Ephemere Denkmäler zur Situation des Menschen und zur Übernutzung der Erde

Dieter Rühmann zum 85. Geburtstag
von Johannes Lothar Schröder

Umkehr des Denkens

Eine 50 Meter hohe aus über 5000 Blättern zusammen gesetzte Fotokopie eines Mannes hing kopfüber 1993 vor dem Turm der Ruine der Hamburger Nikolaikirche. Anlässlich des 50. Jahrestages des „Feuersturm“ genannten Bombenangriffs auf die Hansestadt hatte die Kulturbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg und eine Firma für Mobilkräne dem Hamburger Künstler Dieter Rühmann ermöglicht, die Installation „ECCE HOMO“ zu präsentieren. Zwei Telekräne hielten die tonnenschwere fast 60 Meter hohe Installation vom 29. – 31. Juli 1993 vor dem Turm aufgespannt.

Dieter Rühmann: ECCE HOMO, 1993 vor dem Turm der Ruine der Nikolaikirche in Hamburg ca. 5500 x 1300 cm, Foto: Ricklef Müller

Kopfüber

Rühmann hatte die Möglichkeiten einer Umkehr während des Durchgangs seines Menschen durch die Kopiermaschine beobachtet und festgestellt: „Doch dieser Mensch ist nicht gebrochen. Er ist unversehrt. Entgegen seiner aufrechten Gangart hängt er mit dem Kopf nach unten und symbolisiert die Umkehr unseres Denkens: Wir sind gewohnt, unsere Vorstellungskraft von unten nach oben, in abmessbaren Strecken, von einem Ziel zum nächsten zu entfalten. Unser vermeintlicher Fortschritt zwingt uns in einem immer schnelleren Tempo zur Abkehr von uns selbst und von unserer Erde.“ Rühmann sah die Notwendigkeit, die sich abzeichnende Selbstverleugnung zu unterbrechen und schlussfolgerte: „ECCE HOMO weist zurück auf die Erde“[1], und diese Umkehr ist nicht unbeeinflusst von der Notwendigkeit der Veränderungen, die der Club of Rome in seiner Erklärung über die Grenzen des Wachstums bereits 1972 anmahnte. Die Reaktion des Künstlers darauf war nicht nur ökologisch motiviert, sondern umfasste medienkritische und ikonografische Ansätze.[2]

Was uns immer noch beschäftigt – vor 30 Jahren

Angesichts der verschärften Klimakrise sehen wir heute die verwüsteten Stellen eines Planeten, den wir nach Gutdünken geplündert haben, als würde es sich um einen Behälter handeln, der beliebig oft nachgefüllt werden könnte. Zurückblickend gewinnt man vielmehr den Eindruck, dass die Einsichten und Mahnungen seitens der Wissenschaft nicht stark genug gewirkt haben, um eine Umkehr des Handelns herbeizuführen. Das liegt offensichtlich daran, dass man Wachstum als eine natürliche Gegebenheit hingenommen hat, weil man es etwa von biologischer Vermehrung ableitete und die Frage der Ernährung als eine technische Angelegenheit zur Sättigung von mehreren Milliarden Menschen mit der Möglichkeit, hohe Profite zu erwirtschaften, gesehen hat. Dabei hat man die Vergrößerung der Fläche ignoriert, die ein im Wohlstand lebendes Individuum heute für sich beansprucht. Die Bedürfnisse von Individuen verschlingen immer mehr Räume und Ressourcen für industrielle Produkte, Schränke voller Kleidung, Regale und Lagerflächen mit Ausrüstung, Geräten und Maschinen etc. Immer mehr Menschen halten gemeinschaftlich benutzbare Dinge zum individuellen Gebrauch vor. Dazu kommen voll ausgestattete Zweit- oder Ferienwohnungen an verschiedenen Orten, Arbeitsräume und Büros, die nur 8 bis 10 Stunden am Tag benutzt werden. Hierbei sind Fahr- und Flugzeuge, sowie die Infrastruktur der unterschiedlichen Verkehrssysteme noch gar nicht berücksichtigt. Auch Produktionsanlagen, Hallen und Minen, die Rohstoffe und Energie zutage befördern, ihre Verarbeitung und Verteilung gewährleisten, benötigen immer größere Flächen. Sie verschlingen Stadt- und Landschaftsraum sowie Energie und zuvor landwirtschaftlich genutzte Flächen.

Wie ein Hamburger Künstler vor 26 Jahren auf die Katastrophe reagiert hat

Die von Reichtum und Gewinnmaximierung getriebene Lebensweise ist so raumgreifend geworden, dass für die Produktion von Feldfrüchten, Naturprodukten und Tieren immer weniger Platz bleibt, der außerdem oft noch mit Abfällen, Müll und Fäkalien verschmutzt wird. Natürlicher und naturnaher Lebensraum wird immer seltener; denn um den Rohstoffbedarf zu stillen werden Urwälder und Wälder weiterhin gerodet und Moore trockengelegt. Gleichzeitig greifen Wüsten und Steppen auf ehemaliges Weide- und Ackerland über. Vor diesem Hintergrund von einem „ökologischen Fußabdruck“ zu sprechen, verniedlicht das Problem. Wenn Hühner auf einem zu engen Raum gehalten werden, fressen sie in kürzester Zeit eine blühende Wiese ab und hinterlassen eine platt getretene und mit Fäkalien verschmutzte Fläche, weshalb eine Nahrungszufuhr von außen erforderlich wird. Wenn man Verkehr und Transportleistungen sowie die Kriege zur Durchsetzung der Bewegungsfreiheit mit den damit verbundenen Handelsinteressen dem Flächenverbrauch hinzuzählt, wird das ganze Ausmaß der Zerstörung durch Zivilisation überschaubar. Auch akustisch ist dieses fast überall als Lärm und Gepolter zu vernehmen, die selbst in der Nacht nicht mehr nachlassen. Man muss sich einmal die durch das Gewicht der Verkehrsmittel und die durch die Wucht der Beschleunigung entfaltete Gewalt vorstellen, um zu erkennen, dass Menschen die Welt messbar erschüttern.[3] Am Ende lässt sich erkennen, dass die menschlichen Aktivitäten permanente Beben auslösen. Die menschengemachte Dynamik auf der Erdoberfläche kommt einem gewaltsamen Hineinrammen vieler Tonnen nahe. Mit einem solchen Bild vor Augen erscheint die im Folgenden beschriebene Aktion von Rühmann nicht trivial. Sie sollte in die Erde gehen, um dort tatsächlich seismische Erschütterungen hervorzurufen.

Dieter Rühmann: TOPOS, 1998, Entwurf für den Abwurf einer auf dem Kopf stehenden Pyramide auf einem Feld bei Stuttgart-Stammheim,

TOPOS

Mit TOPOS plante Rühmann 1998, eine fünf Tonnen schwere Pyramide aus Stahl und Beton von einem Hubschrauber auf ein freies Feld in Stuttgart-Stammheim abzuwerfen. Für den Künstler war TOPOS „Keine Bombe, kein Flugapparat. Ein grundloses Objekt. Etwas, das vom Himmel fällt, sich einrammt in den Boden, unverrückbar.“[4] Damit wollte Rühmann ein Zeichen der Umkehr setzen, das nicht zufällig an den Monolithen aus ‚2001: Odyssee im Weltraum‘ erinnert, dessen Erscheinen allerdings rätselhaft bleibt. Das schwarze quaderförmige Objekt aus Stanley Kubricks Film aus dem Jahr 1968 tauchte jeweils dann auf, wenn sich die Verfasstheit des Menschen durch Erweiterung seiner anatomischen und geistigen Möglichkeiten veränderte. Einmal gelang es einem Menschenaffen, seinesgleichen mit einem Oberschenkelknochen zu erschlagen und ein anderes Mal sandten zukünftige Menschen Weltraumfahrzeuge für Expeditionen zu anderen Planeten. Diese auch von Rühmann mit ‚djun-leb‘ 1985 angerissenen Science-Fiction-Themen geben einen Begriff davon, dass auch Kunst mit der überbordenden Produktion, dem weltweiten Handel und Ausstellungsbetrieb eher ein Teil des Problems als ein Teil der Lösung geworden ist. Als sich Rühmann 1985 mit dem Thema Stoffwechsel aus der Sicht der Weltraumfahrt auseinandergesetzt hatte, war klar geworden, dass auch jeder Astronaut wie der Künstler als ‚Artonaut‘ irgendwann auf den Erdboden zurückkehren muss, wobei der menschliche Stoffwechsel gegenüber dem Transport von Besatzungen und ihren Ausrüstungen als das weitaus größere Problem hervortritt.

Die Massen, die auf der Erde von Menschen bewegt werden

Mit TOPOS, dem Konzept für ein tonnenschweres Geschoss, verlieh Rühmann der Beschleunigung von Masse eine skulpturale Quantität und aktionistische Qualität. Allein der Umstand, dass das Objekt und die Aktion außerhalb des Kunstkontextes den meisten Betrachter*innen absurd erschien, macht auch deutlich, wie stark die Entschlüsselung von plastischen Arbeiten verkümmert ist. Die Kraft der Metapher für die verdrängten Umweltprobleme konnte damals nicht durchdringen. Dennoch näherte sich Rühmann dem Unbekannten in bisher ungekannter Schärfe und plante eine Intervention, die einem Terrorakt glich, was der Schauplatz, ein Feld in der Nähe des Hochsicherheitsgefängnisses, in dem führende Mitglieder der RAF einsaßen, unterstrich. Die aus 1000 Metern Höhe fallende Pyramide sollte der unglaublichen Gewalt von Masse und ihrer Beschleunigung eine künstlerische Gestalt geben. So konnte sie ein punktuell freigesetztes Äquivalent der Energie sein, die wir Menschen mit den von uns gemachten Dingen Tag für Tag freisetzen. Dazu schrieb Rühmann in der Dokumentation seiner Arbeiten: „Die Terror-Anschläge brachen mit einer ihnen eigenen, unerbittlichen Gesetzlichkeit wie ein Naturereignis in das friedliche Leben der Bundesbürger ein. Die Anschläge kamen unerwartet und waren für die meisten Bundesbürger völlig unverständlich.“[5]

Kunst wie ein Terrorakt

Im Licht dieser Äußerung scheint die ungewöhnliche Aktion als eine Parallele zu den terroristischen Anschlägen, die der Belastung der Welt durch menschliches Wirken ein Mahnmal setzt. Diese Aktion gab zugleich dem Zweifel daran eine Gestalt, ob die Richtung unseres Denkens „nach außen oder nach oben“ richtig sei. Rühmann hoffte durch das Objekt, „eine Pyramide, die auf uns zurast“, eine alternative Richtung von oben nach unten, also von oben auf uns zu kommend, nicht nur anschaulich, sondern auch physisch spürbar zu machen. Das Ereignis, das sich „gegen unsere Denkrichtung kehrt und so rational nicht zu begreifen ist“, könnte seiner Meinung nach ein Anlass sein, über eine Umkehr nachzudenken.[6] Rühmann leitet bis heute die Vorstellung, dass ein Kunstwerk einen Schrecken über das menschliche Handeln auslösen könnte, um das Bewusstsein über die Folgen unseres Handelns zu wecken; denn offensichtlich fällt es uns als Menschen schwer, die Gewalt zu begreifen, die von unserer Lebensweise ausgeht.

Mit der Corona-Krise 2020 wurde die Menschheit von einem Ereignis getroffen, das alle erfasst hatte und nur gemeinsam überwunden werden konnte. Es führte die letztendliche Machtlosigkeit des im rasenden Fortschritt nach immer neuen Rekorden gerichteten Denkens vor Augen. Die Reaktionen zur Bewältigung lassen, grob gesehen, zwei Richtungen erkennen. Unter den Politikern fallen diejenigen auf, die in der Lage sind, über die Grenzen ihrer eigenen Interessen und ihre Machtposition hinauszublicken, um das Nötige zu tun. Andere ignorierten das wechselvolle Geschehen der Pandemie und überlassen die Bevölkerung der von ihnen regierten Staaten sich selbst. Als wäre das nicht schon genug des Übels, Maßnahmen zu unterlassen, wiegeln sie auch noch Bevölkerungsgruppen gegeneinander auf. Dabei suchen sie Schuld für die Desaster jeweils bei ihren politischen Gegnern oder wirtschaftlichen Rivalen.[7] Auf der anderen Seite gibt es Staatslenker*innen, die umsichtig und fürsorglich handeln und Voraussetzungen schaffen, um Menschenleben in ihrem Einflussbereich zu schützen, Kapazitäten mit Nachbarn teilen und Menschen, die in ihrer Existenz bedroht sind, so gut es geht, zu unterstützen.[8]

Die Lage ist kompliziert und neue Entwicklungen und Ereignisse fordern weitere Entscheidungen heraus. Schwieriger aber als Krisenmanagement wird es sein, die Basis für ein Umsteuern zu legen, damit nachhaltige Lösungen möglich sind. Letztlich wird jeder Einzelne aufgefordert sein, zu handeln und in seinem Umkreis und Verantwortungsbereich mitzuwirken. Künstlerische Arbeiten können als Elemente eines Frühwarnsystems betrachtet werden. Auch wenn offen bleibt, ob sie tatsächlich zu einer konkreten Umkehr ermutigen, ist dieses Werk erneut zur Diskussion zu stellen, zumal TOPOS damals schon nicht realisiert werden konnte, weil dieser Arbeit die Vergabe von Mitteln und die Genehmigungen verweigert wurde.

Die Homepage http://www.buechse-der-pandora.de/ zeigt weitere Pläne des Hamburger Künstlers, die belegen, dass Rühmann nicht aufgegeben hat, die herrschenden Hierarchien auf den Kopf zu stellen.

Der Text basiert auf einer historischen Darstellung und Erörterung wichtiger Werke Rühmanns im Buch „abhängen“ des Autors (s.u.).


[1] Rühmann, Dieter: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993. Hamburg 1993, o.S.

[2] Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf diese Installation, die im Buch des Autors wie auch das Werk Rühmanns dargestellt wird. (Schröder, 2022) Im Folgenden werden die Seiten 133-137 in einem anderen Layout wiedergegeben. Abweichungen vom zitierten Text sind redaktionell bedingt.

[3] Seismologen stellten während des durch die Corona-Pandemie durchgeführten Lockdowns eine deutliche Verminderung der menschengemachten Erschütterungen fest. https://science.sciencemag.org/content/early/2020/07/22/science.abd2438 (07.09.2020) 132

[4] Rühmann, o.J.

[5] (Rühmann, o.J.), S. 96

[6] Ebd., S. 98

[7] In den USA unter ihrem Präsidenten Trump waren es Liberale, die als Umstürzler diskreditiert wurden, und China, das für die Schwächen der amerikanischen Wirtschaft verantwortlich gemacht und als Ursache des Coronavirus hingestellt wurde. Die Unterlassung von Maßnahmen führte den vermeidbaren vorzeitigen Tod von 300.000 Menschen (Stand Mitte Oktober 2020) herbei.

[8] Zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Zeilen ließ sich nicht abschätzen, wie sich die Situation weiterentwickeln würde. Deshalb kann die tatsächliche Auswirkung der Coronakrise auf die mögliche ökologische Umgestaltung der Wirtschaft erst in der Zukunft beurteilt werden. In Bezug auf die hier angesprochene künstlerische Leistung lässt sich jedenfalls eine an die Schwierigkeiten des antizipierenden ökologischen Umdenkens greifende Verkörperung erkennen.

Literatur:

Rühmann, Dieter: … macht die Kunst kaptt – es lebe die Kunst …, Järnecke, Issendorf 1984.

Pressespiegel: ECCE HOMO. Eine Installation von Hans-Dieter Rühmann in der Ruine der Nikolaikirche Hamburg vom 29.7. bis 31.7.1993“. – Hamburg 1993.

Schröder, Johannes Lothar: abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen. Dieter Rühmann, Annegret Soltau, Boris Nieslony, ConferencePoint Verlag, Hamburg 2022

„Ich bin euer Künstler; das verpflichtet mich.“

Dieter Rühmann wird 80

Als Dieter Rühmann 1973 das begehrte Alfred-Lichtwark-Stipendium gewann, düpierte der mit Malerei, Zeichnen, Film, Sprache und Objekten experimentierende Künstler die Jury mit dem Vortrag seiner Agitationsoper, die er zum Dank vortrug, und der Zerstörung seiner Bilder, die er aus den Rahmen schnitt. Was es hieß, zum Roten Tuch für Kunstsachverständige und ein Publikum zu werden, stand für ihn damals nicht im Vordergrund, denn es ging, um mehr, als sich Ausstellungsmöglichkeiten für Bilder zu sichern. Die Bilder selbst standen zur Debatte, und das Lob des Establishments hätte nur von den wesentlichen Fragen abgelenkt.

Den Zwischenrufern in der Hamburger Kunsthalle, die Rühmann gerne in die damals kommunistische DDR verfrachtet hätten, war überhaupt nicht klar, dass sie ihn damit zum Dissidenten im westdeutschen Kunstbetrieb gemacht hätten, denn man nahm damals ja an, dass es „Dissidenten“ nur in den Ländern des Warschauer Pakts geben würde. Warum sollte ein westdeutscher Künstler in der DDR Asyl suchen, wenn für ihn die kommunistische Alternative, wie für viele Protestierende im Westen, in der Volksrepublik China lag.

Weltraum im Kunstraum

Elf Jahre später gab es eine vorsichtige Annäherung an die führende Hamburger Kunstinstitution. Rühmann verbrachte als „Artonaut“ 10 Tage in einer 2x2x2 Meter großen geschlossenen Holzkiste über dem Altbau der Kunsthalle. Er betrachtete seine Klausur im djun-leb vom 9. – 19. Mai 1984 als Weltraumfahrt, die er als Künstler mit einfachen Bordmitteln bewerkstelligte; denn für ihn ging es im Weltraum nicht um Macht und militärische Kontrolle, sondern um die Möglichkeit als Mensch in der Isolation zu sich selbst zu kommen und die Grenzen des Menschen auszukundschaften.

djun-leb,1984, Installationsfoto, (c) Dieter Rühmann

Die auf Monitore innerhalb und außerhalb des Museums übertragene Aktion wurde zu einem Gegenentwurf zur konsumorientierten Lebensweise und zur technologischen und energieverschwenderischen Raumfahrt mit Raketen. Rühmanns Utopie war indes darauf aus, den Stoffwechsel und die Bedürfnisse des Menschen zu reduzierten, um alles Überflüssige wegzulassen zu können. Seitdem ist dieser radikale ökologische Ansatz von bleibender Aktualität, denn die Raumfahrttechnologie hat uns zwar in die Lage versetzt, die Schäden, die die Industrialisierung angerichtet hat, in Echtzeit zu beobachten, doch ist es bisher nicht gelungen, ihre Ursachen zu begrenzen. Im Gegenteil tragen Luft- und Raumfahrt besonders durch die mit ihr verbundene Militär- und Waffentechnologie zur Ausweitung der Schäden bei. Auch dieses Gebiet hatte Rühmann im Blick. Als er 2001 die Büchse der Pandora, eine 400 Meter hohe Plastik, entwarf, die wie ein Schilfrohr mit einer Konservendose an der Spitze im Wind schwingen sollte, dachte er auch an eine Beobachtungsstation der Welt auf der Erde, die ohne Raketen auskommen würde. http://buechsederpandora.de/espresso/index.php Im Verhältnis zur Höhe der Installation wäre die Konservendose kühlturmgroß und würde gleichzeitig als Observatorium und Mahnmal der Verschwendung von Ressourcen fungieren.

Die Herstellung des Menschen als Bild

Das Museum war dem Kunstexperimentator schon 1993 zu eng geworden. Seinen 50 Meter hohen ECCE HOMO stellte er drei Tage lang vor dem Turm der Hamburger Nicolaikirche an der Ost-West-Straße (heute: Willy-Brandt-Straße) aus. Die von einem realen Menschen abgenommene Fotokopie wurde vergrößert und auf 5000 Fotokopien aus Spezialpapier übertragen, um zu einem im Wind rauschenden Feld aus Blättern in der Vertikalen zusammengestellt und ausgestellt zu werden.

Damals jährten sich die alliierten Bombenangriffe auf die Hansestadt zum 50. Mal. Nicht alle dachte bei diesem Thema an Superlative, doch Rühmanns ECCE HOMO war definitiv das größte je in Hamburg gezeigte Bild eines Menschen. In einem Statement, in dem er wie oft in seinen Werken auch seine Gefühle bei der Arbeit und sein Verhältnis zur Rolle als Künstler offen legte, gab er seine Befriedigung über die gelungene Installation bekannt und verkündet zudem, dass dieses Bild ihn nahe an seine ideale Vorstellung von seiner Arbeit als Künstler gebracht habe:

„Ich anerkannte den Fotokopierer als Vervielfältigungsgerät. Es sollte mir eine Kopie des Menschen herstellen, einen Abdruck, in meinen Augen ein reines, unverfälschtes Bild des Menschen. Dieses Gerät sollte statt meiner machen. Ich wollte dabei sein und zuschauen, wie es den Menschen abbildet.
(…)
Ich erlebte wie ein Mensch, das Individuum, das sich mir als Modell zur Vergnügung stellte, in seiner Abbildung so viel von seiner Individualität verlor, dass er zum Zeichen wurde. Zum Zeichen des Menschen.
(…)
»Mein« Bild des Menschen setzte sich inzwischen aus vielen Generationen zusammen, bis es eine Größe erreichte, die ich in meinem Atelier nicht mehr ansehen konnte. Von da an bis zur Größe des Kirchturms hatte ich nur noch nummerierte Fragmente vor Augen. Ich verstand das Bild nicht mehr, seinen lebendigen Zusammenhang nicht. Stattdessen nummerierte ich Blätter mit abstrakten Formen, die der Kopierer ausspuckte.“

(Statement des Künstlers 1993)

Dieter Rühmann, ECCE HOMO, 1993, (c) Dieter Rühmann

Diese Äußerungen Rühmanns belegen, dass sein Künstlerethos von der Maschine inspiriert worden war. Damit ergänzte er die Ansicht Andy Warhols, der von sich sagte, er sei eine Maschine durch die Auffassung, sich in ihren Dienst zu stellen, womit er sich wie ein mittelalterlicher Künstler einer höheren Macht unterwarf. Das hatte zur Konsequenz, dass er das Ergebnis seines Schaffens nicht mehr visuell kontrollieren, sondern nur noch indirekt steuern konnte. Die Übersicht behielt er bis zur Aufhängung des Bildes durch Nummerieren und Organisieren sowie die Konstruktion eines Mechanismus, mit dem das Bild vor dem Turm mit zwei Teleskopkränen hochgezogen werden konnte.

Im Moment des Sichtbarwerdens des gesamten Bildes ereignete sich dann etwas, für das die Moderne den Blick verloren hatte. Es entfaltete sich ein Werk, das sich jenseits der Kontrolle des Künstlers ereignete, und ihm letztlich als Fremdes entgegentrat. Er fasste den Eindruck in Worte:

„Das Bild des Menschen war noch größer geworden als meine Vision. Mir war, als habe man mir eine Binde von den Augen genommen, und ich sah, dass ich bisher nur an einem einzigen Bild gearbeitet hatte, am Bild des Menschen. Dort hing er also. Seht, welch ein Mensch.“, schrieb Rühmann 1993, nachdem er erlebt hatte, wie sich das Bild Abschnitt für Abschnitt vor dem Kirchturm entfaltet hatte. Als Wind durch die frei hängenden Einzelblätter fuhr, erzeugte er das Raunen eines vorbeifliegenden Vogelschwarms.

(c) Johannes Lothar Schröder

 

Das Buch „Bilder und Gefühle verwerfen“ über Dieter Rühmann, Boris Nieslony und Annegret Soltau ist in Vorbereitung. Nach dem Erscheinen im ConferencePoint Verlag wird es im Buchhandel und beim Autor zu bestellen sein.