100 Jahre Cabaret Voltaire
(find an english text with the following illustrations and in the contribution on Hugo Ball from June 2016)
Wegen großer Nachfrage hatte das Künstlerlokal Cabaret Voltaire seit Freitag vor 100 Jahren täglich außer freitags geöffnet. Doch Vorsicht die Marke „DADA“ ließ sich die Parfümerie- und Seifenfabrik Bergmann & Co. schon 1906 beim Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum schützen. Wo also schlug die Geburtsstunde von DADA wirklich? Man weiß es nicht genau und deshalb hat man sie auf ein Datum gelegt, das die Entrepreneurship des Ereignisses feiert: Die Gründung einer Künstlerkneipe. Das versteht jeder, denn heute ist es nicht anders, wenn Emigranten nach einer Existenzmöglichkeit suchen. Man macht ein Lokal auf, und hofft mit Gastfreundschaft zu punkten. Und für die Emigranten selbst war es damals wichtig sich auszutauschen. Das gilt selbst heute, wo die sozialen Medien dieses leisten. Doch schenkt ein Smartphone an kalten Tagen kein Heißgetränk aus und selbst in Zeiten des WWW bringt es oft mehr, sich persönlich kennenzulernen, wenn man weiter kommen will.
Wie nichtssagend der 5. Februar ist, sieht man auch daran, dass es für dieses Datum keine Ikone gibt. Deshalb leiht man sich Hugo Ball in seinem Kostüm aus Pappe aus, das er am 23. Juni 1916 beim Vortrag seines Gedichts Karavane trug. Es ist zum Markenzeichen für das Cabaret Voltaire und den Dadaismus geworden. Der Sender ARTE nutzt es, um auf sein Programm am 5. Feb. 2016 aufmerksam zu machen und es sorgt auch als Kostüm beim Karneval im Museum für Aufmerksamkeit, besonders wenn der Hut des „magischen Bischofs“ verlängert wird, so dass die Bedrängnis des damals um sein Überleben kämpfenden fragilen Hugo Ball verschwindet, mit der dieser seinen ganzen Körper wie mit einem Panzer schützt.
Das erste Studiofoto einer Künstlerperformance
Eine Abbildung des Fotos, das Hugo Ball bei der Rezitation von Lautgedichten am 23. Juni 1916 im Cabaret Voltaire zeigt, ist vermutlich das erste fotografische Dokumente einer künstlerischen Performance. Es wird allgemein als ein Foto der Performance von drei Lautgedichten des Gründers und Mitinitiators von DADA in Zürich ausgegeben. So auch in dem Standardwerk von RoseLee Goldberg[1], wo ein Ausschnitt aus dem Originalfoto (aus der Fondation Arp in Clamart) verwendet worden ist, das erst 1989 anlässlich einer Ausstellung zum 100 Geburtstag von Ball[2] veröffentlicht worden ist. Man sieht den Künstler, Dichter und Philosophen in einem Kostüm aus gebogener Pappe stecken, in dem er unter anderem sein Lautgedicht Karawane vortrug. Die Legenden aller konsultierten Schriften behaupteten, es würde ein authentisches Foto abgebildet, das während der Lesung im Cabaret Voltaire aufgenommen worden ist. Auch im Ausstellungskatalog, in dem das unbeschnittene Foto erstmalig abgebildet wird, steht als Bildlegende: „Diese Aufnahme vom 23. Juni 1916 zeigt Hugo Ball beim erstmaligen Vortrag seiner Lautgedichte…“[3] und zitiert aus seiner Tagebucheintragung.[4] Da Ball darin aber von drei Notenständern spricht, auf die er wegen seiner kostümbedingten Unbeweglichkeit und der Handattrappen die Manuskripte mit seinen drei Lautgedichten bereitgelegt hatte, und auf dem Foto nur zwei Notenständer zu sehen sind, kann man hier eine erste Unstimmigkeit bemerken.
Wie eine Ikone entsteht
Um die behauptete Authentizität des Fotos weiter zu prüfen, versetzte man sich einmal in den engen Raum des Künstlercafés Voltaire in Zürich, das während des 1. Weltkriegs ein Treffpunkt rauchender Emigranten war, die hier sowohl ein Wohnzimmer wie auch eine Informationsbörse fanden. In diesem bei einer Sonderveranstaltung, wie an jenem Abend der Dadaisten, prall gefüllten Raum, muss man sich einmal einen Fotografen bei der Arbeit vorstellen, der mit einem damals relativ großen Kamerakasten auf einem sperrigen Dreibein aus Holz einen sicheren Standplatz suchte, um mit einer relativ langen Belichtungszeit sicher fotografieren zu können. Das Foto bildet ja viele Details sehr klar ab. Sogar das Muster eines Teppichs unter Balls Füßen ist deutlich zu erkennen. Man sollte sich angesichts des Fotos auch daher erinnern, dass die sicher nicht technikfeindlichen Futuristen nur relativ verwaschene Fotos und sehr körnige Filmstills von ihren Aktionen hinterlassen haben und z.B. Umberto Boccioni es vorzog, die Bühnensituation während der ersten futuristischen serate 1911 zu zeichnen, um das Geschehens zu überliefern. Im Gegensatz zu den nur schemenhaften Darstellungen von einzelnen Personen und Mustern auf dem Filmmaterial gibt die Zeichnung in ihrer karikaturhaften Pointierung, ein genaues Bild dieser turbulenten Abende. Man identifiziert nicht nur einzelne Akteure auf der Bühne, sondern erkennt auch die Reaktionen des Publikums, das zahlreiche Gegenstände auf die Bühne herabregnen lässt.
Ein aussagekräftiges Gemälde
Die Maler unter den Dadaisten benutzten ebenfalls traditionelle Mittel, um die Situation im Cabaret Voltaire wiederzugeben. Die überlieferte Schwarz-weiß-Abbildung eines verschollenen Gemäldes von Marcel Janko (siehe Power-Point) gibt das Geschehen auf der relativ schmalen Bühne vor der Außenwand des Cafés wieder. Anhand der Gesichtszüge lassen sich die Akteure, darunter Hugo Ball am Klavier hinter Tristan Tzara, der mit vorgestreckten Armen wie ein Traumwandler zum Bühnenrand schreitet, sowie Hans Arp und Richard Huelsenbeck erkennen. Rechts steht Emmi Hennings, Balls Frau. An der Wand hängen einige Masken.
Zum Vergleich nun das Foto, das Ball auf einem Teppich stehend, wiedergibt. (siehe Power Point) Ein solcher Bodenbelag ist nicht nur auf dem Gemälde nicht zu erkennen, sondern würde genau wie der Vorhang, der sich hinter dem Performern unmittelbar vor der Außenwand eines Cafés zuziehen lässt, als Bühnenausstattung hinderlich sein. Auf dem Foto ist der Vorhang zwar geöffnet, doch erkennt man, dass er beim Zuziehen, den vor dem hellen Hintergrund stehenden Ball schneiden würde. Ungewöhnlich für einen Theatervorhang, der vor der Bühne hängen müsste oder einen tiefen Bühnenraum aufteilt. Doch von einer geräumigen Bühne kann man im Cabaret Voltaire nicht sprechen. Nach dem Augenschein, den das Gemälde liefert, ist die Bühne sehr eng und ein Vorhang genauso wie ein Teppich überhaupt nicht vorhanden. Ein Vorhang als Hintergrund ist hingegen für Fotostudios durchaus geläufig und noch heute in den Passbildboxen z.B. in Bahnhöfen anzutreffen. Da es damals üblich war, auch Möbel z.B. für Familienfotos zu platzieren, macht ein Teppich beim Fotografen durchaus Sinn.
Die auf dem Foto identifizierbaren Details deuten darauf hin, dass es aus einem Fotostudio stammt. Insofern hätte Ball die Aktion nachgestellt, um ein aussagekräftiges Foto zu erhalten. Diese Entscheidung stellt Balls Medienbewusstsein unter Beweis, denn die Überlieferung seiner Aktion hatte er nicht einem wackeligen Schnappschuss überlassen. Ein professionell gemachtes Foto in hoher Qualität sorgte vielmehr dafür, dass seine einmalige Performance, für die er sogar das Kostüm eines „Magischen Bischofs“ angefertigt hatte, visuell überliefert werden konnte und heute die Dada-Ikone ist. Dass mehreren Generationen von Forschern diese Tatsache bisher entgangen ist, spricht für ein naives Authentizitätsbewusstsein, das in der Fotogeschichte schon längst überwunden ist.
Von hier ausgehend lässt sich nur sagen, dass in der Überlieferung von Performance-Art nur weniges authentisch ist oder für authentisch genommen werden kann, bloß weil es durch ein Medium belegt ist. Das gilt nicht nur für Fotografie sondern sinngemäß auch für Video etc. Das Bemerkenswerte ist aber, dass sich ein Gemälde, wie hier das von Marcel Janco in vielen Details als aufschlussreicher erweist als Fotografien dieser Zeit. Janco gelang es, lange vor der Verfügbarkeit von Weitwinkelobjektiven und Panoramafotografie den engen Raum in seiner Charakteristik mit Plakaten, Masken und typographischen Elemente an den Wänden so detailreich und lebendig zu erfassen, dass in Ermangelung des verschollenen Originals noch die Reproduktion aussagekräftig genug bleibt.
© Johannes Lothar Schröder, VG-Wort, Bonn 2016
[1] Goldberg, RoseLee: Performance. Live Art 1909 to the Present, London 1979, S. 40
[2] Hugo Ball (1886 – 1986) Leben und Werk, Ausstellungskatalog, Pirmasens, München und Zürich 1986, S. 148
[3] ebd.
[4] Flucht aus der Zeit, Zürich 1992, S. 105