Prost Kippi zum 60sten!

„Very good/Sehr gut“ im Hamburger Bahnhof (Berlin) noch bis zum 18. August 2013

Martin Kippenberger wäre am Montag, den 25. Februar 2013 sechzig geworden. Ich werde eine Tasse auf ihn heben. Gleichaltrig – ist mir sein Exzesses geläufig, denn wir wuchsen im Schatten des verlorenen Krieges mit traumatisierten Eltern und kettenrauchenden Verwandten sowie unter dem Fallout von Atomtests auf, was die Aussicht auf ein langes Leben nichtete. Wir konnten nicht ahnen, dass Atomwaffen und die waffenstarrenden Armeen vor und hinter dem Grenzzaun den Frieden erzwangen. Uns bedrückte das nur, und die Kubakrise ließ uns 1964 den Schrecken in die Knochen fahren. Das Alter von 11 Jahren, in dem man noch an Helden glaubt, war von der Erfahrung der Machtlosigkeit geprägt. Das Wirtschaftswunder lenkte eventuell unsere Eltern ab, aber spendete uns keinen Trost. Am 18. Geburtstag habe ich Halbzeit gefeiert. Für Kippenberger, dessen Leber 1997 den Dienst aufgab, kam das ungefähr hin. Rastlos im Leben und Schaffen hat der Sohn eines Industriekapitäns das alte belgische Sprichwort „alcohol is een langzaam gift, maar we hebben tijd.“ außer Kraft gesetzt. Viel Zeit haben sich jedoch die Kuratoren gelassen, die Kippenbergers Unberechenbarkeit und seinen Sarkasmus aus Angst vor Blamage fürchteten. Erst seit Freitag wird er im Hamburger Bahnhof in Berlin erstmals in Deutschland mit einer Retrospektive (bis August 2013) gewürdigt. Dort haben Entschärfer und Beschwichtiger dem gekreuzigten Frosch die Herrenwitzfrage „Was unterschied Jesus und Casanova?“ aus dem Titel gestrichen. Die lackierte Holzskulptur heißt nun politisch korrekt: „Füße zuerst.“ Darauf kann man nicht antworten: „Das Gesicht beim Nageln.“

Ein Blick zurück auf eine Jugend im verheerten und verrohten Deutschland

Die Führerin in den Rieckhallen im Hamburger Bahnhof erzählte den Besuchern, dass Kippenbergers Mutter von Paletten erschlagen worden wäre, die aus einem in einer Kurve an ihr vorbeifahrenden Lastwagen herabfielen. Ich hielt das zunächst für eine Künstlerlegende, doch der Blick in die Literatur bestätigte dieses Drama, das ein Schlaglicht auf das Leben eines Kindes in den 1950er und -60er Jahren in Westdeutschland wirft. Dort herrschte immer noch die Rohheit des Krieges, in dem sich das Bewußtsein für Sicherheit verschoben hatte; konnte doch die Lebensgefahr im Alltag – gemessen am noch nicht weit zurückliegenden Krieg – eher gering eingestuft werden. Aus unserer heutigen Sicht war die damalige Haltung gegenüber Risiken überaus lax.

Die Auswirkungen der Sorglosigkeit auf ein unverdorbenes und – gemessen an den Erlebnissen der Kriegsgeneration – auch ungegerbtes Gemüt war verheerend und entsprach etwa der Wirkung der heruntergekommenen und demoralisierten Gestalten, mit denen die in Trümmern liegenden Städte sich bevölkert hatten. Kaum jemand hat diese Bedingungen genauer wahrgenommen als die wachen Augen und der wortgewaltige Intellekt der Hannah Arendt, die einige deutsche Städte durchstreift hatte. Jedem ihrer Sätze über die Szenen und Zustände, die sie beobachtete, ist das Entsetzen über die heute kaum noch nachvollziehbaren Veränderungen anzumerken, die sie registriert hatte, nachdem sie zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt in ihre verheerte und verrohte ehemalige Heimat zurückgekehrt war.

Exportierte Studiosituationen

Anna Oppermann

Die Definitionsversuche zum Ensemble, die Anna Oppermann vorgenommen hat, sind eine präzise Bestandsaufnahme der Ereignisse in ihrem Atelier. Ihre Äußerungen von 1978 sondieren ihre Arbeit mustergültig (Was ist ein Ensemble? Zur Methode, in: Kunstforum international, Bd. 28, 4/1978, S. 148; erneut publiziert in: Anna Oppermann. Ensembles 1968-1992,  Ausstellung Kunstverein Stuttgart, Ostfildern 2007, S. 110-111).

Sie geht von einem „realen Objekt“ aus, das in vier Stadien 1. Meditation (wird nicht verbalisiert), 2. Katharsis (ein erstes „Reagieren“, „Abreagieren“ und „Assoziieren“ ), 3. Reflexion („Zeichnungen und Zustandsfotos…“) und 4. Analyse (Zwischenergebnisse  in Gruppen, interdisziplinäre Recherche und „Formulierung eines ensemblespezifischen Themas“)  zum Ausgangspunkt für ein Ensemble aus Objekten und Materialien mit Schrift und Bild wird. Diese Herangehensweise ist speziell, da die Künstlerin ihr Werk nicht erwartungsgemäß abschließt, sondern es in einem fragilen variablen Stadium der „Analyse“ aufbaut, fotografiert und abzeichnet und mit dem so gewonnenen Material weiter ausbaut. Damit haben sich die Verantwortlichen und das Publikum in jeder Ausstellung von neuem auseinanderzusetzen. Die Ateliersituationen werden besonders auf diejenigen übertragen, die ihre Ensembles posthum erneut einrichten müssen. Hans D. Christ und Iris Dressler sprechen deshalb von „Wiederaufführung“ (Kat. 2007, s.o., S. 11f).

Oppermann legte sowohl in ihrem Text wie auch mit ihren Ensembles die Interna der Arbeit im Atelier offen, was implizit verlangt, dass diese vom Personal der Ausstellungshäuser und dem Publikum nachvollzogen werden. Mit jeder neuen Präsentation wird die Ateliersituation verlängert und an einen neuen Ort exportiert. Die Anordnung und Materialität der Ensembles sorgt dafür, dass die schwer zu fassenden Probleme einer angemessenen Darstellung des Assoziieren im Fluss bleiben, indem an ihnen gearbeitet werden muss. Oppermanns Werk vermittelt eine Erwartung an Personal und Publikum, die erfüllt werden muss, was sie über ihren zu frühen Tod 1992 hinaus zu einer unbequemen Künstlerin macht.

Das Atelier als Schutz vor der Öffentlichkeit

Bruce Nauman

Bruce Naumans Besonderheit liegt darin, dass er seine Arbeit mit dem Körper nach einigen öffentlichen Performances vor Studenten des San Francisco Art Institutes seit Ende der 1960er allein im Atelier fortgesetzt hat. Nauman ist mit seinen Videoaufzeichnungen aus dem Atelier seit ca. 1968 eine Ausnahme, denn die meisten seiner Kollegen haben Video in ihre öffentlichen Performances eingebunden, darunter in Deutschland Ulrike Rosenbach. Mit dieser Aktionsweise außerhalb der Ateliers haben Performance-Künstler das Studio als probaten Arbeitsplatz von Künstlern in Frage gestellt. Sie wenden sich damit auch von dem jahrhundertelang gepflegten Vorurteil ab, dort das Schaffen eines Künstler-Demiurgen nachzubilden. Wenn Nauman zu nächtlicher Stunde wie zur Überwachung mehrere IR-Kameras laufen ließ, so wurde offenbar, dass sich hier zwar heimliche aber keine unheimlichen Dinge ereignen und wenn doch, dann wären dafür die Interpreten verantwortlich, sofern sie in Motten, Mäusen oder in der verstümmelten Katze Animistisches erkennen wollen.

Wenn Künstler ihre Arbeit mit fotografischen oder elektronischen Medien verrichten, ohne deshalb Fotografen oder Filmer zu sein, so nutzen sie einfach die physikalischen Tatsachen, die es ihnen darüber hinaus erlauben, Zeit darzustellen, was mit den traditionellen Mitteln schwer möglich war. Die Staatsgalerie Stuttgart hat die bahnbrechenden Arbeiten von Rudolf Schwarzkogler gleich nebenan in der dem Haus angeschlossenen Sammlung Sohm. Schwarzkogler hatte sich und verschiedene Modelle schon in den 1960er Jahren in seinem Künstlerstudio filmen und fotografieren lassen. Für ihn war und für Bruce Nauman ist das Studio ein Raum, der vor unmittelbaren Publikumsreaktionen, wie der Ohrfeige, die sich Beuys 1964 in Aachen fing, schützt.