Joseph Beuys‘ Auftritt als John Dillinger bei seinem ersten Besuch
in Chicago am 14. Januar 1974 könnte als Rollenspiel bezeichnet
werden. Beuys stieg vor dem Biograph-Kino in der North
Lincoln Avenue aus dem Auto und spielte die Hinrichtung des
verurteilten mehrfachen Raubmörders, der sich seiner Todesstrafe
durch Flucht entzogen hatte, als ein Solo. Nach einem Kinobesuch
wurde Dillinger am 22. Juli 1934 von FBI-Beamten vor dem
Kino gestellt und an Ort und Stelle mit Geschossen durchsiebt.
Beachtlich ist die aus der Fotoserie von Klaus Staeck herauszulesende
Leichtigkeit und Bereitschaft zur Improvisation, mit der Beuys sich
spielerisch in einen Gesetzesbrecher verwandelte. Es
sind die signifikanten Kleidungsstücke, also Beuys' Hut und sein
Fellmantel, in denen er glaubwürdig als eine Figur der Geschichte
erschien und doch zugleich er selbst war, also als eine Person der
Gegenwartskunst erkennbar blieb. Je nach Informationen über
die Hintergrunde springen einem aus dem persona-Sandwich, mit
dem beide zur Deckung gebracht worden sind, einmal Dillinger
und ein anderes Mal Beuys ins Auge.38 Aber warum gilt dieses
Spiel einem Gesetzesbrecher?
Auszug (S.246 – 257) aus diesem Buch. ISBN 978-3-936406-55-9
Die Energie des John Dillinger (1. Variante: Schuldgefühle)
Es ist möglich, dass die weltweite Berichterstattung über Dillingers
Hinrichtung durch das FBI 1934 den damals 13-jahrigen Beuys
erreicht hatte und ihn das gewaltsame Ende dieses Gesetzesbrechers
ebenso erschreckt wie fasziniert hatte.39 Vielleicht hatte
diese Episode auch sein Amerikabild mit der Botschaft geprägt,
dass man sich nimmt, was man braucht, wenn man bereit ist,
das Risiko einzugehen, erschossen zu werden. Bezeichnend ist
jedenfalls, dass sich Dillinger dem jungen Beuys bis zu seinem
ersten Besuch in den USA 40 Jahre später eingeprägt hatte, wo
ihn Erinnerungen und Recherchen bewogen, diese Szene in einem
Live-Act zu aktualisieren. Seinem Begleiter Staeck gegenüber äußerte
Beuys sein Interesse an diesem Gangster: „Ich lege großen
Wert auf die Energie, die in einer Biographie wie der des John
Dillinger liegt. Diese Energien, die beim Dillinger beispielsweise
negativ gepolt waren, können einen positiven Impuls abgeben.
Nach dem Motto: Unser Liebesimpuls für solche Menschen oder
überhaupt Menschen ist dreifach: untermenschlich, menschlich
und übermenschlich.“40 Für den in diesem Kapitel zur Diskussion
stehenden Ansatz ist wichtig, dass Beuys hier von einem Liebesimpuls,
also von einer irrationalen Energiequelle spricht und sie
auf mehreren Stufen der Menschlichkeit ansiedelt, die von ihm
ähnlich gestaffelt wird wie in der Psychologie das Bewusstsein
(Unterbewusstsein, Ich und Über-Ich). Ein zweiter Aspekt ist die
Umpolung des Negativen. Dazu hat Schneede Äußerungen aus
verschiedenen Interviews mit Beuys zusammengetragen, die
deutlich machen, wie sehr ihn dasBöse faszinierte.41 So sagte er
Birgit Lahann, für ihn sei Hitler „ein großer Aktionist“, der wie ein
großer Gangster „seine schöpferischen Fähigkeiten negativ gebraucht“
42 habe. Unter dem Gesichtspunkt des Aktionismus hat
ihn die Energie fasziniert, die dasBöse im Kampf gegen seinen
Antagonisten freisetzen konnte. Und inzwischen hatte er genug
Erfahrungen als Performer, um zu wissen, welche Energien seine
Aktionen benötigten bzw. durch günstige Umstande freigesetzt
werden konnten. Diese haben natürlich mit den Energieschüben
zu tun, die er während seiner Tätigkeit im Sturzkampfbomber,
durch Amphetamine und Lebensgefahr angestachelt, erlebt hatte,
so dass seine eigenen Aktionen selbst eine Umformung dieser
von ihm als Soldat freigesetzten zerstörerischen Energie waren,
die ihn mit dem Tod konfrontierte.
Die Personen, die Beuys aus verschiedenen Anlassen aufgeführt
hat, haben jeweils auf ihrem Gebiet und zu ihrer Zeit Verbrechen
begangen, Schuld auf sich geladen oder wurden bestraft, bzw.
richteten sich selbst. Wenn er diese Biographien auf sich zog, indem
er sie wie die Episode vom gewaltsamen Ende des Dillinger
sogar nachspielte, zeichnete sich darin neben der Absicht der
Identifikation konkret auch das Bemühen ab, zu verzeihen und
Schuld abzutragen, die er nicht nur als Individuum, sondern auch
als Angehöriger seiner Generation im Krieg auf sich geladen hatte.
Es ging dabei auch um den Fluss von Lebensenergie. Im Moment,
in dem der Kampf oder der Krieg als Energiereservoire endete,
brach diese Energiequelle zusammen und es entstand eine Leerstelle,
die durch die Erschließung anderer Energiequellen aufgefüllt
werden musste. In Amerika bekam Energie darüber hinaus
noch eine weitere Bedeutungsebene durch die Notwendigkeit,
die Theorie der sozialen Plastik und der Kreativität ins Englische
zu übertragen. Beuys entschied sich für den Slogan: „the energy
plan for the western man“43, wodurch Leben, Technologie und
Naturwissenschaft miteinander verzahnt wurden.
Erfahrungspool (2. Variante: Opfer) Auf den ersten Blick erscheinen
die Handlungen, von denen hier die Rede ist, identifikatorisch,
doch ist darüber hinaus festzustellen, dass Energieentfaltung,
Traumata und fatale Ereignisse zusammenhängen und
einen Erfahrungspool bilden, dessen Inhalte zwischen Menschen
mit vergleichbaren Biografien wirksam sind und sich wie ein virtuelles
Wurzelgeflecht zwischen ihnen ausbreiten. Außerdem
können durch Nachspielen, also Re-doings und Re-Inszenierungen,
historische Zusammenhänge mit der Gegenwart gekoppelt
und so schließlich der Neubearbeitung und Umdeutung zuganglich
gemacht werden. Neben der Darstellung und der durch die
Aktion gesteigerten Energie lag das Eigeninteresse von Beuys
nicht allein in der Heilung, sondern darüber hinaus auch in der
Revision seiner bisherigen Erfahrungen mit Amerikanern als
Feinden. Deshalb kann die Personifikation des Dillinger auch als
eine Entlastung betrachtet werden, die dazu beigetragen hatte,
dass Beuys als Künstler von seiner Vorgeschichte unbelastet in
den USA auftreten konnte. Die Aktion „Dillinger“ gestaltete daher
Beuys‘ verinnerlichtes Amerikabild um und war folglich mehr
als ein Rollenspiel, denn sie ermöglichte ihm durch Identifikation
eigene Schuldgefühle auf Dillinger abzuwälzen, der sich dann
im christlichen Sinn stellvertretend und schon im Voraus für den
Künstler geopfert hatte. So gelang es Beuys durch Doubeln dieser
persona auch Schuldgefühle zu kompensieren, die er nicht nur
als Soldat akkumuliert, sondern mit der Aneignung der Methoden
von FLUXUS und des Begriffs auf sich geladen hatte. Wie
Dillinger sich das Geld aus den Banken holte, sich also materielles
Kapital beschaffte, so hatte sich Beuys FLUXUS angeeignet, um
seine im Krieg und während seiner persönlichen Krise hinter den
Entwicklungen zurückgebliebenen Mittel zur Verwirklichung seiner
künstlerischen Ideen umzubauen und aufzustocken, um sie
auf den neuesten Stand zu bringen.44 Man kann mit Beuys‘ Worten
diesbezüglich vom immateriellen kulturellen Kapital sprechen,
das er sich von jüngeren Kollegen angeeignet hatte. Insofern hat
die Personifikation Dillingers, der sich seiner Strafe nicht entziehen
konnte, für Beuys und seine durch die katholische Erziehung
geprägte Seele, die für sündiges Handeln eine Strafe zu erwarten
hatte, eine entlastende Wirkung. Da er der Kirche nicht mehr
verbunden war, fand Beuys seine eigenen Wege der Vergebung.
So konnte er nach der performativen Sühne auf die Bezeichnung
FLUXUS verzichten und seine eigene Form der Aktions- und Installationskunst
offensiver vertreten. Er sagte, er sei „mit nichts
Sichtbarem nach Amerika gefahren (…) Sondern nur mit der Idee,
eben der Idee der social sculpture“45.
Identifikationsfiguren (3. Variante: Freibeuter) Dillinger hatte
aber auch etwas, was Beuys nicht erreicht hat. Das Echo auf den
lapidaren Satz, den Beuys als Untertitel der Ausstellung „Arena“
wählte, „Wo wäre ich hingekommen, wenn ich intelligent gewesen
wäre “ hallt hier nach. Der Satz klingt wie eine Frage, doch
ohne Fragezeichen ist er eine Aussage. Nachdem Hitler ihm und
Millionen anderen, zum Aufbruch in eine neue Zeit bereiten Jugendlichen
eine neue Welt vorgegaukelt hatte, hatte der junge
Flieger Beuys durch das Kriegsfiasko alles, was er damals erträumt
und worauf er sich eingelassen hatte, verloren. Vom Krieg gezeichnet,
musste er wie die anderen Überlebenden in seine zerstörte Heimat
zurückkehren. Diese deprimierende Situation ließ
alles in einem anderen Licht erscheinen, und besonders andere
Kontinente schienen außer Reichweite gerückt zu sein. Insofern
war Dillinger, der den Alten Kontinent schon zuvor verlassen hatte
und sich in der „Neuen Welt“ als Gangster einfach genommen
hatte, was ihm gefiel, auch eine Heldenfigur, dessen Handeln
von Unabhängigkeitsstreben durchdrungen war. Eine solche Haltung
mag die jungen Soldaten anlässlich der Eroberungszüge zu
Beginn des Krieges fasziniert haben, bis diese nach Kriegsende
diskreditiert und sanktioniert worden war. Der gewaltsame Tod
Dillingers kompensierte diesen Verlust gleichsam stellvertretend,
weshalb er für den jungen Beuys, der sich im Krieg und in seiner
Krise 1956/57 mit dem Sterben auseinandersetzen musste, eine
Figur wurde, die auch wegen der Ferne – in Amerika und in der
Zeitung – für ihn als Identifikationsfigur eine Distanz zu sich selbst
ermöglichte. Diese Distanz verkürzte Beuys in Chicago, als er sich
schließlich genau an den Schauplatz des Show-downs chauffieren
lies. Hier hatte es dann den Anschein, dass er die Wirksamkeit der
Aktionskunst, die er sich in den vorausgegangenen 10 Jahren angeeignet
und erarbeitet hatte, nun hinsichtlich ihrer Belastbarkeit
in einer anderen kulturellen Umgebung überprüfen wollte.
In Bezug auf die Kunst der Moderne waren Fluxuskünstler Figuren,
die eine negative Utopie verkörperten, als sie in den 1960er
Jahren als Freibeuter in Europa auftauchten, denn sie traten ohne
die Zertifikate von Akademien wie Artisten eines Wanderzirkus
auf Festivals auf, die nur einen Abend dauerten. Das stieß in der
Kunstwelt nicht einmal auf Unverständnis, denn man wollte diese
Leute gar nicht zur Kenntnis nehmen, selbst wenn man sich über
den Professor wunderte, der bei diesem Zirkus partiell mitmachte.
Zuvor hatten schon die Surrealisten mit „Ersatzportrats“ Identifikationsfiguren
verwendet, um die Aussagekraft ihrer bürgerlichen Bildnisse in Frage zu stellen.
Dazu verwendeten sie die Porträts bekannter zeitgenössischer Krimineller, die
den illegitimen Status unterstreichen sollten, den Literaten und Künstler damals
in den Augen der Offiziellen hatten. Sie sollten die Öffentlichkeit provozieren.
Schließlich standen Beuys durch die Begegnungen mit
Nam June Paik und Georges Maciunas künstlerische Mittel zur
Verfugung, die ihm die Hochschule, an der er studiert hatte und
die ihn von Jahr zu Jahr mit einem neuen befristeten Lehrauftrag
hinhielt, nicht bieten konnte. In den 1960er Jahren noch in dieser
Sackgasse steckend, aus der er durch den Rauswurf aus der Akademie
befreit wurde, hatte er Ambivalenz, möglicherweise sogar
Neid gegenüber den Angehörigen der U.S.-Army empfunden, die
wie Maciunas und George Brecht als zivile Angestellte in einer
beeindruckenden Weise künstlerisch ambitioniert sein konnten.
Beuys hatte ja Erfahrungen damit, wie es beim Militär zuging, und
es ist wahrscheinlich, dass er dort mit seinen Kameraden und Ausbildern
vor den Fronteinsätzen ähnlichen Aktivitäten und seinen
naturwissenschaftlichen Interessen nachgegangen war, weshalb
er sie nach der Begegnung mit Maciunas in Lebenslauf Werklauf
„Ausstellungen“ genannt hatte. Die Einträge für 1940 mit den
„Ausstellungen“ in Posen, in Sewastopol „während des Abfangens
einer JU 87“46, auf dem Flugplatz Erfurt-Bindersleben und
dem Flugplatz Erfurt-Nord verwandelten Erinnerungen an gravierende
Ereignisse in kunstrelevante Stationen seines Lebens.
Zur Sühne von Schuld zusammengespannt
Als die ersten Aktionen von Beuys öffentliche Beachtung fanden,
erlangte ein anderes Gespann große Aufmerksamkeit. Der Pilot
des Wetterflugzeugs, das der Enola Gay vorausflog und ihr gute
Sicht auf Hiroshima für den zwei Stunden später erfolgten Abwurf
der ersten Atombombe meldete, war wegen seiner Schuldgefühle
bekannt geworden. Während sich seine Kameraden als
Helden feiern ließen, quälte er sich mit den Folgen seiner Tat.
Claude Eatherly schickte nach dem Krieg Geld nach Japan und
versuchte sich umzubringen, als Präsident Truman den Bau der
Wasserstoffbombe verkündete. Nach wiederholten Klinikaufenthalten
machte er durch kriminelle Delikte auf sich aufmerksam,
bei denen er die Beute liegen ließ.47 So versuchte er Strafen zu
erzwingen, die ihm jedoch aus verschiedenen Gründen verweigert
wurden, bis nach weiteren Klinikaufenthalten 1959 Günther
Anders von Eatherly erfuhr und mit ihm korrespondierte. Allein
das Verständnis für seine Schuldgefühle, der Anteil nehmende
Rat des Philosophen und die Kontakte, die Anders knüpfen half,
trugen dazu bei, dass sich Eatherlys Zustand stabilisierte. Anders
vermochte jedoch nicht, ihn aus der Psychiatrie frei zu bekommen,
wo man ihn auf militärärztlichen Rat festhielt.48
1959 kam es zu einem Briefwechsel zwischen Eatherly und jungen
Frauen aus Hiroshima. 30 von ihnen unterzeichneten einen
Brief, der ein bewegendes Dokument des Verzeihens ist; denn sie
schrieben: „Wir haben gelernt, uns Ihnen gegenüber als Kameraden
zu fühlen, und wir glauben, dass Sie ebenso ein Kriegsopfer
sind wie wir.“49 Im folgenden Brief von Anders vom 18. August
1959 verstärkte der Philosoph diese Wendung, als er Eatherly
fragte, ob er sich nicht glücklich schätzen sollte, „dass nun
eine einzige Frontlinie des Friedens hergestellt worden ist, eine
Frontlinie, in der die Opfer die ‚Täter‘ gleichfalls als Opfer anerkennen?“
50 Dass Anders die Rhetorik des Krieges wählte, als er
von einer „Frontlinie des Friedens“ sprach, zeigt, dass der Krieg
weiter in den Köpfen tobte. Auch ging es um die Deutungshoheit
des Verhaltens von Eatherly, dessen Einlassungen sehr unterschiedlich
ausgelegt wurden. So schildert ihn William Bradford
Huie in seinem 1964 erschienenen Buch als beleidigte und
verkrachte Existenz, die sich gewünscht habe, auch beim Angriff auf
Nagasaki mit dabei zu sein. Jedoch sei er aus der Airforce
entlassen worden, weil er bei einem Test geschummelt habe. Es
muss hier nicht geklärt werden, was die Motive von Eatherly waren,
als er sich auf den Briefwechsel mit Anders eingelassen hatte,
weil hier das Interesse von Anders an einer transatlantischen
Beziehung zur Bewältigung von Kriegsfolgen und Schuld im Vordergrund
steht.51 Deshalb ist es wichtig, dass Dieter E. Zimmer
seinen Artikel mit einer Überlegung zur Ambivalenz schließt, die
„den neuen Menschen im Zeitalter der Technik“ kennzeichnet,
„der eingespannt ist in unüberschaubare Abläufe, denen weder
seine Vorstellungskraft noch seine Verantwortung gewachsen
sind“.52 Die Relativierung des Heldenstatus, den Eatherly erlangte,
weil er als einziger der am 1. Atombombenangriff beteiligten
Flugzeugbesatzungsmitglieder öffentlich Schuldgefühle bekannte,
unterstreicht noch einmal die Rolle des Opfers, die auch durch
Anders für einen militärischen Funktionsträger reklamiert wurde.
Sie verweist auf einen weiteren Wirkmechanismus, der auch
für Beuys bestimmend gewesen war und rückblickend auch für
Orests Handeln in Anspruch genommen werden kann.
In jedem dieser Fälle geht es darum, nach Taten, die die betreffenden
Protagonisten in Konflikte mit ihren Idealen und Prinzipien
gebracht haben, die Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln
zurückzuerobern. Auch dieses „Zurückerobern“ ist Kriegsrhetorik
und steht in unserer Sprache für einen Krieg, den Menschen gegen
sich selber führen bzw. in sich oder mit der Gesellschaft ausfechten.
In dieser Hinsicht ist für die Weiterführung des Gedankens auch die
Reise bedeutsam, die Oppenheimer auf Einladung des Japanischen
Komitees für intellektuellen Austausch 1960 unternommen hatte.
Noch auf dem Flughafen fragten ihn Reporter danach, ob er den
Bau der Bombe bedaure und er antwortete: „Ich bedaure nicht,
dass ich etwas mit dem technischen Erfolg der Atombombe zu tun
hatte. (…) Nicht, das ich sonst kein Bedauern hätte, nur ist mein
Bedauern heute abend nicht größer als es gestern abend war.“53
Oppenheimer trennte also seine Verantwortung für die Entwicklung
der Atombombe von der Verantwortung, die der Präsident
der USA als Oberbefehlshaber hatte. Deshalb hatte Oppenheimer
auch die Relativierung von Verantwortung, die Anders wegen der
Undurchschaubarkeit von technischen Ablaufen vorgenommen
hatte, ablehnen müssen; denn als Atomphysiker und verantwortlicher
Entwickler kannte er sowohl die Funktionsweise der thermonuklearen
Bombe und nach dem Test in New Mexico auch ihre
Zerstörungskraft, deren Folgen ihn ja wie viele seiner Mitarbeiter
an Krebs erkranken und frühzeitig sterben ließen.
Geopfert zurück unter den Lebenden
Wanted: dead or alive
Die Aktion Dillinger bekundet Beuys‘ Interesse an Outlaws. Es sind
Menschen, die sich aus eigenem Entschluss oder durch Gesetzesbrüche
außerhalb der Gesellschaft stellen. Ihre Grenzwertigkeit an
der Schwelle zur Zivilisation würdigt das Gangster- und Westerngenre,
das in der Zeit der Aktionen von Beuys zur Blüte gelangte.
In vielen der Filme geht es um steckbrieflich gesuchte Personen,
die mit Namen bezeichnet und eventuell abgebildet öffentlich ausgehängt
(gepostet) werden. Kopf- oder Fußzeile dieser Steckbriefe
tragen außerdem den entscheidenden Zusatz: „Wanted: dead or
alive“, und schließlich darf die Höhe der Prämie nicht fehlen, die
winkt, wenn die Gesuchten tot oder lebendig dem Sheriff übergeben
werden. Wie aber ist der Status des so Gejagten zu beurteilen
und welche Rechtsgrundlage gilt für eine derartige Menschenjagd?
Ein Outlaw bezeugt die Problematik eines ungeklärten sozialen
Status und weist Merkmale des Homo sacer auf, der aus dem antiken
europäischen Rechtsverständnis kommend auch in den USA
unter bestimmten Bedingungen weiterhin existiert. Rechtsstaatlichen
Grundsätzen zufolge musste jeder Verbrecher zunächst
vor ein Gericht gestellt werden, das seine Identität und Schuld
feststellt und dann ein Strafmaß verkündet, das in den USA eine
Exekution einschließen kann. Doch ist Rechtsstaatlichkeit in der
Geschichte der USA vielfach übergangen worden. So wurde das
Lynchen ohne Gerichtsverfahren von Organisationen der schwarzen
Amerikaner beklagt, zumal es häufig ungeahndet blieb.54
Darüber hinaus leben nicht nur in den USA zahlreiche Menschen
aus eigenem Entschluss, wegen Gesetzesübertretungen oder
durch Ausschließung seitens der Gemeinschaft vollkommen legal
außerhalb des gesellschaftlichen Rahmens in der Wildnis. Henry
David Thoreau hat ihnen durch seinen dreijährigen Aufenthalt in
einer kleinen Blockhütte, in der er sich der Welt des Geldes und
der Geldvermehrung entzog, ein von ihm dokumentiertes literarisches
Denkmal gesetzt, bis ihn die Steuerpflicht einholte.55 Der
Finanzbehörde konnte er nicht entgehen. Wenn auch die Verfassung
der USA Niederlassungsfreiheit gewährt und keine Meldepflicht
kennt, so war er als Pächter des Grundstucks von Ralph
Waldo Emerson aktenkundig.
Nach den Kriegen, die die USA im 20. Jahrhundert geführt haben, befanden
sich unter denen, die sich durch eigenen Entschluss in die Wildnis zurückzogen,
auch zahlreiche Soldaten, für die eine Ausnahme gilt. Soldaten dürfen
töten, ohne dass sie dafür belangt werden. Diese Ausnahme, die
eigentlich zeitlich befristet ist, mündet nach dem Ende von Kriegen
in ein Spannungsverhältnis zwischen Soldaten und Zivilisten,
das schon bei den Römern bestand. Livius sah es als gegeben,
wenn die „Todgeweihten“ nach der Schlacht als Lebende zurückkehrten,
denn sie unterstanden nicht mehr dem profanen Recht,
weil sie zuvor den Göttern geweiht worden waren. Das schützte sie
zwar davor, wegen Tötungsdelikten belangt zu werden, doch
sonst war ihnen – einmal den Göttern geweiht - die Rückkehr in
den Geltungsbereich des staatlichen Rechts verwehrt.56 So standen
sie außerhalb der Gesellschaft, doch durften sie nicht wie die
steckbrieflich Gesuchten getötet werden. Kriegsheimkehrer mussten
in dieser Zwischenwelt selbst zurechtkommen.
Amerkungen:
38 Die Idee des Sandwichs zweier Personen verdanke ich Lynn Hershman,
die seit den 1970er Jahren Porträts verschiedener Personen in Form von
Dias übereinander gelegt projizierte bzw. die von diesen Dia-Sandwiches
reproduzierten Fotos ausstellte. Eines zeigt z.B. Sigmund Freud und Marilyn
Monroe (Gespräch mit Hershman im Marz 1984 in San Fransico).
39 Schneede erwähnt, dass sich in Beuys Nachlass eine Kopie des Berliner
Lokal-Anzeigers vom 23.07.1935 mit dem Bericht über dieses Ereignis befindet.
(Schneede, 1994) S. 324. Auch wenn die Kopie nicht aus der Zeit ist,
sondern später hergestellt wurde, ist es möglich, dass der damals 13-jahrige
Beuys von dem sensationellen Show-down Dillingers erfuhr, und die Person
faszinierend genug war, um von Kindern nachgespielt zu werden, um das
Böse zu konkretisieren. Bis heute ziehen gespielte Verbrecherjagden – auch
solche in digitaler Form – das Interesse von Kindern auf sich, weil sie sich so
dynamisch und performativ mit Gewalt, also den damit verbundenen Übergängen
zwischen Gut und Böse sowie Leben und Tod auseinandersetzen
können.
40 Beuys in: (Staeck, 1987), S. 210. Zit. nach: Schneede, ebd.
41 Ebd.
42 In: Stern, Heft 19, 30.April 1981, S. 77-82, 250-253, S. 82
43 Joseph Beuys: selten so viel gelacht. Interview von Willi Bongard, in:
Kunstforum international, Bd. 8/9, 1974, S. 224.
44 vgl. Kapitel I, Anm. 42
45 Interview Bongard, s. Anm. 36
46 In: (Becker, 1965), S. 428
47 Dieter E. Zimmer fasste in der ZEIT vom 28. August 1964 (S. 9-10) die
bis dahin veröffentlichte Literatur, einschließlich eines Theaterstucks, eines
Fernsehspiels und eines Filmdrehbuchs zusammen.
48 Da der Fall bekannt und der Briefwechsel veröffentlicht ist, fasse ich mich
an dieser Stelle kurz, um zu dem hier wesentlichen Punkt zu kommen, der
durch den Brief vom 24. Juli 1959 dokumentiert wird. (Anders, 1961), S. 38f
49 Ebd.
50 Ebd. Es ist vielsagend, dass Anders sich ausdrücklich einschließt in die
Wendung der Vergebung, weil er sich als Angehöriger der Intelligenz ebenso
schuldig fühlte am Verlauf des Zweiten Weltkriegs, der auf den verschiedenen
Ebenen, die ihn auslösten, nicht von den klugen Köpfen der Welt
verhindert werden konnte.
51 Anders, dem Autoren von „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956, Bd.
II 1980), ging es ja um die Folgen von Handlungen, die durch Technologie
dermaßen verstärkt werden, dass sie die Kapazitäten eines Einzelnen übersteigen.
52 Zimmer, S. 10
53 (Goodchild, 1982), S. 282
54 Im Aufruf der National Association for Advancement of Colored People,
New York 1935 heißt es: „Weniger als ein Prozent der Lyncher wurde
bestraft, und auch nur sehr leicht. Mehr als 5000 Fälle von Lynchjustiz sind
ohne jede Strafe geblieben…“ Kat. Amerika. Traum und Depression 1920 –
1940, NGBK Berlin 1980, S. 488
55 Walden or Life in the Woods, 1854
56 (Agamben, 2002), S. 107