Ein „Anschlag auf die Wirklichkeit“

„Mein Bücherregal ermahnt mich, in meinen Träumen regelmäßig,
 dass es viel zu viel von diesem Alkohol tragen müsse.“
Dan Thy Nguyen, in: Die Archäologie meines Unwissens, meines
Sterbens und meiner Liebe,
 in: Buch Handlung Welt. Bücher, Hamburg 2023, S. 84f

Zur Ausstellung „Das Gespenst in der Kurve“ Hilka Nordhausen
in der Hamburger Kunsthalle[1] bis 4. Januar 2026


Hilka Nordhausens Nachlass lag jahrzehntelang in der Obhut ihrer Familie und wurde von Bettina Sefkow verwaltet. Sie publizierte schon 1998 die Geschichte der von der Hamburger Künstlerin gegründeten Buch Handlung Welt. dagegen dabei erschien im Michael Kellner Verlag und machte zugleich eine Reihe von erhellenden Beiträgen zur Geschichte der alternativen Kunstszene in Hamburg zugänglich. Nun, 32 Jahre nach ihrem Tod nahm die Hamburger Kunsthalle den Nachlass der Künstlerin an, die 1993 in Berlin starb. Ihr Werk wird mit der Ausstellung „DAS GESPENST IN DER KURVE“ bis zum 4. Januar 2026 vorgestellt. Interessenten sollten sich nicht dadurch beirren lassen, dass die Kunsthalle es unterlassen hat, die Ausstellung im Flyer Kunst in Hamburg anzukündigen. Folglich hat etwa art-line IV/2025 diese Ausstellung weder in ihrer Ausstellungsübersicht genannt noch rezensiert. Obwohl die Gründe für dieses Versäumnis nicht ermittelt werden konnten, die die Bemühungen der Kuratorinnen der Ausstellung Corinne Diserens und Jana Pfort ins Leere laufen lassen, bleibt doch zu hoffen, dass sich diese Ausstellung über zwei wichtige Jahrzehnte spezieller Entwicklungen der Kunst in Hamburg unter Künstler*innen und Interessierten herumspricht.

Die Distanz überbrücken

Das Versäumnis wirft allerdings Fragen danach auf, warum man noch nicht begriffen hat, dass die Bedingungen für die Kunststudent*innenjahrgänge Anfang der 1970er Jahre besondere waren. Die Museen in Deutschland hatten die großen Lücken, die durch die Kunstbarbarei der Nazis aufgerissen worden waren, zu schließen. Auch hatten sie alle Hände voll zu tun, Künstler wie Joseph Beuys und Dieter Roth zu verstehen, die den Krieg als junge Erwachsene erlebt hatten. Andere wie Max Ernst und Josef Albers kamen nicht aus dem Exil zurück. Die während des Kriegs und danach geborenen Künstler*innen kamen dabei zu kurz, zumal man sich auch noch der, um Jahrzehnte weiterentwickelten, Kunst der ehemaligen Feinde zuzuwenden hatte. Man hatte kein Interesse daran, sich über die besonderen Umstände der künstlerischen Sozialisation dieser jungen Künstlergeneration im Aufbruch Gedanken zu machen, zumal man sich noch daran machen musste, Dada, Neue Sachlichkeit und Bauhaus zu verdauen, während die u.s.-amerikanische Sicht schon Fluxus und Pop Art als Neo-Dada verstand. Sodann ließen sich Großsammler wie Ludwig und Sprengel für ihre Sammlungen Museen bauen. In dieser Situation mussten sich die Absolventen der Hochschulen um 1970 eigene Orte für interdisziplinäre Experimente suchen. In Hamburg spielte zudem der Mangel an Ausstellungsorten eine Rolle und da sich die jungen Künstler*innen auch den damals neuen Reprodukionsmöglichkeiten wie Fotografie, Fotokopie und Offsetdruck mit ihren neuartigen Verbreitungsmöglichkeiten stellten, stießen sie zusätzlich noch auf Ablehnung.[2] Um ihre Postition zu bestimmen, mussten sie selbst dafür sorgen, dass ihr Ansatz theoretisch untermauert werden konnte, weshalb sie sich den neuen Bildsprachen schreibend näherten.

Am Anfang stand das Wort

Buch Handlung Welt hieß der Laden in der Hamburger Marktstraße 12. Sein Name fasste titelgebend die Herangehensweise der Generation Nordhausen zusammen. Am Anfang stand BUCH, weil man nicht nur Bilder – die gab es schon damals genug – sondern Argumente brauchte, um seine Position zu begründen. Dabei ging es nicht einmal mehr nur um Theorie und Kunstgeschichte. Wie schon die Surrealisten, von denen man damals zeitlich so weit entfernt war, wie wir heute von den legendären Ausstellungseröffnungen für die jeweils neueste Wandmalerei, benötigte man neben der Theorie auch Poesie und Prosa, um sich in einer Welt zurecht zu finden, die damals von der Kriegsgeneration beherrscht wurde. Die in der Nachkriegszeit geborenen Künstler*innen hatten andere Ambitionen. Auch weil sie „nur“ sekundär traumatisiert waren, richteten sie ihre Kunst- und Wunschproduktion anders aus.

Selbst handeln und performen

HANDLUNG in der Mitte des Namens war folglich ein bedeutender Schlüssel zum Verständnis der Lage der bildenden Künstler in den 1970er Jahren. Fand bis dahin Life Art in den Ländern der Sieger Entfaltungsmöglichkeiten vor, weil es dort aufgrund der exilierten Künstler aus Europa Szenen gab, die das Erbe der Avantgarde z.B. in die USA getragen hatten.[3] Im deutschsprachigen Raum, wo die Protagonisten des Neuen vertrieben und verfolgt worden waren, stießen junge Künstler noch lange auf Skepsis oder Ablehnung und wurden schlimmstenfalls sogar bekämpft. Die in Wien verurteilen Aktionskünstler zogen ins Exil nach Berlin, um der Einkerkerung in ihrem Heimatland zu entgehen.[4]

Um selbstbestimmt experimentieren zu können, war es notwendig, sich Freiräume zu schaffen. In der Buch Handlung Welt konnten monatlich neue, übereinander an die Wand gemalte, geritzte, gezeichnete oder geklebte Bilder entstehen. Sollten sie noch grob von Konventionen beeinflusst worden sein, konnte dieser Vorwurf spätestens mit ihrem Verschwinden, das sie dem Markt für immer entzog, nicht mehr erhoben werden.

Hilka Nordhausen, Ohne Titel (Krokodil), Wandinstallation aus Kartonagen, Ausstellungsansicht in der Ausstellung „Das Gespenst in der Kurve“, Foto: Bettina Sefkow, (2025)

Eigene Arbeiten von Nordhausen gingen noch einen Schritt weiter und verzichteten, bis auf wenige Farbspuren, Buchstaben und zeichnerische Spuren, auf Malmaterialien und -werkzeuge. Zwei ihrer in der Kunsthalle ausgestellten Wandarbeiten bestehen aus entfalteten und aneinandergefügten Kartonagen. Nordhausen huldigte der damaligen Warenästhetik, die gängige Logos auf Verpackungen verbreitete, die mittels Flexodrucks auf ungebleichter Pappe multipliziert wurden. Es fällt auf, dass ihre Wahl Schnapskartons bevorzugte. Sie erinnern an den in den 1970er Jahren florierenden Alkoholkonsum, der gemessen am heutigen Prokopfverbrauch, vor 50 Jahren 50% höher war. (1980 wurde ein Höchstwert von 15,1 ltr. erreicht, der auf ca. 10 ltr. pro Kopf für jeden über 15-Jährigen bis 2020 gesunken ist). Auch damals beliebte Zeitschriften und Magazine hat sich Nordhausen angeeignet, um sie Seite für Seite zu übermalen und so in dunkle und gewellte Schichtobjekte zu verwandeln.

Blick in die Vitrine mit von Nordhausen übermalten stern – Magazinen aus den Jahren von 1980 – 1985

Exzessives Rauchen und Trinken bestimmten die Geselligkeit der Nachkriegsjahrzehnte. Dabei tobten die Traumatisierten des Zweiten Weltkriegs Erinnerungen an Schrecken und Grausamkeiten aus und teilten Unausgesprochenes situativ und rituell mit. Heute kann man das als eine selbstverordnete Traumatherapie sehen, die erst Jahrzehnte später begriffen wurde, als die ehemaligen Soldaten, Flakhelfer und Bombardierten mit schweren Depressionen in der Psychiatrie behandelt werden mussten. Hatten sie sich in Zeiten des Wirtschaftswunders an ihren Arbeitsplätzen betäubt mit Alkohol und Tabletten in den Kampf um ein wachsendes Einkommen für Auto, Haus und Urlaub geworfen, waren sie als Rentner schlagartig mit ihrer Einsamkeit und Vergangenheit konfrontiert. Dann erst, nachdem die Katastrophe längst eingetreten war, erkannten die behandelnden Ärzte die Probleme.

In dieser spukhaften Umgebung der unterdrückten Ängste sehnten sich die Jüngeren danach, die WELT frei von der Hypothek ihrer Eltern zu entdecken. Wer nicht zu denen gehörte, die Familienurlaube jenseits der Alpen bei den ehemaligen Verbündeten verbrachten, trampte in die Nachbarländer, nach Griechenland oder war mangels Geld auf Phantasiereisen mittels Kunst, Musik und Literatur angewiesen. Pop Musik, Rock&Roll und Punk aus England und den USA bestimmten das Lebensgefühl dieser Zeit. Entsprechend waren die Regale der Marktstraße 12 mit amerikanischer Literatur von Emily Dickinson, den Beat Poets sowie Paperbacks und Magazinen aus dem Underground bestückt. Wer in Hamburg hängen blieb, konnte hier auch im Sommer Kunstkataloge, Raubdrucke französischer Philosophen ohne Kaufzwang lesen und diskutieren.

Hinaus in die Welt

In dieser Zeit war auch der Hang zu Sekten verbreitet. In der Buch Handlung Welt konnten diejenigen, die einen Aufenthalt in Poona nicht anstrebten, ihre Asiensehnsucht bei Blättern im Bildband von „LADAK“ stillen, der einem noch heute auf den Fotos der Bücherregale ins Auge springt. Der Wunsch, das „Dach der Welt“ zu erklimmen, war groß, wenn auch in der Marktstraße Esoterisches eine untergeordnete Rolle spielte. Hilka Nordhausen kannte allerdings auch Karawanenwege. In einer der Vitrinen der Ausstellung in der Kunsthalle liegt das Buch „Melonen für Bagdad“ mit dazugehörigen Objekten, darunter nachgeformte Kultmasken, Camel-Zigaretten-Reklame und aus zerknülltem Papier geknetete Kamele, die im Lauf der Jahre durch Vergilbung eine kamelhaarne Farbe angenommen haben. Aus dieser Sicht wird klar, warum Nordhausen ihr Projekt als „Anschlag auf die Wirklichkeit“ bezeichnete. Tatsächlich war es der Widerstand gegen die mit dem Wohlstand umsichgreifende Spießigkeit, die auch das Reisen erfasst hatte und gegen die sich damals eine Gegenkultur mit Drogen, Tunix und Punk formiert hatte. Was in Hamburg von dem „Anschlag auf die Wirklichkeit“ blieb, kann man durchaus als das Erbe von Nordhausen begreifen, deren Initiative eine bis heute in der Hansestadt blühenden Kultur der von Künstler*innen geführten Projekträume begründete.

© Johannes Lothar Schröder

[1] Der Text ist weiter gefasst, als es für eine Rezension üblich ist, weil trotz der Ausstellung hinsichtlich des Status der Künstlerin und der interdisziplinären Bedeutung ihres Wirkens Klärungsbedarf besteht.

[2] Über die Situation in Hamburg bis in die 1990er Jahre vgl. J. L. Schröder, abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen, Hamburg 2022, S. 122 – 124

[3] Als wichtiges Beispiel ist das Black Mountain College zu nennen, das ein Ort der Lehre und des Experiments für schutzsuchende Künstler wie Josef und Anni Albers sowie Xanti Schawinski wurde, an dem folgerichtig 1952 ein Protohappening stattfand. Ausstellung BLACK MOUNTAIN – ein interdisziplinäres experiment. 1933-1957, Hamburger Bahnhof, Berlin, Katalog, Spector Books, Leipzig 2015

[4] 1969 flüchtete Günter Brus mit seiner Familie nach Berlin, wo er mit Gerhard Rühm (einer der Lehrer von Nordhausen an der HfBK) und Oswald Wiener die „Österreichische Exilregierung“ gründete.

Eine Performance in Zeiten der Epidemie fotografieren

Am 30. Mai 2020 lud Ilka Theurich zur atelier:performance #27 von Sigtryggur Berg Sigmarsson in ihr Studio in Hannover ein.

Coronabedingt finden alle Veranstaltungen dieser Serie 1:1 mit nur einem Zuschauer statt und dieses Mal fiel die Wahl auf mich. Ich wählte die Fotografie mit einer digitalen Spiegelreflexkamera zur Dokumentation. Als Objektive verwendete ich ein Weitwinkel- und ein Telezoom (24-80 mm und 100-240 mm) von Zuiko.

Mit Sigtryggur traf ich einen Zeichner und experimentellen Musiker, von dem ich bisher nur you-tube-Videos gesehen hatte. In den ersten zwei Teilen des Programms mit ghostriders und das ist keine Musik begegnete mir ein bis zur Ekstase singender und in der Art eines Dirigenten agierender Mann. Dass er nicht auf einer Bühne stand, sondern wir uns auf einer Ebene – auf dem Estrich eines Studios – begegneten, ließ nie das Gefühl von Musiktheater aufkommen. Ich spürte also nicht den Druck eine Kluft wie z.B. die zwischen Bühne und Zuschauerbereich überbrücken zu müssen. Dafür musste ich teilweise auf die Knie, um die Kamera in die Körpermitte des Performers zu bringen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Vor mir agierte ein bildender Künstler seine ganz eigene Faszination an den darstellenden Künsten aus. Sie erlaubte ihm, die Exaltiertheit von Stimmen und Gesten frei zu interpretieren. Das war nicht der Alltag von Bühnenkünstlern, sondern Sigtryggur Berg Sigmarsson. Ich hatte ihn hier in dieser besonderen Situation als ein Modell im Studio vor der Kamera und konnte die Spannung zwischen der Bühnen- und Studiosituation nutzen, um seine Interpretationen der verschiedenen Genre durch Übersteigerung von Gesten und Körpersprache bis hin zur Parodie besser zu verstehen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Nachdem ich mich auf Raum, Licht und Performer eingestellt hatte, und ich mich ganz der Aktion zuwenden konnte, lief die Arbeit trancehaft ab. Vielleicht verbrachten wir zwischen einer und zwei Stunden zusammen. (Fünf Wochen später habe ich schon mindestens doppelt so viel Zeit mit den Fotos verbracht und muss dringend schriftlich die Unmittelbarkeit des Life-Erlebens niederlegen, ehe die Standbilder das Geschehen auf eine Auswahl von Momenten zuspitzen.)

Sigmarsson, the important little man, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Im zweiten Teil der Session präsentierte Sigtryggur einen Stapel Pastellzeichnungen und gab sich als Darsteller verschiedener Kunstvermittler zu erkennen, indem er sich der für Künstler oft unangenehmen Aufgabe stellte, einem Publikum zu erklären, um was es auf den Bildern geht oder wer oder was dargestellt sein soll. Mit wenigen Worten wurde Blatt für Blatt und Motiv für Motiv einzeln vom Stapel genommen und charakterisiert. Ich könnte jetzt keine Details der Beschreibungen, Benennungen und Interpretationen mehr nennen. Ich sah vielmehr neben den farbigen Pastellzeichnungen, aus deren Strichgewirr sich Gesichter mit Attributen herausschälten, jeweils neben den Gesten und den Mimiken der Vermittlung. Blick, Objektiv und Gedanken blieben an den Rollen hängen, die ich dort mit jedem Blatt in leichten Varianten kurz aufscheinen sah. Ich jagte ihnen im Sportfotomodus der Kamera nach. Dabei konnte ich unter all den verschiedenen gemimten und mit Gesten angereicherten Charakteren – die Performance hieß the important little man – augenzwinkernde Künstler, charmante Museumsführer, gerissene Verkäufer, gefällige Kunstsachverständige, joviale Galeristen oder zynischen Wissenschaftler und andere Vermittlerfiguren entdecken. 

@johnicon

Dokumentation auf: https://atelierperformance.blogspot.com/2020/06/atelierperformance-27-sigtryggur-berg.html

Weitere Fotos auf Instagram: @studio.ilka.theurich und @sigtryggurberg (9.Juni)

Zeitschwünge – Zeiten – Flügel

Über TIMESWINGS von Rasmus Gerlach

Einen Dokumentarfilm über Hanne Darboven zu drehen war für Rasmus Gerlach nicht ganz einfach, denn im Jahr ihres 75sten Geburtstags war die Künstlerin schon 7 Jahre tot. Gedreht wurde in ihrem Studio und in den Ausstellungen, mit denen man die Künstlerin 2015/16 im Haus der Kunst in München und in der Bundeskunsthalle in Bonn würdigte. Darüber hinaus konnte Gerlach an eigene Begegnungen anknüpfen, denn er durfte als Schüler bei der Einrichtung einer Ausstellung von Darboven im Kunstraum Bremerhaven mitwirken. Das war eine lebensentscheidende Erfahrung, die ihn später dazu bewog, Film zu studieren.

„Vier Jahreszeiten – Der Mond ist aufgegangen“ (1981/82)
Opus 7 und 16mm-Film von Hanne Darboven

An der Kunsthochschule in Hamburg traf Gerlach Darboven wieder, als er ihren damals neuen Film „Vier Jahreszeiten – Der Mond ist aufgegangen“ (1981/82) abspielte, der nun am 5.1.2017 im Doublefeature mit TIMESWINGS im Hamburger Metropolis-Kino abermals aufgeführt wurde. Der damalige Filmriss ist bis heute sichtbar geblieben, weil er mit einem Stück Schwarzfilm geflickt worden war. Der 16mm-Film von Darboven fügt Aufnahmen aus Hamburg-Harburg von trostlosen Nachkriegsbauten für Industriearbeiter mit Impressionen von der lokalen Kirmes zum Schützenfest, Landschaftaufnahmen vom jüdischen Friedhof und Innenaufnahmen aus dem Bauernhaus der Darbovens zusammen. Aus den dort gesammelten Objekten ragen überlebensgroßen Figuren – Pferd, Saurier, Engel und Roboter hervor. Sie sind umgeben von klassischen Büsten, Kinderspielzeug, Andenken aller Art, einen Bismarck in Bronze und Nippes. Überall in Regalen und Schränken, auf Möbeln und Sitzgelegenheiten liegen Bücher, Ordner, Sammelwerke mit zigtausenden Seiten, die die Künstlerin handschriftlich und mit Schreibmaschinen füllte. Der mit dem gleichnamigen Opus 7 der Künstlerin vertonte Film zeigt den Mikrokosmos, den die Künstlerin um sich herum anwachsen ließ, bis er sie und ihre tägliche Arbeit wie ein Korsett umschloss, während die Harburger nur einmal im Jahr das Vergnügen haben, aus ihren trostlosen Häusern herauszutreten, um die Kirmes, diesen wohlfeilen Kosmos der Armen, zu besuchen.

Zeitbuchhaltung im Bauernhaus

Dieses Mal hatte Gerlachs Film „TIMESWING“ das Publikum in Hamburg auf den Film der Künstlerin eingestimmt, der den 2015 noch weitgehend unveränderten Zustand der Sammlung zeigt, aus dem Speditionsangestellte bereits Stücke für die beiden Ausstellungen entnahmen und verpackten, wodurch sich die Idee eines Schaulagers vermittelte. Hier stellte sich auch der Tierarzt zum Gespräch ein. Weggefährten und Verwandte wurden anlässlich der Feier zum 75. Geburtstag der Künstlerin interviewt. Ehemalige „Co-Workers“ der Künstlerin wussten über die mit ihrer Hilfe verwirklichten Projekte zu berichten. Historisches Filmmaterial aus einer Fernsehdokumentation aus den 1980er Jahren rundete die aktuelle Dokumentation ab und machte die Einbettung des Hofgebäudes in den landwirtschaftlichen Betrieb auf dem Familiengut anschaulich. Zwei landwirtschaftliche Helfer gabelten Strohballen zum Füttern aus der Scheune, und die Künstlerin lockte ihre zwei Ziegen vor die Kamera. Aussagekräftig waren Aufnahmen anlässlich einer der legendären Weihnachtsfeiern, die das Gesicht der gewöhnlich ernsten Kunstarbeiterin löste und zur Musik einer Zigeunerkapelle erstrahlen ließ. Ein Signal der festtäglichen Lust, die den streng geregelten Alltag unterbrach, der der Aufzeichnung des Zeitlaufs, dem Sammeln und Organisieren von Bildern, Zeitungen und Zeitschriften und dem Ausfüllen von Kalenderblättern, mit eigenen graphischen Strukturen versehen Papieren gewidmet war.

Die Sammlung von Objekten kombiniert mit den eigenen Aufzeichnungen der Künstlerin z.B. mit dem Projekt „Schreibzeit“ belegt den Versuch, Kontrolle über die Lebenszeit zu erringen. Später werden die Kalender abstrakter, indem die Zeit zu Formeln verdichtet wird, die aus Quersummen von Jahreszahlen gewonnen werden, wodurch schließlich ein Schritt hin zu den Noten einer eigenen Notenschrift begangen wird, der die Schreibarbeit in Klänge überführt. Ihr musikalisches Werk wurde schon einmal in der Musikhalle (heute: Laeiszhalle) in Hamburg aufgeführt jedoch von der Kunst- und Musikwelt ignoriert. Heute bilden die Kompositionen neben den Sammlungsstücken zu denen auch eine Sammlung von Musikinstrumenten gehört den Kern der Räume in den Museumsaustellungen. Inmitten der wandfüllenden Papierarbeiten und zwischen den dort installierten Objekten aufgeführt entsteht der Eindruck eines mit Zeit gesättigten Gesamtkunstwerks.

Stehende Welle, Filmstill aus „TIMESWINGS“, 2016, courtesy Rasmus Gerlach

Statische versus ephemere Kunst

Die Verunsicherung des Leiters des Hauses der Kunst, der sich dabei beobachtet fühlte, wie er eine Position zu den Darbovenschen Objekten finden musste, die eine Kaufmannsfamilie aufgehäuft hat, die nicht nur als Kaffeeröster vom Kolonialismus profitiert hat, und die Einbeziehung der Geschichte des Haus der Kunst führten zum Rauswurf des Dokumentarfilmers, der sich daraufhin in der Nähe des Ausstellungshauses umschaute. Dort stieß er auf ein besonderes Sinnbild der Zeit, die „Stehende Welle“ der Isar, auf der das ganze Jahr über gesurft wird. Der Fluss rauscht hier ununterbrochen mit hoher Geschwindigkeit in den Englischen Garten und doch wirkt die Welle statisch, so dass die tollkühnen Surfer sich je nach Geschick zeitweilig auf ihr halten können, bis sie von der Strömung fortgerissen werden. In dieser Begegnung von Menschen und Naturschauspiel hat Gerlach eine plausible Metapher für das Werk Darbovens gefunden, die übrigens 1941 in München geboren wurde.

Dieses Sinnbild führt unmittelbar zur Frage der Zeit auch in der Performancekunst, die in diesem Blog untersucht wird. Nichts scheint der Performancekunst ferner zu liegen als das Werk von Hanne Darboven, die auf der Suche danach, die Zeit zu fixieren, ein Werk unglaublichen Ausmaßes materialisiert hat, das die hohen Wände mehrerer größer Ausstellungshäuser gleichzeitig komplett zu bedecken vermag. Wir haben es also mit einem Vermächtnis zu tun, das einer Einzelnen gedankt ist, die sich unerschütterlich in den Fluss der Zeit stellte, um ihn Augenblick für Augenblick, Tag für Tag mit grafischen Mitteln, der Schrift, der Fotografie, dem Films, der Komposition und der Mathematik zu protokollieren. Es ist der Versuch, in dieser konstanten Bewegung des Vergehens der Zeit Halt zu suchen.

In diesem Bemühen ist Hanne Darboven als Konzeptkünstlerin in einer Richtung, die von Männern dominiert wird, einzigartig aber nicht allein. Ihr Werk weist Parallelen zu „Jahrestage“ (1971ff) von Uwe Johnson, das ebenfalls von einem Aufenthalt in New York inspiriert worden war, und den Arbeiten der Hamburger Künstlerin Anna Oppermann auf. Obwohl sie sich schon früh gegen andere, namentlich literarische Versuche der Fixierung von Zeit mit dem Einwand abgegrenzt hat, dass es sich um abgenutzte Mitteilungsformen handeln würde[1], ist es wichtig, den Kontext der 1970er und 1980er Jahre zur Kenntnis zu nehmen, in dem Fotografie, Schreib- und Kopiermaschinen Möglichkeiten versprachen, die Fixierung von Zeit in den Griff zu bekommen.

Das Ringen um die Zeit, das von Darboven mit buchhalterischen Mitteln ausgetragen wurde, bleibt allerdings weiterhin fraglich, denn mit Tino Sehgal gibt es Gegenpositionen in der Performancekunst, die ganz ohne Material auskommen, weil sie den Spuren vertrauen, die Leben, Bewegungen, Äußerungen und Begegnungen im Menschen ohne eine dokumentarische Beglaubigung hinterlassen.
(c) Johannes Lothar Schröder

[1] Uwe M. Schneede über H.D. in: Kasper König (Hrsg.), von hier aus: 2 Monate neue deutsche Kunst in Düsseldorf, Köln 1984, S. 40.