Ein „Anschlag auf die Wirklichkeit“

„Mein Bücherregal ermahnt mich, in meinen Träumen regelmäßig,
 dass es viel zu viel von diesem Alkohol tragen müsse.“
Dan Thy Nguyen, in: Die Archäologie meines Unwissens, meines
Sterbens und meiner Liebe,
 in: Buch Handlung Welt. Bücher, Hamburg 2023, S. 84f

Zur Ausstellung „Das Gespenst in der Kurve“ Hilka Nordhausen
in der Hamburger Kunsthalle[1] bis 4. Januar 2026


Hilka Nordhausens Nachlass lag jahrzehntelang in der Obhut ihrer Familie und wurde von Bettina Sefkow verwaltet. Sie publizierte schon 1998 die Geschichte der von der Hamburger Künstlerin gegründeten Buch Handlung Welt. dagegen dabei erschien im Michael Kellner Verlag und machte zugleich eine Reihe von erhellenden Beiträgen zur Geschichte der alternativen Kunstszene in Hamburg zugänglich. Nun, 32 Jahre nach ihrem Tod nahm die Hamburger Kunsthalle den Nachlass der Künstlerin an, die 1993 in Berlin starb. Ihr Werk wird mit der Ausstellung „DAS GESPENST IN DER KURVE“ bis zum 4. Januar 2026 vorgestellt. Interessenten sollten sich nicht dadurch beirren lassen, dass die Kunsthalle es unterlassen hat, die Ausstellung im Flyer Kunst in Hamburg anzukündigen. Folglich hat etwa art-line IV/2025 diese Ausstellung weder in ihrer Ausstellungsübersicht genannt noch rezensiert. Obwohl die Gründe für dieses Versäumnis nicht ermittelt werden konnten, die die Bemühungen der Kuratorinnen der Ausstellung Corinne Diserens und Jana Pfort ins Leere laufen lassen, bleibt doch zu hoffen, dass sich diese Ausstellung über zwei wichtige Jahrzehnte spezieller Entwicklungen der Kunst in Hamburg unter Künstler*innen und Interessierten herumspricht.

Die Distanz überbrücken

Das Versäumnis wirft allerdings Fragen danach auf, warum man noch nicht begriffen hat, dass die Bedingungen für die Kunststudent*innenjahrgänge Anfang der 1970er Jahre besondere waren. Die Museen in Deutschland hatten die großen Lücken, die durch die Kunstbarbarei der Nazis aufgerissen worden waren, zu schließen. Auch hatten sie alle Hände voll zu tun, Künstler wie Joseph Beuys und Dieter Roth zu verstehen, die den Krieg als junge Erwachsene erlebt hatten. Andere wie Max Ernst und Josef Albers kamen nicht aus dem Exil zurück. Die während des Kriegs und danach geborenen Künstler*innen kamen dabei zu kurz, zumal man sich auch noch der, um Jahrzehnte weiterentwickelten, Kunst der ehemaligen Feinde zuzuwenden hatte. Man hatte kein Interesse daran, sich über die besonderen Umstände der künstlerischen Sozialisation dieser jungen Künstlergeneration im Aufbruch Gedanken zu machen, zumal man sich noch daran machen musste, Dada, Neue Sachlichkeit und Bauhaus zu verdauen, während die u.s.-amerikanische Sicht schon Fluxus und Pop Art als Neo-Dada verstand. Sodann ließen sich Großsammler wie Ludwig und Sprengel für ihre Sammlungen Museen bauen. In dieser Situation mussten sich die Absolventen der Hochschulen um 1970 eigene Orte für interdisziplinäre Experimente suchen. In Hamburg spielte zudem der Mangel an Ausstellungsorten eine Rolle und da sich die jungen Künstler*innen auch den damals neuen Reprodukionsmöglichkeiten wie Fotografie, Fotokopie und Offsetdruck mit ihren neuartigen Verbreitungsmöglichkeiten stellten, stießen sie zusätzlich noch auf Ablehnung.[2] Um ihre Postition zu bestimmen, mussten sie selbst dafür sorgen, dass ihr Ansatz theoretisch untermauert werden konnte, weshalb sie sich den neuen Bildsprachen schreibend näherten.

Am Anfang stand das Wort

Buch Handlung Welt hieß der Laden in der Hamburger Marktstraße 12. Sein Name fasste titelgebend die Herangehensweise der Generation Nordhausen zusammen. Am Anfang stand BUCH, weil man nicht nur Bilder – die gab es schon damals genug – sondern Argumente brauchte, um seine Position zu begründen. Dabei ging es nicht einmal mehr nur um Theorie und Kunstgeschichte. Wie schon die Surrealisten, von denen man damals zeitlich so weit entfernt war, wie wir heute von den legendären Ausstellungseröffnungen für die jeweils neueste Wandmalerei, benötigte man neben der Theorie auch Poesie und Prosa, um sich in einer Welt zurecht zu finden, die damals von der Kriegsgeneration beherrscht wurde. Die in der Nachkriegszeit geborenen Künstler*innen hatten andere Ambitionen. Auch weil sie „nur“ sekundär traumatisiert waren, richteten sie ihre Kunst- und Wunschproduktion anders aus.

Selbst handeln und performen

HANDLUNG in der Mitte des Namens war folglich ein bedeutender Schlüssel zum Verständnis der Lage der bildenden Künstler in den 1970er Jahren. Fand bis dahin Life Art in den Ländern der Sieger Entfaltungsmöglichkeiten vor, weil es dort aufgrund der exilierten Künstler aus Europa Szenen gab, die das Erbe der Avantgarde z.B. in die USA getragen hatten.[3] Im deutschsprachigen Raum, wo die Protagonisten des Neuen vertrieben und verfolgt worden waren, stießen junge Künstler noch lange auf Skepsis oder Ablehnung und wurden schlimmstenfalls sogar bekämpft. Die in Wien verurteilen Aktionskünstler zogen ins Exil nach Berlin, um der Einkerkerung in ihrem Heimatland zu entgehen.[4]

Um selbstbestimmt experimentieren zu können, war es notwendig, sich Freiräume zu schaffen. In der Buch Handlung Welt konnten monatlich neue, übereinander an die Wand gemalte, geritzte, gezeichnete oder geklebte Bilder entstehen. Sollten sie noch grob von Konventionen beeinflusst worden sein, konnte dieser Vorwurf spätestens mit ihrem Verschwinden, das sie dem Markt für immer entzog, nicht mehr erhoben werden.

Hilka Nordhausen, Ohne Titel (Krokodil), Wandinstallation aus Kartonagen, Ausstellungsansicht in der Ausstellung „Das Gespenst in der Kurve“, Foto: Bettina Sefkow, (2025)

Eigene Arbeiten von Nordhausen gingen noch einen Schritt weiter und verzichteten, bis auf wenige Farbspuren, Buchstaben und zeichnerische Spuren, auf Malmaterialien und -werkzeuge. Zwei ihrer in der Kunsthalle ausgestellten Wandarbeiten bestehen aus entfalteten und aneinandergefügten Kartonagen. Nordhausen huldigte der damaligen Warenästhetik, die gängige Logos auf Verpackungen verbreitete, die mittels Flexodrucks auf ungebleichter Pappe multipliziert wurden. Es fällt auf, dass ihre Wahl Schnapskartons bevorzugte. Sie erinnern an den in den 1970er Jahren florierenden Alkoholkonsum, der gemessen am heutigen Prokopfverbrauch, vor 50 Jahren 50% höher war. (1980 wurde ein Höchstwert von 15,1 ltr. erreicht, der auf ca. 10 ltr. pro Kopf für jeden über 15-Jährigen bis 2020 gesunken ist). Auch damals beliebte Zeitschriften und Magazine hat sich Nordhausen angeeignet, um sie Seite für Seite zu übermalen und so in dunkle und gewellte Schichtobjekte zu verwandeln.

Blick in die Vitrine mit von Nordhausen übermalten stern – Magazinen aus den Jahren von 1980 – 1985

Exzessives Rauchen und Trinken bestimmten die Geselligkeit der Nachkriegsjahrzehnte. Dabei tobten die Traumatisierten des Zweiten Weltkriegs Erinnerungen an Schrecken und Grausamkeiten aus und teilten Unausgesprochenes situativ und rituell mit. Heute kann man das als eine selbstverordnete Traumatherapie sehen, die erst Jahrzehnte später begriffen wurde, als die ehemaligen Soldaten, Flakhelfer und Bombardierten mit schweren Depressionen in der Psychiatrie behandelt werden mussten. Hatten sie sich in Zeiten des Wirtschaftswunders an ihren Arbeitsplätzen betäubt mit Alkohol und Tabletten in den Kampf um ein wachsendes Einkommen für Auto, Haus und Urlaub geworfen, waren sie als Rentner schlagartig mit ihrer Einsamkeit und Vergangenheit konfrontiert. Dann erst, nachdem die Katastrophe längst eingetreten war, erkannten die behandelnden Ärzte die Probleme.

In dieser spukhaften Umgebung der unterdrückten Ängste sehnten sich die Jüngeren danach, die WELT frei von der Hypothek ihrer Eltern zu entdecken. Wer nicht zu denen gehörte, die Familienurlaube jenseits der Alpen bei den ehemaligen Verbündeten verbrachten, trampte in die Nachbarländer, nach Griechenland oder war mangels Geld auf Phantasiereisen mittels Kunst, Musik und Literatur angewiesen. Pop Musik, Rock&Roll und Punk aus England und den USA bestimmten das Lebensgefühl dieser Zeit. Entsprechend waren die Regale der Marktstraße 12 mit amerikanischer Literatur von Emily Dickinson, den Beat Poets sowie Paperbacks und Magazinen aus dem Underground bestückt. Wer in Hamburg hängen blieb, konnte hier auch im Sommer Kunstkataloge, Raubdrucke französischer Philosophen ohne Kaufzwang lesen und diskutieren.

Hinaus in die Welt

In dieser Zeit war auch der Hang zu Sekten verbreitet. In der Buch Handlung Welt konnten diejenigen, die einen Aufenthalt in Poona nicht anstrebten, ihre Asiensehnsucht bei Blättern im Bildband von „LADAK“ stillen, der einem noch heute auf den Fotos der Bücherregale ins Auge springt. Der Wunsch, das „Dach der Welt“ zu erklimmen, war groß, wenn auch in der Marktstraße Esoterisches eine untergeordnete Rolle spielte. Hilka Nordhausen kannte allerdings auch Karawanenwege. In einer der Vitrinen der Ausstellung in der Kunsthalle liegt das Buch „Melonen für Bagdad“ mit dazugehörigen Objekten, darunter nachgeformte Kultmasken, Camel-Zigaretten-Reklame und aus zerknülltem Papier geknetete Kamele, die im Lauf der Jahre durch Vergilbung eine kamelhaarne Farbe angenommen haben. Aus dieser Sicht wird klar, warum Nordhausen ihr Projekt als „Anschlag auf die Wirklichkeit“ bezeichnete. Tatsächlich war es der Widerstand gegen die mit dem Wohlstand umsichgreifende Spießigkeit, die auch das Reisen erfasst hatte und gegen die sich damals eine Gegenkultur mit Drogen, Tunix und Punk formiert hatte. Was in Hamburg von dem „Anschlag auf die Wirklichkeit“ blieb, kann man durchaus als das Erbe von Nordhausen begreifen, deren Initiative eine bis heute in der Hansestadt blühenden Kultur der von Künstler*innen geführten Projekträume begründete.

© Johannes Lothar Schröder

[1] Der Text ist weiter gefasst, als es für eine Rezension üblich ist, weil trotz der Ausstellung hinsichtlich des Status der Künstlerin und der interdisziplinären Bedeutung ihres Wirkens Klärungsbedarf besteht.

[2] Über die Situation in Hamburg bis in die 1990er Jahre vgl. J. L. Schröder, abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen, Hamburg 2022, S. 122 – 124

[3] Als wichtiges Beispiel ist das Black Mountain College zu nennen, das ein Ort der Lehre und des Experiments für schutzsuchende Künstler wie Josef und Anni Albers sowie Xanti Schawinski wurde, an dem folgerichtig 1952 ein Protohappening stattfand. Ausstellung BLACK MOUNTAIN – ein interdisziplinäres experiment. 1933-1957, Hamburger Bahnhof, Berlin, Katalog, Spector Books, Leipzig 2015

[4] 1969 flüchtete Günter Brus mit seiner Familie nach Berlin, wo er mit Gerhard Rühm (einer der Lehrer von Nordhausen an der HfBK) und Oswald Wiener die „Österreichische Exilregierung“ gründete.

WAS BLEIBT

Da kommt was zusammen

Jankowski inszeniert Falkenbergs Nachlass

Christian Jankowski, ein Herumtreiber zwischen den Kunstgenres und im Ausstellungsbetrieb, hat für Teile des Nachlasses des Hamburger Kunstsammlers und Juristen Harald Falkenberg eine Präsentationsidee gefunden. Er hat Ensembles in verschiedenen Räumen der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke in Potsdam zu einer Abfolge von Mikroinstallationen arrangiert. Bei der Auswahl von Teilen der Hinterlassenschaften, die die Leidenschaft für Kunst des Mäzens belegen, unterstützten Jankowski Fachleute für Haushaltsauflösungen. Mit ihrer Hilfe arrangierte der Künstlerkurator Gruppen, die aus Wohn- und Büromöbeln, Fitnessgeräten, Büchern, Katalogen, Gaben von Künstlern, Postern, Manuskripten, Typoskripten, Kopien, Projektmappen, Kleidungsstücken, Behältern etc. zusammengestellt wurden.

Ausstellungsansicht mit Lichtkasten von Jankowski, Foto: Autor

„TRÖDEL PSYCHO“
ein instalativer Nachruf

Der Titel „Antikstübchen Nachwort“ gibt der Ausstellung das Gewicht eines künstlerisch inszenierten Nachrufs, während das Design der Lichtkästen im Stil von Leuchtwerbung an Trödelläden einen augenzwinkernden ironischen Wink in Richtung Falkenbergs Art gibt, die dem prallen Leben zugewandt war. Sie deshalb „kleinbürgerlich“ zu nennen, würde das Engagement Falkenbergs schmähen, dessen Sammlertätigkeit mit Postern von Klaus Staeck begann, während er sich nach seiner Tätigkeit als Verfassungsrichter damals aktuellen Entwicklungen auf dem Kunstmarkt zuwandte. Die in Potsdam ausgebreiteten Arbeitsunterlagen und Texte weisen Falkenberg als engagierten Kunstliebhaber aus, der im französischen Sinn als „Amateur“ in mehreren Publikationen darlegte, weshalb er bestimmte Kunst liebte und sie für zeigenswert erachtete. Die öffentliche Präsentation seiner Sammlung in der Phönixhalle in Harburg und nicht die käufmännisch ausgewählte Wertanlage war sein Ziel, weshalb er u.a. als Vorstandsvorsitzender des Kunstvereins jahrelang Ausstellungen in Hamburg ermöglichte, die ohne ihn die Hansestadt niemals erreicht hätten. Die von ihm bevorzugten Arbeiten sind von Weltniveau, wenngleich sie von seiner transatlantischen Überzeugung Zeugnis ablegten. Während des Krieges geboren und im Kalten Krieg sozialisiert, verinnerlichte er die nach Westen ausgerichtete Überzeugung der Nachkriegswelt, die der postkolonialen Ausrichtung des Kunstbetriebs vorausging.

Zeitungen,, Manuskripte und Typoskripte aus dem Nachlass, Foto: Autor

Die Installationen werden durch Videos ergänzt. Eines schildert die desillusionierende Prozedur der Haushaltsauflösung mit der Auswahl dessen, was bleibt und dem finalen Abtransport mit der Aufteilung einzelner Stücke auf Trödlerläden, Antiquariate, gemeinnützigen Einrichtungen und Antiquitätenhändler. Entrümpler und Verwerter der Möbel und Objekte verlesen vor der Kamera Fragmente aus Texten Falkenbergs und geben dem wirtschaftlichen Vorgang einer gewöhnlich anonym bleibenden Verwertung ein Gesicht und den Vorstellungen des Kunstliebhabers Gehör, ehe aus seinen Typoskripten möglicherweise Altpapier wird. In einem weiteren Video teilen befreundete Künstler ihre Gedanken über den Verstorbenen.

Werke aus der Sammlung

Im oberen Stockwerk der Villa präsentiert die Kuratorin Sonja González eine wohl sortierte Auswahl von 45 Werken aus der Sammlung die 2400 Installationen, Bilder, Objekte und Auflagen umfasst, die vielleicht ohne Falkenberg in Hamburg ignoriert worden wären.

Martin Kippenberger: Selbstjustiz durch Fehleinkäufe, Mixed Media, 1984
Aus der Sicht eines Sammlers handelt es sich hier um einen Bildtitel, der selbstkritisch bis selbstironisch zu verstehen ist.

Was mit der Sammlung geschieht, die neodadaistische, subversive und politische Positionen enthält und noch ein paar Jahre in der Phönixhalle residieren darf, steht noch in den Sternen, solange nicht hinter den Pokerfaces der Bürgerschaft oder der Kunstliebhaber Entscheidungen über den Verbleib wichtiger Werke fallen, die Hamburgs Sammlungen bereichern würden. Eine Galerie der Gegenwart gibt es ja schon.

Ein in Berlin nicht zeigbares Werk soll hier aber nicht unerwähnt bleiben, denn unvergesslich ist die Installation von Jason Rhoades, die die große Deichtorhalle bis unter das Dach füllte. Großformatig geplottete Fotos der Pflanzenwelt lagen flächendeckend in der obersten Etage auf einem hundertfach vergrößerten dreidimensionales Abbild des elterlichen Gartens. Sie konnten mit einer Fahrstuhlfahrt erreicht und überblickt werden. Die Humusschicht mit Wurzelwerk darunter war aus einem Gewirr von Aluminiumrohren gebaut und mit gigantischen Würmern und fantastischen Erdwesen bevölkert, welche die Besucher maßstäblich auf die Größe von Käfern reduzierte. Ein so abstrakt konzipiertes wie titanisches Unterfangen hat dank Falkenberg den Horizont des Kunstbetriebs in Hamburg in einer beachtenswerten Weise verschoben, wie es der Kunst im Öffentlichen Raum bis auf Ausnahmen (Eine Ausnahme ist die 50 Meter hohe Installation von Dieter Rühmann, die Thema des folgenden Blogbeitrags ist) nicht möglich gewesen war.

Ausstellung bis 18. August 2024, weitere Details und Öffnungszeiten: https://villa-schoeningen.de/ausstellungen/

Kuratorin: Sonja González, Assistenz: Pola van den Hövel

Ephemere Denkmäler zur Situation des Menschen und zur Übernutzung der Erde

Dieter Rühmann zum 85. Geburtstag
von Johannes Lothar Schröder

Umkehr des Denkens

Eine 50 Meter hohe aus über 5000 Blättern zusammen gesetzte Fotokopie eines Mannes hing kopfüber 1993 vor dem Turm der Ruine der Hamburger Nikolaikirche. Anlässlich des 50. Jahrestages des „Feuersturm“ genannten Bombenangriffs auf die Hansestadt hatte die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und eine Firma für Mobilkräne dem Hamburger Künstler Dieter Rühmann ermöglicht, die Installation „ECCE HOMO“ zu präsentieren. Zwei Telekräne hielten die tonnenschwere fast 60 Meter hohe Installation vom 29. – 31. Juli 1993 vor dem Turm aufgespannt.

Dieter Rühmann: ECCE HOMO, 1993 vor dem Turm der Ruine der Nikolaikirche in Hamburg ca. 5500 x 1300 cm, Foto: Ricklef Müller

Kopfüber

Rühmann hatte die Möglichkeiten einer Umkehr während des Durchgangs seines Menschen durch die Kopiermaschine beobachtet und festgestellt: „Doch dieser Mensch ist nicht gebrochen. Er ist unversehrt. Entgegen seiner aufrechten Gangart hängt er mit dem Kopf nach unten und symbolisiert die Umkehr unseres Denkens: Wir sind gewohnt, unsere Vorstellungskraft von unten nach oben, in abmessbaren Strecken, von einem Ziel zum nächsten zu entfalten. Unser vermeintlicher Fortschritt zwingt uns in einem immer schnelleren Tempo zur Abkehr von uns selbst und von unserer Erde.“ Rühmann sah die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Selbstverleugnung zu unterbrechen und schlussfolgerte: „ECCE HOMO weist zurück auf die Erde“[1], und diese Umkehr ist nicht unbeeinflusst von der Notwendigkeit der Veränderungen, die der Club of Rome in seiner Erklärung über die Grenzen des Wachstums bereits 1972 anmahnte. Die Reaktion des Künstlers darauf war nicht nur ökologisch motiviert, sondern umfasste medienkritische und ikonografische Ansätze.[2]

Was uns immer noch beschäftigt – vor 30 Jahren

Angesichts der verschärften Klimakrise sehen wir heute die verwüsteten Stellen eines Planeten, den wir nach Gutdünken geplündert haben, als würde es sich um einen Behälter handeln, der beliebig oft nachgefüllt werden könnte. Zurückblickend gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass die Einsichten und Mahnungen seitens der Wissenschaft nicht stark genug gewirkt haben, um eine Umkehr des Handelns herbeizuführen. Das liegt offensichtlich daran, dass man Wachstum als eine natürliche Gegebenheit hingenommen hat, weil man es etwa von biologischer Vermehrung ableitete und die Frage der Ernährung als eine technische Angelegenheit zur Sättigung von mehreren Milliarden Menschen mit der Möglichkeit, hohe Profite zu erwirtschaften, gesehen hat. Dabei hat man die Vergrößerung der Fläche ignoriert, die ein im Wohlstand lebendes Individuum heute für sich beansprucht. Die Bedürfnisse von Individuen verschlingen immer mehr Räume und Ressourcen für industrielle Produkte, Schränke voller Kleidung, Regale und Lagerflächen mit Ausrüstung, Geräten und Maschinen etc. Immer mehr Menschen halten gemeinschaftlich benutzbare Dinge zum individuellen Gebrauch vor. Dazu kommen voll ausgestattete Zweit- oder Ferienwohnungen an verschiedenen Orten, Arbeitsräume und Büros, die nur 8 bis 10 Stunden am Tag benutzt werden. Hierbei sind Fahr- und Flugzeuge, sowie die Infrastruktur der unterschiedlichen Verkehrssysteme noch gar nicht berücksichtigt. Auch Produktionsanlagen, Hallen und Minen, die Rohstoffe und Energie zutage befördern, ihre Verarbeitung und Verteilung gewährleisten, benötigen immer größere Flächen. Sie verschlingen Stadt- und Landschaftsraum sowie Energie und zuvor landwirtschaftlich genutzte Flächen.

Wie ein Hamburger Künstler vor 26 Jahren auf die Katastrophe reagiert hat

Die von Reichtum und Gewinnmaximierung getriebene Lebensweise ist so raumgreifend geworden, dass für die Produktion von Feldfrüchten, Naturprodukten und Tieren immer weniger Platz bleibt, der außerdem oft noch mit Abfällen, Müll und Fäkalien verschmutzt wird. Natürlicher und naturnaher Lebensraum wird immer seltener; denn um den Rohstoffbedarf zu stillen werden Urwälder und Wälder weiterhin gerodet und Moore trockengelegt. Gleichzeitig greifen Wüsten und Steppen auf ehemaliges Weide- und Ackerland über. Vor diesem Hintergrund von einem „ökologischen Fußabdruck“ zu sprechen, verniedlicht das Problem. Wenn Hühner auf einem zu engen Raum gehalten werden, fressen sie in kürzester Zeit eine blühende Wiese ab und hinterlassen eine platt getretene und mit Fäkalien verschmutzte Fläche, weshalb eine Nahrungszufuhr von außen erforderlich wird. Wenn man Verkehr und Transportleistungen sowie die Kriege zur Durchsetzung der Bewegungsfreiheit mit den damit verbundenen Handelsinteressen dem Flächenverbrauch hinzuzählt, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung durch Zivilisation überschaubar. Auch akustisch ist dieses fast überall als Lärm und Gepolter zu vernehmen, die selbst in der Nacht nicht mehr nachlassen. Man muss sich einmal die durch das Gewicht der Verkehrsmittel und die durch die Wucht der Beschleunigung entfaltete Gewalt vorstellen, um zu erkennen, dass Menschen die Welt messbar erschüttern.[3] Am Ende lässt sich erkennen, dass die menschlichen Aktivitäten permanente Beben auslösen. Die menschengemachte Dynamik auf der Erdoberfläche kommt einem gewaltsamen Hineinrammen vieler Tonnen nahe. Mit einem solchen Bild vor Augen erscheint die im Folgenden beschriebene Aktion von Rühmann nicht trivial. Sie sollte in die Erde gehen, um dort tatsächlich seismische Erschütterungen hervorzurufen.

Dieter Rühmann: TOPOS, 1998, Entwurf für den Abwurf einer auf dem Kopf stehenden Pyramide auf einem Feld bei Stuttgart-Stammheim,

TOPOS

Mit TOPOS plante Rühmann 1998, eine fünf Tonnen schwere Pyramide aus Stahl und Beton von einem Hubschrauber auf ein freies Feld in Stuttgart-Stammheim abzuwerfen. Für den Künstler war TOPOS „Keine Bombe, kein Flugapparat. Ein grundloses Objekt. Etwas, das vom Himmel fällt, sich einrammt in den Boden, unverrückbar.“[4] Damit wollte Rühmann ein Zeichen der Umkehr setzen, das nicht zufällig an den Monolithen aus ‚2001: Odyssee im Weltraum‘ erinnert, dessen Erscheinen allerdings rätselhaft bleibt. Das schwarze quaderförmige Objekt aus Stanley Kubricks Film aus dem Jahr 1968 tauchte jeweils dann auf, wenn sich die Verfasstheit des Menschen durch Erweiterung seiner anatomischen und geistigen Möglichkeiten veränderte. Einmal gelang es einem Menschenaffen, seinesgleichen mit einem Oberschenkelknochen zu erschlagen und ein anderes Mal sandten zukünftige Menschen Weltraumfahrzeuge für Expeditionen zu anderen Planeten. Diese auch von Rühmann mit ‚djun-leb‘ 1985 angerissenen Science-Fiction-Themen geben einen Begriff davon, dass auch Kunst mit der überbordenden Produktion, dem weltweiten Handel und Ausstellungsbetrieb eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung geworden ist. Als sich Rühmann 1985 mit dem Thema Stoffwechsel aus der Sicht der Weltraumfahrt auseinandergesetzt hatte, war klar geworden, dass auch jeder Astronaut wie der Künstler als ‚Artonaut‘ irgendwann auf den Erdboden zurückkehren muss, wobei der menschliche Stoffwechsel gegenüber dem Transport von Besatzungen und ihren Ausrüstungen als das weitaus größere Problem hervortritt.

Die Massen, die auf der Erde von Menschen bewegt werden

Mit TOPOS, dem Konzept für ein tonnenschweres Geschoss, verlieh Rühmann der Beschleunigung von Masse eine skulpturale Quantität und aktionistische Qualität. Allein der Umstand, dass das Objekt und die Aktion außerhalb des Kunstkontextes den meisten Betrachter*innen absurd erschien, macht auch deutlich, wie stark die Entschlüsselung von plastischen Arbeiten verkümmert ist. Die Kraft der Metapher für die verdrängten Umweltprobleme konnte damals nicht durchdringen. Dennoch näherte sich Rühmann dem Unbekannten in bisher ungekannter Schärfe und plante eine Intervention, die einem Terrorakt glich, was der Schauplatz, ein Feld in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem führende Mitglieder der RAF einsaßen, unterstrich. Die aus 1000 Metern Höhe fallende Pyramide sollte der unglaublichen Gewalt von Masse und ihrer Beschleunigung eine künstlerische Gestalt geben. So konnte sie ein punktuell freigesetztes Äquivalent der Energie sein, die wir Menschen mit den von uns gemachten Dingen Tag für Tag freisetzen. Dazu schrieb Rühmann in der Dokumentation seiner Arbeiten: „Die Terror-Anschläge brachen mit einer ihnen eigenen, unerbittlichen Gesetzlichkeit wie ein Naturereignis in das friedliche Leben der Bundesbürger ein. Die Anschläge kamen unerwartet und waren für die meisten Bundesbürger völlig unverständlich.“[5]

Kunst wie ein Terrorakt

Im Licht dieser Äußerung scheint die ungewöhnliche Aktion als eine Parallele zu den terroristischen Anschlägen, die der Belastung der Welt durch menschliches Wirken ein Mahnmal setzt. Diese Aktion gab zugleich dem Zweifel daran eine Gestalt, ob die Richtung unseres Denkens „nach außen oder nach oben“ richtig sei. Rühmann hoffte durch das Objekt, „eine Pyramide, die auf uns zurast“, eine alternative Richtung von oben nach unten, also von oben auf uns zu kommend, nicht nur anschaulich, sondern auch physisch spürbar zu machen. Das Ereignis, das sich „gegen unsere Denkrichtung kehrt und so rational nicht zu begreifen ist“, könnte seiner Meinung nach ein Anlass sein, über eine Umkehr nachzudenken.[6] Rühmann leitet bis heute die Vorstellung, dass ein Kunstwerk einen Schrecken über das menschliche Handeln auslösen könnte, um das Bewusstsein über die Folgen unseres Handelns zu wecken; denn offensichtlich fällt es uns als Menschen schwer, die Gewalt zu begreifen, die von unserer Lebensweise ausgeht.

Mit der Corona-Krise 2020 wurde die Menschheit von einem Ereignis getroffen, das alle erfasst hatte und nur gemeinsam überwunden werden konnte. Es führte die letztendliche Machtlosigkeit des im rasenden Fortschritt nach immer neuen Rekorden gerichteten Denkens vor Augen. Die Reaktionen zur Bewältigung lassen, grob gesehen, zwei Richtungen erkennen. Unter den Politikern fallen diejenigen auf, die in der Lage sind, über die Grenzen ihrer eigenen Interessen und ihre Machtposition hinauszublicken, um das Nötige zu tun. Andere ignorierten das wechselvolle Geschehen der Pandemie und überlassen die Bevölkerung der von ihnen regierten Staaten sich selbst. Als wäre das nicht schon genug des Übels, Maßnahmen zu unterlassen, wiegeln sie auch noch Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Dabei suchen sie Schuld für die Desaster jeweils bei ihren politischen Gegnern oder wirtschaftlichen Rivalen.[7] Auf der anderen Seite gibt es Staatslenker*innen, die umsichtig und fürsorglich handeln und Voraussetzungen schaffen, um Menschenleben in ihrem Einflussbereich zu schützen, Kapazitäten mit Nachbarn teilen und Menschen, die in ihrer Existenz bedroht sind, so gut es geht, zu unterstützen.[8]

Die Lage ist kompliziert und neue Entwicklungen und Ereignisse fordern weitere Entscheidungen heraus. Schwieriger aber als Krisenmanagement wird es sein, die Basis für ein Umsteuern zu legen, damit nachhaltige Lösungen möglich sind. Letztlich wird jeder Einzelne aufgefordert sein, zu handeln und in seinem Umkreis und Verantwortungsbereich mitzuwirken. Künstlerische Arbeiten können als Elemente eines Frühwarnsystems betrachtet werden. Auch wenn offen bleibt, ob sie tatsächlich zu einer konkreten Umkehr ermutigen, ist dieses Werk erneut zur Diskussion zu stellen, zumal TOPOS damals schon nicht realisiert werden konnte, weil dieser Arbeit die Vergabe von Mitteln und die Genehmigungen verweigert wurde.

Die Homepage http://www.buechse-der-pandora.de/ zeigt weitere Pläne des Hamburger Künstlers, die belegen, dass Rühmann nicht aufgegeben hat, die herrschenden Hierarchien auf den Kopf zu stellen.

Der Text basiert auf einer historischen Darstellung und Erörterung wichtiger Werke Rühmanns im Buch „abhängen“ des Autors (s.u.).


[1] Rühmann, Dieter: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993. Hamburg 1993, o.S.

[2] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese Installation, die im Buch des Autors wie auch das Werk Rühmanns dargestellt wird. (Schröder, 2022) Im Folgenden werden die Seiten 133-137 in einem anderen Layout wiedergegeben. Abweichungen vom zitierten Text sind redaktionell bedingt.

[3] Seismologen stellten während des durch die Corona-Pandemie durchgeführten Lockdowns eine deutliche Verminderung der menschengemachten Erschütterungen fest. https://science.sciencemag.org/content/early/2020/07/22/science.abd2438 (07.09.2020) 132

[4] Rühmann, o.J.

[5] (Rühmann, o.J.), S. 96

[6] Ebd., S. 98

[7] In den USA unter ihrem Präsidenten Trump waren es Liberale, die als Umstürzler diskreditiert wurden, und China, das für die Schwächen der amerikanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht und als Ursache des Coronavirus hingestellt wurde. Die Unterlassung von Maßnahmen führte den vermeidbaren vorzeitigen Tod von 300.000 Menschen (Stand Mitte Oktober 2020) herbei.

[8] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zeilen ließ sich nicht abschätzen, wie sich die Situation weiterentwickeln würde. Deshalb kann die tatsächliche Auswirkung der Coronakrise auf die mögliche ökologische Umgestaltung der Wirtschaft erst in der Zukunft beurteilt werden. In Bezug auf die hier angesprochene künstlerische Leistung lässt sich jedenfalls eine an die Schwierigkeiten des antizipierenden ökologischen Umdenkens greifende Verkörperung erkennen.

Literatur:

Rühmann, Dieter: … macht die Kunst kaptt – es lebe die Kunst …, Järnecke, Issendorf 1984.

Pressespiegel: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993“. – Hamburg 1993.

Schröder, Johannes Lothar: abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen. Dieter Rühmann, Annegret Soltau, Boris Nieslony, ConferencePoint Verlag, Hamburg 2022