Synchronisieren von Aktionen und Zeichnungen
Fotografien und digitalisierte Filme von Aktionen bieten nach Beispielen gestischer Malerei einen Einstieg in diese umfassende Werkschau von Günter Brus. Die Ausstellung Störungszonen
in Berlin im Frühjahr 2016 bot eine seltene Gelegenheit, die Aktionen der 1960er und 70er Jahre außerhalb von Archiven aus einer zeitlichen Distanz in Augenschein zu nehmen. Vor dem Horizont des umfangreichen zeichnerischen Werks des Künstlers, das in acht Sälen des Martin-Gropius-Baus nach Werkgruppen übersichtlich gehängt worden ist, war es möglich, die filmischen und fotographischen Dokumente mit dem „Kopffilm“ des Künstlers zu synchronisieren. So ließen sich die Zeichnungen mit dem aktionistischen Werk in einer Weise verbinden, wie es Brus vor 30 Jahren gegenüber seinem Interviewer Daniel Plunkett geäußert hat: „Die wirklichen Dokumente meiner damaligen Arbeit sind meine Werke von heute und morgen.“ (Kat. G. Brus: Augensternstunden, Van Abbemuseum, Eindhoven, 1984, S. 19)
Das umfangreiche zeichnerische Werk, das Brus als gelernter Typograph anlegt hat und weiterführt, überschreitet – wie die Aktionen selbst – Grenzen. Während Brus als Aktionist durch mit Notizen versehenen Skizzen die Möglichkeiten seiner Aktionen antizipierend erschloss, geht er gesättigt mit den Erfahrungen des Aktionismus den inneren Bildern nach, die seine spezifische Auseinandersetzung mit dem Körper so nachhaltig freigelegt hat, dass sie ihn und damit das Publikum noch lange mit Informationen darüber versorgen werden. Als wesentlich erweisen sich dabei die Verdichtungen typographischer und ikonographischer Inhalte zu Figuren, Konglomeraten, Worten, Sätzen und Texten, die in monumentalen Zeichnungen bis über die Grenzen hin zur Malerei getrieben wurden, wo sie sich vielleicht den Signaturen Cy Twombys nähern. Auf tausenden von Blättern, die bisweilen Wandgröße erreichen, werden die Linien, die mit der Rasierklinge in die Haut gezogen worden sind, bis das Blut Bahnen über Rücken und Schenkeln zog und Tüchern fleckte, mit Blei- Kohle, Graphit, Tinte, Pastell- und Ölkreiden, Filzstiften und Kugelschreibern mit den die Instrumente steuernden Fingern des Zeichners und Dichters ausdifferenziert.
Brüche in der Aktion grenzen Figuren voneinander ab
Die Filme, mit denen Brus neben der Fotografie viele seiner Aktionen dokumentieren ließ, legen die Bruchstellen an den aktionistisch erkundeten Grenzen offen. Zwischen langsamen und bedacht entwickelten Abschnitten führen plötzliche ekstatische Bewegungen dorthin. Die abrupten Wechsel zeigen einmal mehr an, wo das Austesten von Körpergrenzen prekär wird und zu scheitern droht. Schon der Versuch, ohne schauspielerische Mittel aus der Haut zu fahren, ein Anderer zu sein oder eine andere Gestalt anzunehmen, ist schmerzhaft. Während „Zerreißprobe“ (1970) fragt Brus nach einem Glas, erhielt es, urinierte hinein und trank den durch eingenommene Chemikalien überraschenderweise blau gefärbten Urin. Wie um dem Eindruck des Farbspiels mit der Anleihe an die Malerei zu entfliehen, hechtete Brus unvermittelt vom Laken, auf dem die Aktion im Wesentlichen stattfand, auf den Estrich. Ein weiterer Bruch der sich von Bild zu Bild entwickelnden Aktion erfolgte gegen ihr Ende, als er abermals nach einem Glas fragte und ohne Abzuwarten wie ein Frosch aus der Hocke sprang, um sich zuckend zu wälzen.
Derartige katatonische Bewegungen schnitten die Aktion in Stücke und stellten auch die Beziehung zum Publikum in Frage, die sich in ruhigen Phasen der Aktion eventuell einstellte. Brus entfloh so der Empathie, weil er statt der Interaktion mit dem Publikum die Selbstvergewisserung suchte. In einem Flyer zur Aktion ANA, schrieb er von seinem Leib, dass er in “ katatonischer Stellung an der Wand, wie festgeklebt für lange Zeit verharrte.“ Und es ist mehr als bezeichnend, dass auf dem Blatt, das der Aktion beigefügt im Ausstellungsraum hing, von „katalonischer Stellung“ die Rede ist. Hinsichtlich der Bedeutung der Aktionskunst im Vorfeld der Zeichnungen, muss man sich deshalb fragen, ob die Kuratoren genug Interesse für die Kunst der Performance aufbrachten, die eine wesentliche Voraussetzung des zeichnerischen Werks ist. Festzuhalten ist also, dass Brus mit dem Begriff aus der Psychatrie die abrupten Bewegungen und krampfartigen Verschlingungen des Körpers benannte, um diese während der Aktionen an der RWTH Aachen und an der Uni in Wien (1968) zu explizieren und auf das architektonische, soziale und kulturelle Feld zurückzuführen, das die Körper nicht nur umschließt, sondern in die Tradition einschließt und diszipliniert. Brus sah ihn repräsentativ von Zwängen, Übungen, Drill, Routinen beherrscht, aus denen er aktionistisch, zeichnerisch und graphisch Bilder ein Entkommen suchte.
Ob es ihm gelungen ist, einen Ausweg aus den Gewaltverhältnissen zu finden, bleibt dahin gestellt, zumal die Arbeit daran bis heute weiter geht. Entscheidend jedoch ist, dass er zeichnend andere Repräsentationen als den eigenen Körper gefunden hat und räumliche sowie zeitliche Auswege darstellt, die nachvollziehbar machen, wie sehr gesellschaftliche Wirkung Deformation und Zerstörung voraussetzt. Einer der in einer Serie konzipierten „Kardinäle des Südens“ zeigt den Schriftsteller d’Annunzio in seinem Sarkophag, wie er tatsächlich auf einer Stele im Vittoriale degli Italiani (I-Gardone) im Kreise seiner Freunde in die Luft ragt. Die Version von Brus zeigt an der Stelle der Leiche einen Säugling in einer Embryonalhaltung, die an eine Pose in seiner „Zerreißprobe“ erinnert. Auf der Zeichnung ist der kleine Körper in Teile zerlegt, ein Ohr und ein Auge sind zugenäht. Der Schriftsteller hat den Preis für seine Erhöhung mit Blindheit und Gehörlosigkeit bezahlt. So kann er in seiner Welt leben, die aus Buchstaben besteht, denn diese sind in Stücke geschnittene Worte. Es ist ja der gewaltsame Akt des Heraussprengens von Versatzstücken, den Walter Benjamin zunächst in der Kunst verortete, der heute unsere Arbeitswelt, unseren Alltag und schließlich die sozialen Medien mit ihren Bild-, Wort- und Informationshäppchen bestimmt.
© Johannes Lothar Schröder