Eine Performance in Zeiten der Epidemie fotografieren

Am 30. Mai 2020 lud Ilka Theurich zur atelier:performance #27 von Sigtryggur Berg Sigmarsson in ihr Studio in Hannover ein.

Coronabedingt finden alle Veranstaltungen dieser Serie 1:1 mit nur einem Zuschauer statt und dieses Mal fiel die Wahl auf mich. Ich wählte die Fotografie mit einer digitalen Spiegelreflexkamera zur Dokumentation. Als Objektive verwendete ich ein Weitwinkel- und ein Telezoom (24-80 mm und 100-240 mm) von Zuiko.

Mit Sigtryggur traf ich einen Zeichner und experimentellen Musiker, von dem ich bisher nur you-tube-Videos gesehen hatte. In den ersten zwei Teilen des Programms mit ghostriders und das ist keine Musik begegnete mir ein bis zur Ekstase singender und in der Art eines Dirigenten agierender Mann. Dass er nicht auf einer Bühne stand, sondern wir uns auf einer Ebene – auf dem Estrich eines Studios – begegneten, ließ nie das Gefühl von Musiktheater aufkommen. Ich spürte also nicht den Druck eine Kluft wie z.B. die zwischen Bühne und Zuschauerbereich überbrücken zu müssen. Dafür musste ich teilweise auf die Knie, um die Kamera in die Körpermitte des Performers zu bringen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Vor mir agierte ein bildender Künstler seine ganz eigene Faszination an den darstellenden Künsten aus. Sie erlaubte ihm, die Exaltiertheit von Stimmen und Gesten frei zu interpretieren. Das war nicht der Alltag von Bühnenkünstlern, sondern Sigtryggur Berg Sigmarsson. Ich hatte ihn hier in dieser besonderen Situation als ein Modell im Studio vor der Kamera und konnte die Spannung zwischen der Bühnen- und Studiosituation nutzen, um seine Interpretationen der verschiedenen Genre durch Übersteigerung von Gesten und Körpersprache bis hin zur Parodie besser zu verstehen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Nachdem ich mich auf Raum, Licht und Performer eingestellt hatte, und ich mich ganz der Aktion zuwenden konnte, lief die Arbeit trancehaft ab. Vielleicht verbrachten wir zwischen einer und zwei Stunden zusammen. (Fünf Wochen später habe ich schon mindestens doppelt so viel Zeit mit den Fotos verbracht und muss dringend schriftlich die Unmittelbarkeit des Life-Erlebens niederlegen, ehe die Standbilder das Geschehen auf eine Auswahl von Momenten zuspitzen.)

Sigmarsson, the important little man, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Im zweiten Teil der Session präsentierte Sigtryggur einen Stapel Pastellzeichnungen und gab sich als Darsteller verschiedener Kunstvermittler zu erkennen, indem er sich der für Künstler oft unangenehmen Aufgabe stellte, einem Publikum zu erklären, um was es auf den Bildern geht oder wer oder was dargestellt sein soll. Mit wenigen Worten wurde Blatt für Blatt und Motiv für Motiv einzeln vom Stapel genommen und charakterisiert. Ich könnte jetzt keine Details der Beschreibungen, Benennungen und Interpretationen mehr nennen. Ich sah vielmehr neben den farbigen Pastellzeichnungen, aus deren Strichgewirr sich Gesichter mit Attributen herausschälten, jeweils neben den Gesten und den Mimiken der Vermittlung. Blick, Objektiv und Gedanken blieben an den Rollen hängen, die ich dort mit jedem Blatt in leichten Varianten kurz aufscheinen sah. Ich jagte ihnen im Sportfotomodus der Kamera nach. Dabei konnte ich unter all den verschiedenen gemimten und mit Gesten angereicherten Charakteren – die Performance hieß the important little man – augenzwinkernde Künstler, charmante Museumsführer, gerissene Verkäufer, gefällige Kunstsachverständige, joviale Galeristen oder zynischen Wissenschaftler und andere Vermittlerfiguren entdecken. 

@johnicon

Dokumentation auf: https://atelierperformance.blogspot.com/2020/06/atelierperformance-27-sigtryggur-berg.html

Weitere Fotos auf Instagram: @studio.ilka.theurich und @sigtryggurberg (9.Juni)

Bleistifte & Maschinengewehre

(please scroll down for an English version!)

Altäre aus Stiften, Kugelschreibern und Pinseln für die ermordeten Zeichner und Redakteure von Charlie Hebdo hat die Welt wohl noch nicht gesehen, und die Schlangen vor den Kiosken, die sich am Morgen des 14. Januars bildeten, sind bisher vielen jüngeren doch nur noch vom Hörensagen bekannt gewesen. Der Anschlag vom 7.11.2015 auf die Redaktion des Satire-Magazins hat im Wettstreit zwischen digitalen und analogen Medien die Printmedien aufgewertet. Und vielleicht deuten die zahlreichen Demonstrationen für die Pressefreiheit allerorten sogar ihre Renaissance an.

Screenshot aus der Sendung der ARD 11.1.2015

Screenshot aus der Sendung der ARD 11.1.2015

Bleistift und Pinsel wurden Symbole der Freiheitsbewegung die in einem Plakat gipfelte, das in Paris am 11. Januar 2015 erhoben wurde. Es zeigte das Bild eines Bleistifts mit dem Zitat von Arlo Guthry: „Diese Maschine kämpft gegen den Krieg!“

Bleistift und Pinsel im Zeitalter des Terrorismus?

Bleistift und Pinsel sind geistige Werkzeuge, die physisch benutzt werden. Sie ermöglichen ihren Nutzern unabhängig von Elektrizität und der Infrastruktur des Netzes mit geringen materiellen Mitteln unmittelbar in Aktion zu treten und, wie sich immer wieder von neuem zeigt, eine geistig und politisch weitreichende Wirkung zu erzielen. Auch sind sie mit dem Zeichner, einer Illustratorin oder einem Cartoonisten eng verbunden. Allerdings erfordert es eine akademische oder autodidaktische Ausbildung und viel Übung, um die Mittel gut und aussagekräftig einsetzen zu können. Die Ergebnisse sind auch in Zeiten von YouTube, Twitter und Facebook von einer noch nicht übertroffenen Qualität. Diese muss sich auch den Attentäter auf die Redaktion von Charlie Hebdo erschlossen haben, weshalb es ihnen nicht reichte, die Auslieferung einer Zeitschrift zu verhindern. Nein. Sie gingen direkt gegen die Zeichner und Redakteure vor, ohne die ein Stift nicht zeichnen kann. Was sie nicht berücksichtigten, ist die Tatsache, dass die Benutzung von Pinsel und Stift eine seit Jahrtausenden angewandte Kulturtechnik ist, die in Schulen und auf Akademien gelehrt wird. Angesichts dieses ungehobenen Potentials aller zum Zeichnen Befähigten und der allgemeinen Verbreitung von Zeichenstiften besteht große Hoffnung in Zeiten der um sich greifenden Verbreitung von Schusswaffen.

Schon die Wandzeichnungen in der Höhle von Lascaux waren heilig, so dass der Zugang beschränkt war, auch weil sie im Dunklen nur partiell und von wenigen gesehen werden konnten. Seit damals sind Verbergen von Zeichnungen und ihr Schutz Teil der Kunstrezeption, die im Zuge der bürgerlichen Umwälzungen (z.B. Säkularisierung des öffentlichen Lebens, öffentliche Museen und Universitäten) weiterentwickelt worden sind.