Als Zeitmessungen lokal waren

Christian Marclay: The Clock, 24 h (2010) in der Nationalgalerie Berlin

Mehr als ein Jahrzehnt mussten wir uns gedulden, bis zunächst in Stuttgart und jetzt in Berlin der Film The Clock von Christian Marclay in der Nationalgalerie läuft. Noch bis zum 25. Jan. 2026.

Achtung: Eine 24-stündige Projektion beginnt am 2. Januar 2026 ab 10 Uhr!

In den fünf Stunden, die ich mit The Clock verbracht hatte, standen in kurzer Folge Wand-, Armband-, Bahnhofs-, Gesims-, Taschen-, Turm-, Tisch-, Spiel-, Stech- und Standuhren, sowie Wecker, digitale Uhren oder Displays für Zeitsteuerungen vor meinen Augen. Marclay hat derartige Clips mit anzeigter Zeit und Gesprächen über die Uhrzeit aus Tausenden von Kinofilmen so dicht montiert, dass die jeweils angezeigte Zeit synchron mit der tatsächlichen Uhrzeit als ein 24-stündiges Video gezeigt werden kann. In der Nationalgalerie ist The Clock während der Öffnungszeiten zwischen 10 und 20 Uhr zu besichtigen. Nur noch einmal gibt es in Berlin die Gelegenheit, auch zu sehen, was die Filmgeschichte an Szenen mit Uhrzeiten abends, während der Nacht und am Morgen, also in den übrigen 14 Stunden zwischen 20 und 10 Uhr bereithält, und zwar ab Freitag, den 2. Januar 2026 ab 10 Uhr.

Unterhaltung rund um die Uhrzeit

Dieser unglaubliche Ritt durch die Uhrzeiten in verschiedenen Epochen aus allen Jahrzehnten des Kinos wird dank gekonnt gereihter Clips zu einer kunstvollen Ton- und Bildkomposition, die zum genussvollen Betrachten einläd. Nicht nur Cineasten kommen auf ihre Kosten. Geiselnahmen, Verfolgungsjagden und feiernde Gesellschaften sowie der Kampf um die täglichen Mahlzeiten werfen Schlaglichter auf unterschiedliche Bewertungen der Pünktlichkeit und machen neugierig auf mehr Kinogeschichte. Man hört Ausreden, erlebt geplatzte Verabredungen, wird Zeuge von Abschieds- und Begrüßungsritualen am Zug, am Bus, am Auto oder auf Flughäfen. Zuschauer sind dabei, wenn Überfälle mit einem Uhrenvergleich beginnen oder Augenblicke der Befreiung nach Schulstunden, Gefängnisaufenthalten, Schichten oder einem langen Arbeitsleben näher rücken. Schicksalhaft laufen Bewerbungsfristen ab oder glückliche Wendungen eröffnen eine zweite Chance.

Mein persönliches Highlight war Harold Lloyd in Safety Last! (1923) an den Zeigern der Kaufhausuhr. Zwischen 19:12 und 19:17 zeigt eine mehrmalige Rückblende zwischen anderen Episoden, wie eine vergessene Zigarette im Aschenbecher verglüht und um 19:50 h stellte Bruno Ganz seine Armbanduhr bei einem Hamburger Elektrohändler nach einer Fernsehuhr.

Das Verschwinden der öffentlichen Uhren

Uhr in der Halle des Bahnhofs in St.Gallen

Kinogänger wissen es. Die Wahrnehmung verändert sich, nachdem man von einem Film gefesselt wurde. Aus dem Kinosaal tretend, werden Farben, Bewegungen, Interaktionen intensiver. Auch Gesichter, die man gewöhnlich übersehen würde, öffnen sich und erzählen. Und, falls man es eilig hat, findet man seinen Weg müheloser durch die Menschenmenge. Was aber ist, wenn auf den Gehwegen vor den Innenstadtkinos gar kein Gedränge herrscht? Aus der Nationalgalerie in Berlin kommend, die zwar kein Kino ist, in die aber eigens ein Kinosaal für die Vorführung von The Clock eingebaut wurde, steht man jedoch in den frühen Abendstunden auf einem leeren Gehweg im verlassenen Kulturforums. Der sinnessteigernde Nachhall des Films bleibt aus. Erst auf dem Potsdamer Platz deutet sich dank der zurückgekehrten Dynamik durch abendlichen Verkehr eine Verschiebung der Nachwirkung des Films an.

Hauptbahnhof in Berlin, Dez. 2025

Auf dem Platz fällt tatsächlich der Blick auf die rekonstruierte ikonische Uhr aus den 1920er Jahren, deren Original auch filmisch präsent geblieben ist. Auf der aktuellen Suche nach einem Lokal bleibt sie die einzige öffentliche Zeitanzeige. Wenn es auf Pünktlichkeit angekommen wäre, hätte ich mein Smartphone aus der Tasche ziehen müssen. Nur auf den Bahnsteigen gab es sie noch – Bahnsteiguhren. Doch schon auf dem Weg aus der S-Bahn-Katakombe zur Straßenbahn fehlten genaue Zeitanzeigen. Nun war der Hauptbahnhof nicht mehr weit. Hinter seiner gläsernen Portalfassade hing ein großer leerer Kranz. Der dort saisonal vertikal platzierte Adventskranz hatte nicht einmal mehr Kerzen und verdichtete den Eindruck, dass uns hier eine Zeit ohne Zeitmessung begegnet. Walter Benjamin hatte in den „geschichtsphilosophischen Thesen“ erwähnt, dass die Revolutionäre in Paris unabhängig voneinander auf die Zeiger verschiedener Turmuhren geschossen hätten, was die Ankunft einer neuen Zeit manifestiert habe. Marclays Film könnte so ein ikonoklastischer Aspekt innewohnen. Er wäre damit auch ein Abgesang auf die analoge Zeitanzeige, denn heute ersetzen kleinste elektronische Bauteile mit Zeitfunktion in allen Devices physische Uhren. Displays, mit denen elektronische Geräte, Verkehrsmittel und Haushaltsgeräte ausgestattet sind, können jede Information anzeigen. Zeit wird damit zum inhärenten Bestandteil, die alle Geräte, die damit auch ihre Nutzer vernetzen und in ein holistisches System einbinden. Die episodische Lokalzeit, die das Kino nicht zuletzt durch die Klappen schon beim Dreh regierte, ist im Niedergang gegriffen, womit The Clock ihr Abgesang wäre.

Analoge Drehzahl- und Geschwindigkeitsanzeige und digitales Display in einem PKW

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