Vom Bildverbot zur Bilderskepsis

Gustav Metzger im TOWER MMK in Frankfurt am Main
Von Johannes Lothar Schröder

Wenn von der Erinnerung an die ermordeten Eltern nur Rudimente bleiben und eine Zeichnung schemenhafte Schatten hervorbringt, was kann dann noch von Kunst verlangt werden?

Family at the Table, Zeichnung 1950, The Estate of Gustav Metzger & the Gustav Metzger Foundation, London (UK)

Die mutmaßlich einzige frühe Erinnerung, die dem mit 13 Jahren im letzten Zug, der jüdische Kinder aus Deutschland nach England brachte, geretteten Jungen aus Nürnberg geblieben ist, hat Gustav Metzger 1950 in einer Zeichnung festgehalten. Es sind Skizzen, die nichts als Schatten sind, die traumgleiche Gesichter andeuten und zugleich wieder mit groben Strichen überzeichnen, können sich kaum noch den ermordeten Eltern annähern. Mit fünf Zeichnungen aus dem Nachlass des Waisen, der bei Stiefeltern in England aufgewachsen ist, beginnt der Rundgang durch die Ausstellung im TOWER MMK in Frankfurt am Main, die darüber hinaus noch spätere farbige figürliche Zeichnungen präsentiert, die das Talent des jungen Künstlers aufscheinen lassen, das sich der Last der Geschichte nicht entwinden konnte.

Die Zerstörung geht weiter

Metzger befasste sich mit der Zerstörung, die sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte. Er begründete das „Destruction in Art Symposium“ (DIAS) 1967 und behielt wissenschaftliche und technologische Entwicklungen im Blick. „Bewegungen gegen Krieg, Rüstung und Atomenergie, die Abwehr des technologischen Fortschritts und die Konfrontation mit neuen sozialen Problemen prägen die Kunst – ebenso Rückzug, Passivität und Anpassung.“[1] Das formulierte er 1981 im Konzept der Gegenausstellung zu „Westkunst“ in Köln, die nach seiner Erfahrung alle Komplikationen der Nachkriegsgeschichte ignorierte und die Brüchigkeit der internationalen Kunstentwicklung zu glätten versuchte.

Metzgers späteren Werke wie die Visualisierung von Flüssigkristallen und der Fleischkrise nach dem BSE-Skandal in Großbritannien, seine Warnungen von der Automobilität und Atomwirtschaft als Zerstörerinnen des urbanen Lebens, der Landschaft und der Ressourcen, sind als künstlerische Interventionen zu sehen und oft nur in Form von Modellen, Dokumenten und Relikten erhalten oder als Redoings wiederherstellbar.

„Kill the cars!“ riefen auf einem Autowrack herumspringenden Kinder in Camden 1996

Nachstellung 2024 von: Historic Photographs: Kill the Cars, Camden Town, 1996

Im Tower zu sehen sind die Rekonstruktion von „Tropfen auf einer heißen Platte“ von 1968 und von „Kill the Cars“ Camden Town, London 1996. Die Annoncen für Flüge zu Schleuderpreisen von Ryanair sind Ready-Mades aus Tageszeitungen. „Strampelnde Bäume“ strecken ihre Wurzeln vor dem Taunustower in die Luft, während ihre Kronen im Betonsockel und unter der Erde unsichtbar sind.

Strampelnde Bäume 2010/2024 (Ausschnitt mit einem von fünf Bäumen)

Bedeutend sind Metzgers Auseinandersetzungen mit Bildverboten und der Unmöglichkeit Zivilisationsbrüche adäquat abzubilden. Die Reihe „Historischer Fotografien“ mit geplotteten Fotografien der Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto, vom Anschluss (Österreichs), der Rampe in Auschwitz zeigen Versuche, diese Bilder zu bewältigen. Metzger hat dazu Verschläge, Verschalungen, Einschweißungen und Abdeckungen ersonnen, die diese Bilder entweder vollkommen unsichtbar machen oder ihren Anblick erschweren.

Historic Photographs: The Ramp at Auschwitz, Summer 1944, 1998/1924, The Estate of Gustav Metzger & The Gustav Metzger Foundation, London (UK) Der Korridor vor dem Bild hindert daran, das nicht Abbildbare zu überblicken. Im Hintergrund (links) sieht man das zwischen zwei Eisenplatten eingeschweißte Foto „Hitler-Youth“, 1997

Sein Interesse für wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen brachten kinetische, sich selbst abbauende Skulpturen und „Liquid Cristal Environments“ (1965) hervor, die während Konzerten von The Cream und The Who verwendet wurden.

Liquid Crystal Environment (Ausschnitt) 1965/2024, The Estate of Gustav Metzger & The Gustav Metzger Foundation, London (UK)

Zwei wegweisende Begleithefte zur Ausstellung

Was auf 80 Seiten des schmalen hochformatigen Begleithefts zur Ausstellung von Julia Eichler, Ann-Charlotte Günzel, Leon Jankowiak und Susanne Pfeffer formuliert und zusammengefasst wurde, sucht in seiner Kompaktheit und Sachlichkeit seinesgleichen in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Raum für Raum werden die Werke und ihr Anlass dargestellt. In einem zweiten Teil ist eine aktualisierte Kurzbiografie Metzgers wiedergegeben. Das schließt wenige, aber bezeichnende Abbildungen von Werken mit ein. Der dritte Teil gibt die Paragrafen der antisemitischen Gesetzgebung wieder, die zwischen 1938 und 1942 die Rechte der jüdischen Bürger mit dem Ziel beschnitt, ihre kulturellen und wirtschaftlichen Grundlagen zu zerstören und dem Raub ihres Besitzes einen legalen Anschein zu geben. 1981 trug Metzger die im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Texte für die Ausstellung „Vor dem Abbruch“ in Bern zusammen.

Das zweite Heft zur Ausstellung ist von Marlene Seifert in einfache Sprache übersetzt und besonders empfehlenswert für alle, die wenig über Metzger und das Gebiet der Destruktions-Kunst wissen.

Die Ausstellung ist bis zum 5. Jan. 2025 im TOWER MMK in Frankfurt am Main, Taunusturm, Taunusstraße 1 zu sehen.

https://www.mmk.art

mmk@stadt-frankfurt.de T +49 69 212 30447 F +49 69 212 37882


[1] Passiv-Explosiv, Entwurf einer Ausstellung in Köln 1981, Konzept: Gustav Metzger, in: Katalog, Generali Foundation, Wien 2005, S. 263f

WAS BLEIBT

Da kommt was zusammen

Jankowski inszeniert Falkenbergs Nachlass

Christian Jankowski, ein Herumtreiber zwischen den Kunstgenres und im Ausstellungsbetrieb, hat für Teile des Nachlasses des Hamburger Kunstsammlers und Juristen Harald Falkenberg eine Präsentationsidee gefunden. Er hat Ensembles in verschiedenen Räumen der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke in Potsdam zu einer Abfolge von Mikroinstallationen arrangiert. Bei der Auswahl von Teilen der Hinterlassenschaften, die die Leidenschaft für Kunst des Mäzens belegen, unterstützten Jankowski Fachleute für Haushaltsauflösungen. Mit ihrer Hilfe arrangierte der Künstlerkurator Gruppen, die aus Wohn- und Büromöbeln, Fitnessgeräten, Büchern, Katalogen, Gaben von Künstlern, Postern, Manuskripten, Typoskripten, Kopien, Projektmappen, Kleidungsstücken, Behältern etc. zusammengestellt wurden.

Ausstellungsansicht mit Lichtkasten von Jankowski, Foto: Autor

„TRÖDEL PSYCHO“
ein instalativer Nachruf

Der Titel „Antikstübchen Nachwort“ gibt der Ausstellung das Gewicht eines künstlerisch inszenierten Nachrufs, während das Design der Lichtkästen im Stil von Leuchtwerbung an Trödelläden einen augenzwinkernden ironischen Wink in Richtung Falkenbergs Art gibt, die dem prallen Leben zugewandt war. Sie deshalb „kleinbürgerlich“ zu nennen, würde das Engagement Falkenbergs schmähen, dessen Sammlertätigkeit mit Postern von Klaus Staeck begann, während er sich nach seiner Tätigkeit als Verfassungsrichter damals aktuellen Entwicklungen auf dem Kunstmarkt zuwandte. Die in Potsdam ausgebreiteten Arbeitsunterlagen und Texte weisen Falkenberg als engagierten Kunstliebhaber aus, der im französischen Sinn als „Amateur“ in mehreren Publikationen darlegte, weshalb er bestimmte Kunst liebte und sie für zeigenswert erachtete. Die öffentliche Präsentation seiner Sammlung in der Phönixhalle in Harburg und nicht die käufmännisch ausgewählte Wertanlage war sein Ziel, weshalb er u.a. als Vorstandsvorsitzender des Kunstvereins jahrelang Ausstellungen in Hamburg ermöglichte, die ohne ihn die Hansestadt niemals erreicht hätten. Die von ihm bevorzugten Arbeiten sind von Weltniveau, wenngleich sie von seiner transatlantischen Überzeugung Zeugnis ablegten. Während des Krieges geboren und im Kalten Krieg sozialisiert, verinnerlichte er die nach Westen ausgerichtete Überzeugung der Nachkriegswelt, die der postkolonialen Ausrichtung des Kunstbetriebs vorausging.

Zeitungen,, Manuskripte und Typoskripte aus dem Nachlass, Foto: Autor

Die Installationen werden durch Videos ergänzt. Eines schildert die desillusionierende Prozedur der Haushaltsauflösung mit der Auswahl dessen, was bleibt und dem finalen Abtransport mit der Aufteilung einzelner Stücke auf Trödlerläden, Antiquariate, gemeinnützigen Einrichtungen und Antiquitätenhändler. Entrümpler und Verwerter der Möbel und Objekte verlesen vor der Kamera Fragmente aus Texten Falkenbergs und geben dem wirtschaftlichen Vorgang einer gewöhnlich anonym bleibenden Verwertung ein Gesicht und den Vorstellungen des Kunstliebhabers Gehör, ehe aus seinen Typoskripten möglicherweise Altpapier wird. In einem weiteren Video teilen befreundete Künstler ihre Gedanken über den Verstorbenen.

Werke aus der Sammlung

Im oberen Stockwerk der Villa präsentiert die Kuratorin Sonja González eine wohl sortierte Auswahl von 45 Werken aus der Sammlung die 2400 Installationen, Bilder, Objekte und Auflagen umfasst, die vielleicht ohne Falkenberg in Hamburg ignoriert worden wären.

Martin Kippenberger: Selbstjustiz durch Fehleinkäufe, Mixed Media, 1984
Aus der Sicht eines Sammlers handelt es sich hier um einen Bildtitel, der selbstkritisch bis selbstironisch zu verstehen ist.

Was mit der Sammlung geschieht, die neodadaistische, subversive und politische Positionen enthält und noch ein paar Jahre in der Phönixhalle residieren darf, steht noch in den Sternen, solange nicht hinter den Pokerfaces der Bürgerschaft oder der Kunstliebhaber Entscheidungen über den Verbleib wichtiger Werke fallen, die Hamburgs Sammlungen bereichern würden. Eine Galerie der Gegenwart gibt es ja schon.

Ein in Berlin nicht zeigbares Werk soll hier aber nicht unerwähnt bleiben, denn unvergesslich ist die Installation von Jason Rhoades, die die große Deichtorhalle bis unter das Dach füllte. Großformatig geplottete Fotos der Pflanzenwelt lagen flächendeckend in der obersten Etage auf einem hundertfach vergrößerten dreidimensionales Abbild des elterlichen Gartens. Sie konnten mit einer Fahrstuhlfahrt erreicht und überblickt werden. Die Humusschicht mit Wurzelwerk darunter war aus einem Gewirr von Aluminiumrohren gebaut und mit gigantischen Würmern und fantastischen Erdwesen bevölkert, welche die Besucher maßstäblich auf die Größe von Käfern reduzierte. Ein so abstrakt konzipiertes wie titanisches Unterfangen hat dank Falkenberg den Horizont des Kunstbetriebs in Hamburg in einer beachtenswerten Weise verschoben, wie es der Kunst im Öffentlichen Raum bis auf Ausnahmen (Eine Ausnahme ist die 50 Meter hohe Installation von Dieter Rühmann, die Thema des folgenden Blogbeitrags ist) nicht möglich gewesen war.

Ausstellung bis 18. August 2024, weitere Details und Öffnungszeiten: https://villa-schoeningen.de/ausstellungen/

Kuratorin: Sonja González, Assistenz: Pola van den Hövel

Ewigkeiten. Netze und Inselhaftes

„Es ist Ewigkeiten her.“, heißt es, wenn einem seit dem letzten Besuch etwas fremd geworden aber nicht klar ist, was sich tatsächlich verändert hat.

Die vier Jahrzehnte, die vergangen waren, seit er zuletzt die ABC-Straße hinunter zum Gänsemark gelaufen ist, musste er ausrechnen. Als Schüler hatte er in einem seiner ersten Romane über diese Hamburger Gegend gelesen und sich am Leben und an den Sprüchen der Außenseiter ergötzt, die in der Palette verkehrten. Wie viele Stufen waren es noch, die hinunter in das Souterrain mit den drei Gasträumen führten?  Er hätte gerne noch mal nachgezählt. Und wo stand der Kachelofen? Es war unmöglich, jetzt das Haus finden. Hier hatten sie neue Kulissen aufgestellt. Eine einfallslose Hotelfassade und andere mehrfach übermalte Versatzstücke gaben das Bühnenbild für das Theaterstück über liberales Wirtschaften. Nichts mehr hatte die Bedeutung von einst. Die alten Orte der Nacht waren in Staub aufgegangen, der über Bauschutt hinunterrieselte. Bagger und Abrissbirnen brauchten Tage und Woche, um zu leisten, was nebenan die Bomben über Nacht angerichtet hatten. Dazu die Räumungsklagen, die Schweinereien mit mutwillig zerstörten Abwasserleitungen und Dächern, bis die Abbruchgenehmigungen erteilt wurden.

Müllexplosion

BROMMA-RAUM, Screenshot: Post auf INSTA @antje_bromma vom 30.10.2023

Jetzt stand er vor der verglasten Fassade im Torweg eines neuen Bürogebäudes, hinter der Tausende von Objekten an dünnen Fäden im Raum schwebten, als wären sie in einer Explosionswelle erstarrt. Michelangelo Antonionis Zeitlupenaufnahmen aus Zabriski Point traten vor sein inneres Auge. Die explosiv zerlegte Villa inmitten der Natur verkörperte damals den Bruch mit der Moderne. Eine Druckwelle hat die Inhalte der Schränke und Regale von ihren Plätzen gefegt und die Zeitlupe hatte sie in einen schwebenden Zustand versetzt, der ihnen eine verwischte aber Kinomomente lange Dauer verlieh.

Die Installation von Antje Bromma ist den über 50 Jahre alten Filmbildern allein schon durch ihre physische Präsenz an Schärfe, Klarheit, Räumlichkeit und Prägnanz überlegen. Es hatte den Anschein, als seien kleine und große, leichte und schwere, monochrome und farbige Objekte auf ihren Flugbahnen angehalten worden. Doch entbehren sie einer Erzählung, der dem Film seinen roten Faden gab. Hier und jetzt verbindet ein solcher Faden tatsächlich alle Fundstücke aus der Sammlung der Künstlerin. Nach Zabriskie Point muss man nicht mehr denken, dass hinweggedrückte und zerschellte Dinge zu trivial und zu allgemein sind, um ihnen eine Geschichte zuzusprechen. Auch wenn sie jetzt vereinzelt oder als Konglomerate über den Besucher*innen der Ausstellung schweben, kommt mindestens die Frage nach ihrer Herkunft auf. Darüber hinaus fallen ästhetische Merkmale auf; denn jeder Gegenstand hat eine eigene Farbe, Größe, Form, Stofflichkeit und Materialität. Die Anordnung und das Erkennen möglicher Funktionen sowie imaginäre Ergänzungen der Teile zu einem Ganzen bringt Kristallisationskerne hervor, an die sich Gedanken heften und von denen aus Geschichten ranken können.

Der künstlerische Eingriff bringt Kriterien ins Spiel, die anzeigen, dass es um mehr als nur um Dinge geht, die verworfen wurden. Dass Archäologen anhand ausgegrabener Scherben plausible Mutmaßungen über längst vergangens Leben treffen können, ist bekannt. Doch haben die Überlegungen von Julia Kristeva uns den Begriff „abject“ geschenkt. Sie hat ihn analog zu den grammatischen Begriffen wie Subjekt und Objekt gestellt und damit zu Bedenken gegeben, das es Dinge gibt, die noch keinen gültigen Platz im Satzbau haben. Mit Abjekt wird das Verworfene, also das Unsägliche und damit aus der Kultur entfernte, bezeichnet, womit auch die gestörte Zugehörigkeit zum Text angezeigt wird.

Verworfenes einbezogen

Es sieht so aus, als würden Brommas Installationen Anschauung über dieses Feld liefern; denn mit dem Aufheben des Weggeworfenen unternimmt die Künstlerin den Versuch, die außerhalb der Kultur gelandeten Objekte wieder in den kulturellen Gebrauch einzubinden. Die Künstlerin befördert das Verworfene in den Erfahrungsraum, der den Diskurs über Grammatologie für Nicht-Philosoph*innen ergänzt. Einen Zugang könnten Anekdoten des Findens bahnen und die Erinnerungen an die Fundorte könnten Geschichten iniziiren. Gelangen dann die gesammelten Gegenstände nach einer Zwischenlagerung im Künstleratelier in einen Ausstellungsraum beginnt mit dem Aufbau der Installation eine neue Phase von Präsenz und Bedeutung. Die Objekte bekommen durch die handelnde Künstlerin (Subjekt) einen Platz im Raum und in der Zeit zugewiesen. Ihre Exposition und ihre Nachbarschaft innerhalb der Installationen löst neue Zusammenhänge aus und begleitet von der Neugierde des Publikums wachsen möglicherweise erste Sätze einer neuen Erzählung.

BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023
BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Selbst wenn zunächst noch Kriterien, Diskurse und Begriffe fehlen und es schwerfällt, über die Gegenstände und die Installationen zu reden, hat die Künstlerin als Fachfrau des Ästetischen einen Anfang gemacht. Ihre Kompetenz hilft dem Publikum auf die Sprünge. Vielleicht wird dadurch die Entscheidung befördert, etwas bewußt anzuschauen, wenn nicht wiederzuverwenden, statt es achtlos wegzuwerfen. Nachdem die Teile durch Installationen und Worte in einen räumlichen und zeitlichen Kontext gebracht wurden und zum Bestandteil des Bewußtseins geworden sind, kann aus einem Stück Abfall eine Ressource werden, ehe es die Flüsse hinunter ins Meer gespült wird und sich mit anderen unter die Räder geratenen überschüssigen Gegenständen zu einer schwimmenden Insel in den Ozeanen vereint, um dort ein dubioses Biotop zu begründen.

Mitlerweile glauben nur noch Idioten, den Verbleib der immer größer werdenen Abfallmengen und der darin enthaltenen problematischen Stoffe im Griff zu haben. Seit Jahrzehnten wächst der Druck auf die Mächtigen, zu erkennen, dass es nicht mehr reicht, die Stoffe zu sammeln, um sie „thermisch zu verwerten“ oder zu deponieren. Das war möglich, weil sie aus dem Blickfeld genommen und der Sprache entzogen wurden. Daran konnte die Praxis anschließen, die als Wertstoffe gesammelten Dinge durch Export zu entfernen. Durch Pseudo-Recycling überließ man sie mit Profit dem Zufall und schadete dem organischen Leben nach ihrer Produktion noch ein zweites Mal.

Produkte aus Abfall zu gewinnen und sie in anderer Form weiter zu nutzen, erfordert Wertschätzung, die Künstler*innen und Handwerker*innen ihnen teilweise schon früher verleihen konnten. Diese setzt aber eine ästhetische Beurteilung voraus, die schon seit Jahrzehnten dazu führt, Abfällen in die Herstellung und Reparatur von Objekten einzubeziehen, bis diese Praxis endlich auch Eingang in die Diskurse fand.

Literatur:

Einen Anfang machte Michael Thompson mit Rubbish Theorie. The creation and destruction of value. Oxford Univ. Press 1979, dt.: Die Theorie des Abfalls, Stuttgart 1981. Den Autoren der Themenhefte Theorie des Abfalls und Müllkunst, Kunstforum, Bd. 167 (2003) und Bd. 168 (2004) zufolge, nehmen die mit Abfall produziierenden Künstler die Überforderung des Einzelnen durch den Abfall aus der zunehmenden Überproduktion im auf Wachstum ausgerichteten Kapitalismus zum Anlass, immer größere Mengen von Müll in ihrer Kunst zu verarbeiten. (Kathrin Luz, Strategien gegen die Überproduktion, Bd. 167, S. 118-135. Sie geht u.a. auf Nancy Rubins, Jonathan Meese und Rirkrit Tiravanija ein.) Als Spezialformen von Überproduktion und Vernichtung sind zudem noch Krieg, Terror und Genozid zu nennen, die sowohl als Wert vernichtender wie auch als Wert schaffende menschliche Tätigkeit wirken.

Zu „abject“ Julia Kristeva, Pouvoir de l’horreur. Paris 1980, engl.: Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982

Netze und Inseln

Das Besondere bei Bromma ist die Verteilung der Gegenstände im Raum, wobei auch ihr Gewicht, ihre Beschaffenheit und die Vielfalt der Materialien eine Rolle spielen. Speziell ist auch die Verwendung einer dünnen roten Kunststofffaser, die die Künstlerin aus einem achtfaserigen Faden zieht, den sie 1998 bei einem Studienaufenthalt in Island erwarb. Diese Faseranekdote führt zu zwei Themen: dem Netz und dem Inselhaften.

BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023
BROMMA-RAUM, 2023, Installation von Antje Bromma, Hamburg, ABC-Straße 19, bis Okt. 2023, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2023

Alle Fundstücke werden in die Faser eingeknotet und so locker im Raum verteilt. Wenn die Installation später abgebaut wird, entstehen Verklumpungen, die wie Inseln in die jeweils folgende Vernetzung mit neuen Objekten eingebunden werden. Innerhalb solcher Inseln verschmelzen Objekte zu Konglomeraten, die es erschweren, Einzelheiten und individuelle Besonderheiten zu unterscheiden. Diese Unübersichtlichkeit kann als eine Metapher für Menschenmassen und die von ihnen produzierten, konsumierten und benutzen Dinge gesehen werden, die die Megacities der Welt kennzeichnen, wo Anhäufungen und Verdichtungen individuelle Besonderheiten relativieren und es Außenstehenden erschwert wird, diese zu unterscheiden.

Was von Weitem aber wie eine amorphe Verklumpung aussieht, zeigt sich aus der Nahsicht als Gespinnst von Gegenständen und ihrer kulturellen Verbundenheit mit den Menschen, was Kombinationsmöglichkeiten nahelegt und die Koexistenz zum Prinzip erhebt.

©Johannes Lothar Schröder