art versuchten die oben beispielhaft genannten Künstler*innen die durch Arbeit und patriarchale Verhältnisse eingeschränkten Spielräume zunächst physisch sinnbildlich auszuweiten. Die Aktionen und die daraus hervorgebrachten Dokumente veränderten zunächst das Bild vom Körper und den gegenseitigen Umgang. Somit zielten sie in der Praxis auf die volle Verfügbarkeit ihrer geistigen und körperlichen Ressourcen.[14] Im Gefangenenlager von Abu Ghraib bedeutete die Kasernierung in einer feindlichen Umgebung nicht nur für die Gefangenen sondern auch für die Soldaten erheblichen Stress, der die seelische und physische Verfassung der jungen Soldaten beeinflusste. Sie waren durch die Rationalität einer militärischen Hierarche instrumentalisiert und suchten nach Auswegen, ohne allerdings die daraus resultierende Bedrängnis zu ahnen – geschweige objektivieren zu können. Stattdessen lebte sie ihren Freiheitsdrang mit performativen Mitteln in anarchistischen Akten in einer „vorrationalen Sphäre“[15] aus. Wie es die Fotografien belegen, wurden Bestandteile von Mimik, Gestik und Handlungen freigesetzt, die sich in anderen Bereichen der Gesellschaft unter besseren Bedingungen schon entfaltet worden waren. In einem Gefängnis für Kriegsgefangene, wo die Militärpolizisten um Graner auch noch durch die Folterer des Militärgeheimdienstes protegiert wurden,[16] musste ein derartiger Versuch, die eigene Situation durch Selbstermächtigung zu verbessern oder nur den Stress zu mildern, in Perversion untergehen und scheitern.[17] England blieb wie die von ihr unterworfenen Gefangenen selbst eine Gefangene der militärischen Hierarchie und wurde obendrein dafür verurteilt.

An einem Ort, wo schon die Erpressung von Aussagen durch Folter misslang, wie es Binder hervorhob, konnte es auch keine Freizeit, geschweige denn Freiräume geben, die eine Emanzipation durch Performance ermöglicht hätte. Verglichen mit persönlichen Niederlagen, die mit dem Scheitern des Kampfs gegen den Terror verbunden sind, bot der Nachbau des Käfigs im Verhältnis 1 zu 1, wie ihn Wilfried Hagebölling aufstellte, eine Gelegenheit die Empörung oder auch die Trauer über das Geschehen anzudocken. Es wurde ein Objekt angeboten, das als Projektionsfläche dienen konnte.[18]  Die Freiwilligkeit erlaubte es den Passanten, sich dem Käfig im öffentlichen Raum zu nähern und sich mit dem Sinnbild des Desasters ohne Gesichtsverlust und mit Empathie auseinanderzusetzen. Diese Möglichkeit gestattete es Betrachtern, die durch die Fotos aus Abu Ghraib ausgelöste Beschämung oder auch eine mögliche Re-traumatisierung zu mildern. Das Entsetzen findet einen Kontext, der sich jenseits eines von Geschäftsinteressen getriebenen Mummenschanz entlastend auswirken kann.

© Johannes Lothar Schröder

LITERATURVERZEICHNIS

Binder, W. (2012). Die öffentliche Macht der Moral. Abu Ghraib als ikonische Wendung im Krieg gegen den Terror. Konstanz: Universität Konstanz.

Binder, W. (2014). Folter als Performanz. In: Bernhard Giesen u.a. (Hg.), Ungefähres. Gewalt, Mythos, Moral (S. 66-87). Weilerswist-Metternich: Velbrück.

Brookes, E. (2009). „What happens in war happens“. In: The Guardian, 03.01.2009.

Honneth, A. (1988). Foucault und Adorno. Zwei Formen einer Kritik der Moderne. In: Peter Kemper (Hg.), Postmoderne oder der Kampf um die Zukunft (S. 127-144). Frankfurt am Main: Fischer.

Meyer zu Schlochtern, J. (2019). Friedrich Spee und Abu Ghureib. (Professoren der Theologischen Fakultät, Paderborn, Hrsg.) Theologie und Glaube, Aschendorf, Oktober 2019, S. 328-342.

Anmerkungen

[1] Die Ambivalenz von Dokument und Inszenierung fasst Werner Binder in seinem Aufsatz Folter als Performanz folgendermaßen zusammen: „Vor dem Hintergrund der Folterdebatte nach 9/11 müssen die Missbrauchsfälle von Abu Ghraib als eine ‚missglückte’ Performanz von Folter aufgefasst werden.“ (Binder W. , 2014) S. 86

[2] Das ist eine Möglichkeit, die der deutsche Regisseur Werner Herzog auch in Dokumentarfilmen anwendet, weil er nicht an das bloße Abfilmen von Wirklichkeit glaubt.„Werner Herzog legt den Protagonisten in seinen Dokumentarfilmen manchmal Worte in den Mund oder erfindet etwas hinzu. Er schafft Bilder, die eine tiefere, ‚ekstatische Wahrheit‘ enthüllen sollen und dafür auch mal deutlich von den Fakten abweichen.“ Kristina Jaspers und Rainer Rother (Hg.), Werner Herzog, Berlin (Deutsche Kinemathek) 2022, S.234 Die Autoren nähern sich mit der Frage, ob „eine Inszenierung tatsächlich ‚wahrer‘ sein (kann) als ein Dokument?‘ dem Widerstreit zwischen den Möglichkeiten eines Kunstprodukts und der Darstellung seines Inhalts. Herzog nutzt also die Erfassung der Wirklichkeit zur Hervorbringung einer „ekstatischen Wahrheit“.

[3] https://www.thf-paderborn.de/theologische-fakultaet-paderborn-verleiht-friedrich-spee-preis-2018/ 12.12.2018

[4] Michael Baxandall: Painting and Experience in Fifteenth Century Italy, Oxford 1972, dt.: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt 1987

[5] Zur Schreibung von Abu Ghraib ist anzumerken, dass im Text abweichend von der Schreibweise Abu Ghuraib, für die sich Hagebölling entschieden hat, die in Publikationen übliche Schreibung verwendet wird.

[6] Die Veröffentlichung der Bilder und die Prozesse gegen US-Soldaten verstärkten die Diskussion noch einmal während des US-amerikanischen Vorwahlen und dem Wahlkampf um die Präsidentschaft. (Binder W. , 2012), S. 584-597.

[7] Anlass war die Entführung des Sohnes der Bankiersfamilie von Metzler. Der Täter wurde gefasst, doch versuchte die Polizei vergeblich, den Aufenthaltsort des Entführten zu ermitteln, um das Leben von Jakob Metzler zu retten. Aus diesem Anlass wurden die Vor- und Nachteile der Wiedereinführung von Folter – auch zur Abwendung von Terror – diskutiert. Domenico Siciliano rezensierte die zuletzt erschiene Literatur dazu., Folter. Rituale der Macht, in: Rechtsgeschichte, Nr. 7, 2005, S. 161–169. „Resümierend kann man festhalten, dass Folter keine deutsche Rechtsgeschichte ist. Sie ist auch keine Geschichte bzw. keine naturgegebene Konstante der Gesellschaft. Folter dient grundsätzlich der Feststellung bzw. der Konstruktion der Wahrheit durch den Staat im Strafprozess. Insofern hat die Folter immer eine politisch staatliche Dimension. Ihre Verabsolutierung, Naturalisierung und Spektakularisierung lenkt den Blick von den Wahrheits- bzw. Machtstrategien ab, die der Staatsapparat durch sie verfolgt und durchsetzt. Es muss keinen Skandal darstellen, dass Literaten besser als Juristen diese Machtstrategien durchschauen, beschreiben und kritisieren.“ S. 169 Die Herausgeber des Sammelbandes „Ungefähres“ nennen als Grund für ihre Publikation: „Das Geschwätzige Wuchern der Diskurse und die unablässige Vervielfältigung der Bilder fördern eine gesellschaftliche Unübersichtlichkeit, in welcher die Unterscheidung zwischen Gerücht und Wissen, Original und Kopie, Gegnerschaft und Nachahmung zu kollabieren droht.“ (Binder W. , 2014)

[8] (Meyer zu Schlochtern, 2019)

[9] Wolfgang Binder hat die Debatte und Wirkung der Bilder in seiner Dissertation Die öffentliche Macht der Moral zusammengetragen und mit einer Analyse der Fotos verknüpft, um ihre Macht zu begründen. Die Diskussion über die Folterpraktiken führten über mehrere Phasen im Laufe von Jahren zwar nicht zu Rücktritten von Ministern, sondern zog sich bis zur Präsidentenwahl 2008, in der McCain gegen Barak Obama antrat. McCain hatte zusammen mit den Demokraten ein Amendment durchgesetzt, das neue Standards der Behandlung von Häftlingen setzte. (Binder W. , 2012), S. 648ff

[10] 10.05.2004  http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html  (besucht am 23.08.2017)

[11] Den Begriff hat der Psychologe Julian Rappaport 1984 geprägt, als er Selbstermächtigung als ein Mittel beschrieb, das in der Gemeindepsychiatrie und -sozialarbeit die Menschen befähigen soll, die Lösung ihrer Probleme selbst in die Hand zu nehmen. (Studies in Empowerment: Steps Toward Understanding and Action)

„Empowerment` unterstützt Menschen bei ihrer Suche nach Selbstbestimmung und autonomer Lebensregie.“ https://de.m.wiktionary.org/wiki/Empowerment Erst Jahrzehnte später wurde dieser Begriff im Zuge einer feministischen und postkolonialen Kunstgeschichte rückblickend auf Performances von Künstler*innen übertragen. Für den Vergleich der Motive auf den Fotos aus Abu Ghraib mit Szenen aus der Performance-Dokumentation kann dieser Begriff dazu beitragen, sich einem bisher vernachlässigten Aspekt zu nähern. In den letzten Jahren wurde der Begriff wieder häufiger verwendet. Alice Henkes sieht das Theater von Rimini Protokoll unter dieser Prämisse. https://www.rimini-protokoll.de/website/media/Solothurn/Presse/2023-02-22_Kunst-Bulletin_Rimini%20Protokoll%20u%20Kunst%20als%20Anleitung%20zur%20kritischen%20Selbstermochtigung_.pdf (10.11.2024) Auch fand Selbstermächtigung Eingang in den Titel eines Buchs über Achtsamkeit von Wolfgang Ullrich. Identifikation und Empowerment, Berlin (Wagenbach) 2024.

[12] Die Aussage des psychologischen Gutachtens: „There are only ten kids in the USA who have that.” Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009). Mit dem Satz: „Nur 10 kids in den USA haben diese Begabung“ wird ihre visuelle Intelligenz gewürdigt und es war wohl das einzige Mal, dass ihr als Kind der Unterschicht eine Würdigung zuteilwurde. Auch wenn sie sich in ihrer einfachen Sprache dazu äußerte, wird ersichtlich, wie stolz sie war, dass sie einmal nicht nur als Delinquentin wahrgenommen, sondern ihr eine Begabung zuerkannt wurde, aus der sie trotz ihrer misslichen Lage Selbstbewusstsein beziehen konnte..

[13] Als Grund für ihre Entscheidung, sich als Soldatin für einen Auslandseinsatz zu verpflichten, gab England die Absicht an, genug Geld verdienen zu können, um als Veteranin mit ihrer Abfindung ein teures College zu bezahlen. Es war ihr Ziel, sich durch Bildung zu emanzipieren. Doch konnte sie nicht ahnen, dass die Umstände ihrer militärischen Laufbahn genau das verhinderten. Die Verurteilung führte zum Verlust ihres Dienstgrades, ihres Status als Veteranin und folglich auch der Abfindung. Lynndie England im Gespräch mit Emma Brookes (Brookes, 2009).

[14] Diese Entwicklung verlief nicht isoliert in der Kunst ab. Das Feld war Teil der Emanzipationsbewegungen seit den 1960er Jahren in allen Bereichen des Lebens. Erforscht wurde dieser Bereich allerdings erst etwa zwei Jahrzehnte später in der Soziologie, in der zunächst die Ungleichbehandlung in der Erwerbsarbeit erforscht wurde. Die kulturellen Auswirkungen fanden mit weiterer Verzögerung Beachtung. Hildegard Maria Nickel blickt aus der Zeit der Etablierung dieses Zweigs der Soziologie zurück auf die Anfänge. In: Genderstudien (Hg. von Christina von Braun und Inge Stephan), Stuttgart und Weimar (Metzler) 2000, S. 130-141.

[15] (Honneth, 1988), S. 135

[16] Nach übereinstimmenden Aussagen von England und anderen ließen die Soldaten des Militärgeheimdienstes die Soldaten um Graner ihre Spiele mit den Gefangenen mit der Absicht treiben, diese für die „Verhöre weichzuklopfen“ Der Spiegel berichtete am 10.05.2004 über „einen 53-Seiten-Bericht …, den Generalmajor Antonio Taguba verfasste. Danach vernachlässigten die Offiziere ihre Aufsichtspflicht, und die Militärpolizisten dienten den Verhörern als Büttel – sie sollten die Gefangenen ‚auflockern‘, damit sie ihr Wissen über den Widerstand im Lande leichter ausplauderten.“ http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-30833335.html  (23.08.17)

[17] Zum erneuten Wahlsieg von Donald Trump schrieb Slavoj Zizek bei e-flux über Unterdrückung und auch über die Perversion. Er argumentierte mit Freud, der sagte, dass „bei der Perversion alles Unterdrückte, alle unterdrückten Inhalte in all ihrer Obszönität zum Vorschein (kommt), aber diese Rückkehr des Unterdrückten verstärkt nur die Unterdrückung – und das ist auch der Grund, warum Trumps Obszönitäten nichts Befreiendes haben. Sie verstärken lediglich die soziale Unterdrückung und Mystifizierung. Trumps obszöne Auftritte bringen also die Falschheit seines Populismus zum Ausdruck: Um es mit brutaler Einfachheit auszudrücken: Während er so tut, als kümmere er sich um die einfachen Leute, fördert er das Großkapital.“ (nach #e-flux auf Instagram am 14.11.2024)

[18] Manfred Schneckenburger erwähnte in einer Podiumsdiskussion über den Käfig von Hagebölling, dass ihm sofort die Fotos aus Abu Ghraib von den Augen gestanden hätten, als er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. (Meyer zu Schlochtern, 2019)

Gekratzte Cinematografie – Negativgravuren von Annegret Soltau

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Annegret Soltaus fotografische Reproduktionen manipulierter Negative ermöglichen es, die massenhafte Bildproduktion unserer Zeit aus biologistischer Sicht zu betrachten. Unzählige und permanente Variationen desselben Negativs erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest einige Kopien weiter existieren werden. Kennzeichnend für Soltaus Arbeitsweise ist die Produktion von Hybriden, die weder eindeutige Unikate noch nummerierte Multiples sind. Erst wenn sie auf einem einzigen Tableau kombiniert werden, nähern sie sich einem Original an. Diese innovative Methode, fotografische Bilder durch manuelle Eingriffe zu modifizieren und in der Summe zu einem Original zusammenzufügen, wurde von der fortschrittsblinden Fachöffentlichkeit unbemerkt durchgewunken und findet erst seit etwa zehn Jahren zunehmende Beachtung. Das war möglich, weil Soltau durch Verlangsamung und die Verwendung von Arbeitsmethoden aus der Druckgrafik das Potenzial der Fotografie völlig überraschend verschoben hat. Damit schuf sie einen Beitrag zur Postfotografie, ehe dieser Begriff in die Theorie der Fotografie einging.
Auf noch nicht gesehene Weise erforschte sie einzelne Fotos von Bewegungen und Gesten durch manuelle Manipulationen, die es ermöglichten, besondere Momente zu entdecken und auszuarbeiten, wobei sie nicht vor grotesken und parodistischen Resultaten zurückschreckte. In den horizontalen, vertikalen und diagonalen Sequenzen kann man abstrakten Farbverläufen von Grauwerten folgen, aber auch Sequenzen identifizieren, die filmische Qualitäten haben. Dabei ist herauszustellen, dass die verwendeten Negative Ergebnisse autobiografischer Fotoperformances sind. Die bei der Aktion gegebene Nähe von Subjekt und Objekt konnte durch die aufwändigen Prozsesse der Gravur der Negative vertieft werden. Hierin trafen die Utopien, Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Sorgen eines fotografischen Moments mit ihrer damaligen Umbruchsituation zusammen, in der Künstlerinsein, Schwangerschaften, Kindererziehung und Existenzsicherung bewältigt werden mussten. Die Nadel auf dem Negativ fokussierte diese Situation wie ein Brennglas das Licht. Um die Bandbreite eigener Erfahrungen zu erforschen und grafisch zu objektivieren, verbrachte Soltau ganze Nächte an ihrem Arbeitstisch, In solchen Marathon-Sitzungen entstanden mit den Fototableaus Bildobjekte von ungeahnter Kraft und außergewöhnlicher Schönheit .
(c) Johannes Lothar Schröder

https://www.instagram.com/p/CKUJebOo9vg/?utm_source=ig_web_copy_link

Ausst: Annegret Soltau, Körpersprache, bis 20. März 2021, https://galerie-beckers.com/exhibitions/

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch ABHÄNGEN von Johannes Lothar Schröder über Dieter Rühmann, Annegret Soltau und Boris Nieslony. Es erscheint 2021 im ConferencePoint Verlag, Hamburg

SCRATCHED CINEMATOGRAHPHY by Annegret Soltau

Soltaus’s photographic reproductions of manipulated negatives make it possible to consider the massive increase of image production of our time from a biologistic point of view. The innumerable and permanent variation of the same negative increases the likelihood that at least some copies will continue to exist. Apparently casually, neither the unique pieces preferred by the market were created, nor numbered multiples were issued, but hybrids were produced to combine them to a unique image on a single tableau. This innovative method of modifying photographic images by manual intervention and assembling them into an original has been waved through unnoticed by the professional public. Meanwhile Soltau exploited the potential of a photograph in a completely surprising way and has created a contribution to post-photography before post-photography and has even gone beyond it. In a way not yet seen, she has explored individual photos of movements and gestures and extended the moments to be identified in them not shying away from grotesque and parodistic ways of doing so. In the horizontal, vertical, and diagonal sequences, one can follow abstract gradients of gray values but also identify sequences, that contained cinematic qualities.
Therefore, it is important to emphasize once again that the negatives used are not arbitrary photos, but those of an autobiographical performance in front of the camera. That is why Soltau was able to evoke the utopias, desires, hopes, fears, and worries contained in a photographic moment. To bring it into an appearance she spent marathon sessions at her worktable mostly at night. With the needle on individual selected negatives, Soltau has fought against the ever-faster production and marketing of the new, composing images of unimagined power and beauty.

(c) Johannes Lothar Schröder
The English translation was assisted by Microsoft® Translator

Eine Performance in Zeiten der Epidemie fotografieren

Am 30. Mai 2020 lud Ilka Theurich zur atelier:performance #27 von Sigtryggur Berg Sigmarsson in ihr Studio in Hannover ein.

Coronabedingt finden alle Veranstaltungen dieser Serie 1:1 mit nur einem Zuschauer statt und dieses Mal fiel die Wahl auf mich. Ich wählte die Fotografie mit einer digitalen Spiegelreflexkamera zur Dokumentation. Als Objektive verwendete ich ein Weitwinkel- und ein Telezoom (24-80 mm und 100-240 mm) von Zuiko.

Mit Sigtryggur traf ich einen Zeichner und experimentellen Musiker, von dem ich bisher nur you-tube-Videos gesehen hatte. In den ersten zwei Teilen des Programms mit ghostriders und das ist keine Musik begegnete mir ein bis zur Ekstase singender und in der Art eines Dirigenten agierender Mann. Dass er nicht auf einer Bühne stand, sondern wir uns auf einer Ebene – auf dem Estrich eines Studios – begegneten, ließ nie das Gefühl von Musiktheater aufkommen. Ich spürte also nicht den Druck eine Kluft wie z.B. die zwischen Bühne und Zuschauerbereich überbrücken zu müssen. Dafür musste ich teilweise auf die Knie, um die Kamera in die Körpermitte des Performers zu bringen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Vor mir agierte ein bildender Künstler seine ganz eigene Faszination an den darstellenden Künsten aus. Sie erlaubte ihm, die Exaltiertheit von Stimmen und Gesten frei zu interpretieren. Das war nicht der Alltag von Bühnenkünstlern, sondern Sigtryggur Berg Sigmarsson. Ich hatte ihn hier in dieser besonderen Situation als ein Modell im Studio vor der Kamera und konnte die Spannung zwischen der Bühnen- und Studiosituation nutzen, um seine Interpretationen der verschiedenen Genre durch Übersteigerung von Gesten und Körpersprache bis hin zur Parodie besser zu verstehen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Nachdem ich mich auf Raum, Licht und Performer eingestellt hatte, und ich mich ganz der Aktion zuwenden konnte, lief die Arbeit trancehaft ab. Vielleicht verbrachten wir zwischen einer und zwei Stunden zusammen. (Fünf Wochen später habe ich schon mindestens doppelt so viel Zeit mit den Fotos verbracht und muss dringend schriftlich die Unmittelbarkeit des Life-Erlebens niederlegen, ehe die Standbilder das Geschehen auf eine Auswahl von Momenten zuspitzen.)

Sigmarsson, the important little man, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Im zweiten Teil der Session präsentierte Sigtryggur einen Stapel Pastellzeichnungen und gab sich als Darsteller verschiedener Kunstvermittler zu erkennen, indem er sich der für Künstler oft unangenehmen Aufgabe stellte, einem Publikum zu erklären, um was es auf den Bildern geht oder wer oder was dargestellt sein soll. Mit wenigen Worten wurde Blatt für Blatt und Motiv für Motiv einzeln vom Stapel genommen und charakterisiert. Ich könnte jetzt keine Details der Beschreibungen, Benennungen und Interpretationen mehr nennen. Ich sah vielmehr neben den farbigen Pastellzeichnungen, aus deren Strichgewirr sich Gesichter mit Attributen herausschälten, jeweils neben den Gesten und den Mimiken der Vermittlung. Blick, Objektiv und Gedanken blieben an den Rollen hängen, die ich dort mit jedem Blatt in leichten Varianten kurz aufscheinen sah. Ich jagte ihnen im Sportfotomodus der Kamera nach. Dabei konnte ich unter all den verschiedenen gemimten und mit Gesten angereicherten Charakteren – die Performance hieß the important little man – augenzwinkernde Künstler, charmante Museumsführer, gerissene Verkäufer, gefällige Kunstsachverständige, joviale Galeristen oder zynischen Wissenschaftler und andere Vermittlerfiguren entdecken. 

@johnicon

Dokumentation auf: https://atelierperformance.blogspot.com/2020/06/atelierperformance-27-sigtryggur-berg.html

Weitere Fotos auf Instagram: @studio.ilka.theurich und @sigtryggurberg (9.Juni)