Kondensstreifen

Spuren im Archiv

Re.act.feminism#2 lud am 9. Juli 2013 dazu ein, über „Performing the Archive“ zu diskutieren. Bettina Knaup und Beatrice E. Stammer organisierten die zweite europaweite Reise des Archivs, das vom 22. Juni bis 18. August in der Berliner Akademie der Künste am Hanseatenweg 10 gastiert. Pascale Grau stellte das von 2007 – 2012 von drei Schweizer Künstlerinnen verantwortete Projekt „archiv performativ“ vor. Außerdem berichtete Barbara Büscher über das DFG-Forschungsprojekt „Verzeichnungen“ an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Mit ihrer Recherche über den „#duranadam“, den „standing man“ auf dem Istanbuler Taksim-Platz, begründete Jasmin Ihraç den Nutzen eines Archivs und seiner nach Schlagworten geordneten online verfügbaren Informationen exemplarisch. Franz Anton Cramer untersuchte die Video-Dokumentation der nun in den USA lebenden ungarischen Künstlerin Orshi Drozdik. Weitere Informationen ausblendend analysierte er das Schwarz-Weiß-Video phänomenologisch deskriptiv, um zu zeigen, wie eine Live-Performance im Archiv zu einem Schatten ihrer selbst werden kann. Diese Methode machte die Dokumentation der Performance „I try to be transparent“ (1980) zur Metapher für die Spur einer Performance im Archiv: sich auflösend wie ein Kondensstreifen.

Verfügbarkeit und Transparenz

Während Ihraç zeigte, wie aus einem Archiv über Tags mögliche Vorbilder und ähnliche Performances aufgefunden werden können, um historische Spuren von aktuellen Formen des Protestes zu erkennen, so ging Cramer dem Verschwinden des Lebens in einem Artefakt nach, in dem eine einzelne Künstlerin zu einer abstrakten Pixelfläche wird. Beider Äußerungen polarisieren und provozierten damit die grundsätzlichen Fragen nach der körperlichen Manifestation. Schreibt sich die Bewegung allein durch die physischen Aspekte der Erziehung, also durch Nachahmung und Training in jedes Individuum ein, oder trägt auch die Sammlung von Artefakten dazu bei, dass Menschen auf bestimmte Prototypen oder spezielle Formen des Handelns und der Darstellung zurückgreifen können?

Im Archiv; Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst-Bonn

Im Archiv; Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst-Bonn

Neben dem visuellen Dokument, dem Künstlernamen oder dem Titel von Performances finden sich in manchen Archiven und Publikationen auch Beschreibungen von Performances. Wie Pascal Grau herausstellte, rief diese bei ihren Erhebungen über den Nutzen verschiedenartiger Quellen in Archiven die positivsten Rückmeldungen hervor. Ihr Hinweis betonte, wie wichtig es ist, einen historischen Sachverhalt gedanklich zu durchdringen, damit er für weitere Forschungen zur Verfügung stehen kann.

Widerstand und Archiv

Die Darstellung des Archivs als ein Ort der Ordnung, der Ablagerung, des Auffindens von Geschichte und seine Unzulänglichkeiten provozierten eine Diskussion über die Geste des passiven Widerstands und den Nutzen des Archivs. Wie steht es mit seinem Verhältnis zur Aktualität? Wie steht es mit seiner Wirksamkeit im Zuge einer sich zuspitzenden politischen Auseinandersetzung? Und welche Bedeutung hat eine Quellensammlung, wenn es darum geht, sich die performativen Gesten und Handlungen der Menschheit anzueignen? Ist es nicht so, dass neben der Beschreibung von Handlungen und Ereignissen in Wort und Bild gerade die körperlich verfügbaren Gesten, Haltungen und Handlungen von Performern ein Potential darstellen, aus dem Menschen unmittelbar schöpfen, wenn sie unter Druck stehen. Im Fall der Katastrophe, wenn das Archiv unerreichbar ist, kann nur über das geistige und kulturelle „Gepäck“ verfügt werden, das internalisiert worden ist.

Insofern muss die Frage offen bleiben, wie sich der Austausch von Wissen um Formen des Widerstands ereignet. Welche Rolle spielen Archive und ihre Aktualisierung durch akademische Forschung? Inwiefern tragen diese dazu bei, wie und ob sich das Handlungspotential oder Handlungsspektrum mit dem biologischen oder soziobiologischen Gedächtnis von Körpern verschränkt und durch körpersprachliche Kommunikation weiter entwickelt?

Links:

Re.act.feminism: http://www.reactfeminism.org/

„archiv performativ“: http://www.zhdk.ch/?archivperformativ

DFG-Forschungsprojekt „Verzeichnungen“: http://www.hmt-leipzig.de/index.php?aid=1832

How to be a dead person of a drama?

On Georgia Sagri’s Antigone Model (3rd Edition)
Ongoing since 2010, July  4th, 2013, 15-21h, 3 ½ Kunstwerke, Berlin, Auguststraße 69

Georgia Sagris Antigone was a horse, a carriage-driver, a model on the cat-walk, she was sad, lame and laughing, also suffering and shaking, she became a siren, a porter, a messenger and a lover. She was beaten-down and she stood up; she died and rose again. She was also none of this at the edge of narcissism and forgetfulness. The intensity even increased during 6 hours, when sequences of every movement and image were repeated up to about 20 times. And there was no sign of fatigue. The performer’s talent for humor, show, playfulness, facial expression and body-language opened space and space of lives and fates.

A re-recording of the chorus of the ancient drama

Sagri sequenced the piece by returning to her electronic device to record her voice, clapping and stepping. Then she started again using dance, show, play and facial expression. And she found ways to bind together all aspects of her research on Antigone by her space-filling voice and sounds. She laughed, groaned, whinnied, cried and accompanied herself by the rhythm of her steps, clapping her hands on her body and moving the black-varnished iron elements of the installation, which she carried, to control the extension of the space in the space. Realizing the story of Antigone the threefold elements might also have personified Polyneikes and the members of Kreon’s family. However Sagri personified the dead in her performance in a way that the objects and she herself expressed a general idea of death – and life.

Georgia Sagri: Antigone Model,photograph: Johnicon; courtesy of the artist, Lars Friedrich and Melas Papadopoulos

Georgia Sagri: Antigone Model,photograph: Johnicon; courtesy of the artist, Lars Friedrich and Melas Papadopoulos

The sounds amplified the physical expressions. Extended by recorded passages of former sequences of the performance on a laptop, to which she returned frequently, single episodes became separated. As recorded and live sounds were often hard to distinguish actually past moments returned by the feedback she used. This dialogue between past and presence served as an entire element of the whole performance and connected the live event to the underworld. Thus the essence of Antigone’s motive to bury Polyneikes was actualized. Sagri’s minimal use of electronic equipment also simulated the chorus of the ancient drama in the sense that it became the accumulated choir of the dead. This created the impression of a meta-communication between the actual performance and the moments which have gone.

Eine Neueinsetzung des antiken Dramas

Georgia Sagri, Antigone Model (3rd Edition), Ongoing since 2010
Performance am 4. Juli 2013, 15-21h, 3 ½ Kunstwerke, Berlin, Auguststraße 69

Sagris Antigone war ein Pferd, eine Wagenlenkerin, ein Model auf dem Laufsteg, eine Trauende, eine Lachende, eine Leidende, eine Erschütterte, eine Gelähmte, eine Sirene, eine Trägerin, eine Botin, eine Liebende, eine Niedergeschlagene, eine Tote, eine Aufstehende, eine sich Erhebende, eine Darstellerin, aber auch – als zeitgenössische Performerin – nichts von alledem. Diesen ‚Parcours‘ aus Innen und Außen durchschritt sie zigmal während ihrer sechs Stunden langen Performance. Sie war die Ausdauernde: Mit Humor und Disziplin beschritt sie die Grenze zwischen Selbstverlorenheit und Selbstverliebtheit. So entfaltete sich eine Kraft aus Strenge und Lockerheit, welche die vielen Sequenzen bis zum Schluss bei steigender Intensität variierte. Dabei setzte die in New York lebende griechische Künstlerin Tanz, Show, Spiel, Mimik, Gestik und vor allem ihre Stimme ein. Lachen, Stöhnen, Ächzen, Wiehern und Weinen steigerten mit dem Rhythmus ihrer Schritte die Wirkung ihrer Performance bis zum Schluss.

Johnicon: Georgia Sagri, 4. Juli 2013, VG-Bild-Kunst, Bonn

Johnicon: Georgia Sagri, 4. Juli 2013, VG-Bild-Kunst, Bonn

Der Chorus aus dem Laptop

Die einzelnen Episoden gliederte sie durch regelmäßige Schleifen in dem 200 qm großen Ausstellungsraum der Kunstwerke, nach denen sie jedes Mal an ihren Laptop zurückkehrte, um aktuelle Klangsequenzen aufzunehmen oder zuvor gespeicherte einzuspielen. Auf diese Weise traten vorherige stimmliche und klangliche Äußerungen mit aktuellen in einen Dialog oder ergänzten sich chorisch. Oft verschmolz dabei Aufgezeichnetes und Aktuelles, so dass es schien, als würde der Chor des antiken Dramas hervortönen. Wenn man sich auf den Titel dieses Stücks besann, so konnte man glauben, die dem Untergang geweihten Gestalten der Tragödie von Sophokles hätten ihre Stimmen auf einer Festplatte hinterlassen. Es schien jedenfalls, als würden mit dem minimalen Einsatz elektronischer Mittel die Stimmen der Antigone aus dem Orkus gerufen, die Polyneikes gegen das Verbot Kreons bestatten wollte, um dort mit ihm wieder vereint zu sein. (Nach dem griechischen Glauben konnte nur bestattete Tote in den Orkus gelangen.) Ob live oder aus dem Off, es waren die Stimmen, die das Stück zu einem Ganzen banden und ihm eine Spannung gaben. Konserven würden diese Aktualisierung von verschiedenen Zeiten und Orten unter den Fußspitzen der Performerin löschen. Deshalb wird an dieser Stelle nur eine Skizze gezeigt, die ich als Rezensent nach der Performance aus dem Gedächtnis anfertigte. Sagri hat ein so ausdrucksvolles Gesicht wie eine Stimme und einen Körper, welche ihre Erscheinung von einem Augenblick zum nächsten wechselten.

Phasen der Ruhe zwischen einzelnen Bewegungssequenzen ermöglichten kaum eine Regeneration; denn es wurden jeweils Einstellungen der Sounds und ihre Positionierungen innerhalb des Raums vorgenommen. Die Wiederholung in Varianten bewirkte eine Einprägung bis hin zur Einfühlung. Noch Tage später echoten die Stimme, das Lachen, das Wiehern und die Bewegungen. Kurz gesagt: Diese Performance vereinte viele der Ansprüche, die heute von interdisziplinärer Arbeit gefordert wird, wobei dennoch der Körper als Instrument der Aktion und als Quelle des Sounds durchgehend präsent war und starke Suggestionen bewirkte.