Kriegswütige Männer + Kunstverweigerer

Hugo Ball über Hans Leybold

Vor 100 Jahren zog eine Generation junger Männer blindwütig in die Schlachten des Weltkriegs. Einen von ihnen – Hans Leybold – hob sein Freund Hugo Ball am 12. Februar 1915 in einem Nachruf im Architektenhaus in der Berliner Wilhelmstraße 92-94 den Streitsüchtigen und Scheiternden hervor. „Die weißen Blätter“ druckten den Text im April 1914 in der Rubrik „Glossen“ ab.

Ball erinnerte an die Versuche, mit denen sich der junge Schriftsteller – stellvertretend für die nach vorne strebende Gruppe – zu profilieren versuchte: »Inzwischen verspritzten wir Glossen und Gedichte, nach allen Seiten. „Die Revolution“ verkrachte nach 5 Nummern. Leybold wurde nacheinander Mitarbeiter des „März“, der „Aktion“, der „Zeit im Bild“, der „Tat“. (…) Er fiel Athleten an, Kunstturner, Studenten, Cafétiers und stiftete auf diese Weise eine Art abgekürzter Polemik. Er hielt es für ganz unwichtig, Literatur zu machen und für sehr schwer, ein deutscher Schriftsteller zu werden, weil das eine contradictio in adjecto sei.

Aber das alles half ihm nicht. Eines Tages, mitten ihm (sic!) Krieg stürzte er vom Pferd, vor der Stadt Namur, kam zurück nach Berlin, pflanzte einen Vollbart ins Café des Westens und begab sich in seine Garnison Itzehoe, von wo er depeschieren ließ, er sei mit dem Tode abgegangen.“

Nach Erhalt des Heftes beschwerte sich Ball über die redaktionellen Kürzungen in einem Brief: „Die – stilistisch – spitzesten Sachen sind weggefallen. Die Sache sieht aus wie eine geköpfte Distel. Ich ärgere mich sehr.“

Un-Künstler

Contradictio in adjecto, ein Widerspruch gegen das Substantiv durch das Adjektiv, bezeichnet ein Phänomen, das heute in der Diskussion über Verweigerungskunst wieder aktuell geworden ist, nachdem sich Kritiker auf die Suche nach Künstlern gemacht haben, die sich weigern, beim Kunstproduzieren mitzumachen. Trotzdem setzen sie sich mit Kunst auseinander, wodurch letztlich doch etwas hervorgebracht wird. Welches Begriffspaar könnte diese künstlerische Haltung adäquat zu bezeichnen? Wie könnte in diesem Fall das passende Oxymoron lauten?

Allan Kaprow hatte 1971ff mit drei Aufsätzen über die Ausbildung zum Unkünstler („The Education of the Un-Artist“ in der Art News) versucht, dieses Phänomen sogar als Ziel der Kunstausbildung zu fassen. Darin sagte er zahlreiche Tätigkeitsfelder z.B. aus dem Bereich des Sports und der Freizeit voraus, die heute von erfolgreichen Unternehmen bedient werden.

Wenn man darüber nachdenkt, wie viele Anregungen aus der Kunst in die Alltagswelt eingeflossen sind, ist nicht mehr unbedingt die Verweigerung des Kunstmachens ein Oxymoron, sondern die Tatsache, dass Relikte der Verweigerung von Kunst Einzug in Ausstellungen, Sammlungen und ins Museum erhalten haben.

Die gemeinsame Emanzipation von Performance-, Medien- und Frauenkunst

Auf einem Podium über die Ausstellung feministischer Kunst in der Hamburger Kunsthalle am 23. April 2015 stellte Claudia Reiche als Moderatorin mehrfach die Frage nach der Fortführung der Positionen der 1970er Jahre in die Runde mit Kerstin Cmelka, Hanne Loreck und Annegret Soltau und fragte auch nach der Rechtfertigung des kriegerischen Avantgarde-Begriffs. Die Antworten der drei Generationen gaben Auskunft über die eigenen Erfahrungen mit dem Impuls der 1970er, doch blieben weitergehende Gedanken auch mangels Konkretion der Fragen durchweg hinter dem schon Bekannten zurück.

„The Amazing Decade“

Die Vorstellung von Avantgarde betreffend sei an den durchschlagenden Titel des Buches von Moira Roth The Amazing Decade erinnert, das 1983 bei Astro Artz in Los Angeles erschienen ist. Im englische Adjektiv amazing, das ‚überraschend‘ bedeutet, klingt zugleich auch Amazone an, was in der englischsprachigen Literatur auch für eine starke Frau (Amazon) benutzt wird und heute von einem Online-Händler vereinnahmt worden ist. In diesem Buch über Performances von Künstlerinnen in den 1970ern, wird der Impuls von Frauen als entscheidender Beitrag dieses Jahrzehnts herausgestellt. Diese früh erfolgte theoretische und historische Klärung des Beitrags von Frauen für die Kunst ist beispiellos und hat neben den Beiträgen von Lucy Lippard dazu beigetragen, die amerikanische Kunst nach der Abstraktion und Pop Art aus weiblicher Sicht in Position zu bringen.

Die Diskussion in Hamburg machte nun 30 Jahre später den Versuch, die Positionen von Künstlerinnen ohne einen Blick auf die sich parallel entwickelnde Performance-Art zu bestimmen. Obwohl die Ausstellung voller Fotos hängt und durch zahlreiche Videos ergänzt wird, blieb auch die zunehmende Bedeutung von Medien wie Fotografie und Video für die Selbsterforschung, -beobachtung und –darstellung unberücksichtigt. Daher war man nicht in der Lage, die Äußerungen von Annegret Soltau aufzugreifen, die seit ihrer Studienzeit reproduzierende Medien benutzt. Sie begann mit Druckgrafiken und dokumentierte ihre Aktionen später mit und vor der Kamera, womit eine künstlerische Brücke zu Videoarbeiten der 1974 geborenen Kerstin Cmelka bestand. Der sich hier bietende Einstieg blieb leider offen.

Die Chancen des Undefinierten

Ohne den Weg über die Bedeutung der bildgebenden fotografischen und elektronischen Medien lässt sich nicht verstehen, dass die fehlende Anerkennung dieser Techniken in den 1970ern die Künstlerinnen von vorne herein aus der damaligen Kunstwelt ausschloss. Das Positive daran war, dass die Geschichte der Neuen Medien damals noch nicht geschrieben war, weshalb ihr für die Emanzipationsbestrebungen große Bedeutung zukam; denn sie waren vom – damals durchweg männlichen – Kunstestablishment noch unbeleckt. Auf den noch nicht durch Definitionen umrissenen Freiraum hatte damals zuerst Ulrike Rosenbach hingewiesen, die diese Erkenntnisse bei ihrem Aufenthalt in den USA gewonnen hatte, wo die feministische Szene mit politischen AktivistInnen vernetzt war. Bündnisse zwischen fortschrittlicher Kunst und Politik waren in Deutschland dagegen wegen der Vorbehalte der Linken gegen Kunst und neue Technologien schwierig oder gar nicht möglich, wodurch die Durchschlagskraft der alternativen Bestrebungen in der Kunst stark eingeschränkt war. Selbst für die von Männern bestimmte Szene um Joseph Beuys gab es bei den Grünen wenig Resonanz, und Künstlerinnen, die wie Rosenbach Professorin in Saarbrücken wurden, konnten alleine in einer überwiegend kommerziell bestimmten Kunstlandschaft wenig erreichen. Die Resonanz musste über den Markt errungen werden, was sich auch daran zeigt, dass in Hamburg 45 Jahre später mit dem Titel „Feministische Avantgarde der 1970er Jahre“ aus einer Sammlung präsentiert wird.

Eigene Institutionen setzen Positionen durch

In den USA wurden dagegen in den 1980ern von Frauen starke Zentren gegründet und geleitet, von denen nur The Womens Building von der Künstlerinnengruppe The Waitresses in Los Angeles explizit feministisch ausgerichtet war, alle anderen jedoch zur Durchsetzung von alternativen Künsten gegründet worden waren: Dazu zählen die Zeitschrift High Performance (Claire V.C. Peeps, Linda Burnham) in Los Angeles; Franklin Furnace (Martha Wilson) und New Museum (Marcia Tucker) in New York City. Diese dienten der Durchsetzung von Performance- und Medienkunst und dienten damit auch dem Anliegen feministischen Kunstschaffens. Dagegen mussten die Protagonistinnen in Deutschland auf den Erfolg des „Marschs durch die Institutionen“ bis nach der Wende warten, als erste Professorinnen einflussreiche Positionen erringen konnten und die Performance-Forschung auch in Deutschland eine akademische Disziplin wurde. Eine Ausnahme stellt die 1981 von Elisabeth Jappe und Alf von Kries gegründete Moltkerei in Köln dar.

Parallel zu den wissenschaftspolitischen Entwicklungen ist es nicht ohne Spuren geblieben, dass Künstlerinnen auf der Suche nach Identität – und diese Frage wurde auch in dieser Diskussion gestellt – das Persönliche und Private thematisiert haben. Auch wenn diese Position weiterhin als un-künstlerisch kritisiert wird, so zeigt sich, dass das Private in der Kunst das Bewusstsein für den Wechsel zwischen den verschiedenen Rollen und Funktionen geschärft hat, die die meisten von uns im privaten, öffentlichen und beruflichen Leben nicht selten innerhalb eines Tages einnehmen. Diese erfordern mehr oder weniger wechselnde äußerliche und innerliche Dispositionen, denen durch Verhaltensweisen, Bekleidung, Haltung und Umgangsformen entsprochen wird. Insofern entstand durch diesbezügliche Recherche und Dokumentationen ein Bewusstsein für den nicht nur in einem Lebenszyklus sondern permanent sich verändernden Körper. Und diese seine performance und Darstellung ist ja wohl seit jeher ein Thema der Kunst. Kein Wunder also, dass Performa in New York City (organisiert von RoseLee Goldberg, on twitter: @performaNYC) sich dieses Jahr dem Thema Renaissance widmet.

Johannes Lothar Schröder

Ausstellung » Feministische Avantgarde der 1970er Jahre. Werke aus der SAMMLUNG VERBUND, Wien« Kunsthalle Hamburg noch bis 31. Mai 2015

Spiel und Ritual

Le sacre de printemps von She She Pop?“ fragte ich mich. „Nach Sasha Waltz jetzt auch She She Pop nach der Musik von Igor Stravinskij?“ Also schaute ich mir das Stück einfach mal an.

Das das Thema Frühlingsopfer weckten Erwartungen genauso wie die hochformatigen Leinwandstreifen, die im offenen Bühnenraum hingen und den Seufzer auslösten: „Schon wieder Video auf der Bühne!“

Dann begann das Stück mit einem ganz persönlichen Statement über Mütter und ihre einvernehmende Art, die viele kennen, erleben oder erlebt haben. Doch sagten die PerformerInnen auch, dass sie gar nicht viel sprechen wollten. Dadurch blieb der Ball flach und man sah entspannt zu, wie sie mit Stoffen, Gegenständen und einem schweren Seil einen Kreis vervollständigten, den die unten bogenförmig abgeschnitten Leinwände perspektivisch vorgaben. Das war ein wichtiges Statement, um mit möglichst knappen Mitteln einen Ritualplatz zu schaffen und zugleich zu signalisieren: Seht her! Wir lösen die Vorgaben mit visuellen Mitteln. Unser Opfer ist kein getanztes Ritual!

Wie geschickt die abwesenden Mütter virtuell in das Geschehen im Bühnenraum einbezogen worden waren! Die Leinwände waren kein Störfall des Theaters mehr, sondern mit den darauf projizierten Müttern konstituierende Bestandteile des Stücks, die den Status von Akteuren bekamen. Im Wechsel traten die KünstlerInnen vor die gigantischen Mütteridole, richteten sich an sie, drehten ihnen den Rücken zu, umgingen sie, traten zwischen sie und standen hinter ihnen. Sobald die PerformerInnen wieder hervortraten ließ sich der Kreis auch unmerklich zum Publikum hin öffnen. Wer wollte, konnte aus der eigenen Rolle als Kind bekannte Anteile an der einen oder anderen Mutter wiederfinden. Der Kreis wurde durch rhythmische Wechsel immer wieder  durchbrochen, unterbrochen, durchkreuzt, ergänzt und geöffnet. Von Szene zu Szene entstand spielerisch ein Bild von einem Ritual, dessen Wirklichkeit uns in weitgehend profanen Gesellschaften lebenen Zeitgenossen fremd geworden ist. Der in der Performance-Forschung einmal viel diskutierte Ritualbegriff stand auf einmal ohne Getue und Rauch auf der Bühne.

She She Pop: Rules. Die Veränderung, am 19.6.2003 im Kunstverein in Hamburg, foto: johnicon

She She Pop: Rules. Die Veränderung, am 19.6.2003 im Kunstverein in Hamburg, foto: johnicon

Kunst und Leben

Ich sah She She Pop erstmals 2003 mit Rules. Die Veränderung im Kunstverein in Hamburg, weshalb das aktuelle Stück für mich noch eine weitergehende Bedeutung hatte, als die im Publikumsgespräch (in Hamburg auf Kampnagel) thematisierten Erfahrungen von Müttern und Kindern. Für mich war es eine Wiederbegegnung mit den PerformerInnen im Abstand von 12 Jahren, in denen sie sich entwickelt haben. Einige von ihnen ziehen inzwischen selbst Kinder groß, wissen also, wovon sie sprechen oder lieber schweigen. Sie haben sich auf dem Weg durch ihr Leben sichtbar und unsichtbar verändert, doch bleiben für mich die Ansätze des vom sportlichen Zusammenspiel abgeleiteten Bewegungsrepertoires erkennbar, das ich als Zuschauer und als Fotografierender vor 12 Jahren so intensiv wahrgenommen hatte und so sehr mochte.

Dabei gewahrte ich mich auch selbst und fand mich 12 Jahre älter und zwischen ihnen und der Generation ihrer Eltern wie ein Gast auf einem Familienfest wieder, das für manche auch heute noch eines der wenigen lustvollen oder stressigen Rituale ist. Diese Rückerinnerung hatte für mich ein das Theaterspiel auflösendes Moment, und schuf ein starkes Gefühl der Aufmerksamkeit und Gegenwart, ja auch der Zugehörigkeit. Ich dachte dabei an die Anstrengungen, die mit Happenings unternommen worden sind, die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufzulösen. Man spricht heute nicht mehr darüber. Aber She She Pop ist die Synthese gelungen.

Ein Trailer mit entscheidenden Szenen unter: http://www.sheshepop.de/produktionen/fruehlingsopfer.html