An English version is available in the privious text: Myth and Orange Desert Dust
In einem Interview, das Andrea Kasiske mit Yvette Mutumba vom Kuratorenteam der 10. Berlinbiennale „WE DON’T NEED AN OTHER HERO“ für die Deutsche Welle führte, sagte die Co-Kuratorin:
„Wir haben ganz bewusst Wörter wie Afrika, Postkolonialismus, Kolonialismus oder Diversität nicht verwendet. Auch wenn es um wichtige politische Themen geht, versuchen wir, einen Schritt weiterzugehen und unsere eigene Sprache zu finden.“ (http://www.dw.com/de/yvette-mutumba-echte-dekolonialisierung-muss-weh-tun/a-44091663 , 12.06.2018)
Besonders ein Werk verdeutlicht, wie die Zirkulation von Erzählungen über Jahrtausende wirkt und Kulturen verändern kann. Grada Kilomba inszeniert im Rahmen von ILLUSIONS, ihre Serie über Mythen, Ödipus. In 22 Szenen verkörpern Tänzer Begegnungen und Konflikte, die durch die Weissagung gegenüber Ödipus in die Welt gesetzt worden sind. Der Mythos von Ödipus stellte schon in der Antike die Frage, ob die Jüngeren Spielball des Schicksals sein wollen, das ihnen die Elterngeneration bereitet hat, oder ob sie die Kraft aufbringen wollen, eigene Wege zu definieren und zu finden.
Ödipus – Iokaste – Orakel – Laios – Sphings?
In den Kunstwerken hört man begleitend zum Tanz Musik und die Erzählstimme der Autorin. Sie fragt nicht, ob und wie sich Ödipus seinem Schicksal entwinden könnte, sondern Kilomba setzt tiefer an. Sie möchte ergründen, ob nicht symbolische Formen wie das Drama selbst schon Unterdrückung transportieren. Wie im Falle von König Ödipus spitzt jede Interpretation des Mythos mögliche Varianten des Themas, z.B. Vater-Sohn oder Mutter-Sohn Konflikt, zu. Das Video zeigt, dass die Fesselung des Tänzers, der Ödipus verkörpert, durch seinen Vater vorgenommen wird. Er bindet Ödipus‘ Füße an den Enkeln zusammen. Somit hindert er ihn von der Vorlage abweichend ohne die brutale Verstümmelung der Füße am Fortgehen. Das verknotete rote Band, das noch durch ein weiteres längeres Band, das den ganzen Körper umschlingt, ergänzt wird, wird später lustvoll abgewickelt und gesprengt. So folgen die Tänzer unter der Regie von Kilomba zwar den Konstellationen des Mythos, in dessen Verlauf Ödipus seinen Vater Laios umbringt und seine Mutter Iokaste heiratet, doch bringen die sechs Tänzerinnen und Tänzer im White Kube auch neue Konstellationen durch wechselnde Rollen von Geschlechtern, Angehörigen der Familie und der Generationen hervor.
Kulturelle Verwerfungen
Die Frage ist, ob Ödipus eine Marionette des Schicksals bleibt, das ihm das Orakel prophezeit hat. Zunächst gelingt es ihm, die Sphings, die die Korinther tyrannisiert zu zerstören, indem er richtig antwortet, dass es der Mensch ist, der am schwächsten auf vier Beinen, dann auf zweien und schließlich auf drei Beinen steht. Das dritte Bein, der Gehstock wird schließlich auch zur Waffe, mit der sich Ödipus von der Drangsal befreit. Der Zauber wird durchbrochen und die Verbindung mit der Darstellerin endet in der Version von Kilomba nicht in der Katastrophe sondern in einem Tänzchen.
Er muss ja gar nicht der leibliche Sohn des Königs sein, denn seine Mutter könnte gewitzt genug gewesen sein, den Sohn eines anderen Mannes geboren zu haben, und vor allen Dingen sollte sie in der Lage gewesen sein, ihren Sohn an unveränderlichen Merkmalen zu erkennen. Die Möglichkeiten, den Mythos zu gestalten und mit Konstellationen anzureichern wurden ja schon in der Antike genutzt, wie die Rekonstruktion dieser Mythen besonders durch die Recherche der sehr unterschiedlichen Varianten des Mythos in den Quellen die Robert Ranke-Graves vorgenommen hat. Die Mythen tragen so kulturelle Verwerfungen in sich, die sich in den Jahrhunderten vor dem Beginn der schriftlichen Fixierung von Ereignissen ereignet haben.
Symbolsysteme brechen
So betrifft der Mythos des Ödipus, der schon in der Antike in verschiedenen oft sehr verzwickten Wendungen überliefert wurde, Zeiten von Umbrüchen, die durch die Hinwendung zu wechselnden Leitgottheiten bedingt waren. Im Stück von Kilomba sind die Figuren ambivalent dargestellt, so dass Ödipus mit dem Kirschenholzstab z.B. auch eine Verkörperung des Sehers Teiresias sein kann. Auch Iokaste löst sich als Tänzerin von den Festschreibungen einer verschriftlichen Rolle und kann als Mutter, Frau und Geliebte gesehen werden. Die Bewegungsfreiheit der Tänzer und die knappen Requisiten wie Bänder und Stab sind bestens als eine Ermutigung geeignet, aufs Neue eigene Erfindungen zu erproben und die Macht der Tradition zugunsten einer selbstbestimmten Zukunft zu zerlegen.
Auch Teile der 1968er – Bewegung, die ahnten, dass sich in den außereuropäischen Kulturen ein Widerstandspotential verbergen würde, griffen die bestehenden Symbolsysteme an und stießen damit Innovationen im Denken, in der Kunst und Kultur an. Die Impulse daraus wirken bis heute, sind aber nicht mehr frisch und erscheinen besonders im Licht der Äußerungen populistischer Volkstribunen nun dem „Establishment“ zugehörig. 50 Jahre nach der kulturellen Erneuerung ist es weiterhin notwendig, eigene Vorstellung zu präzisieren und das Material der Kulturen durch selbstbestimmte Interpretationen und Inszenierungen den eigenen Interessen gemäß neu zu erzählen und neu zu leben.
Allerdings – so ist das Resümee zu ziehen – werden die symbolischen Formen in ihrer Wirkung auch nicht durch ILLUSIONS angefochten. Indem Kilomba den Mythos und seine Figuren neu interpretiert, zerstört sie ihn mitnichten Sie bestätigt ihn oder im besten Fall, wird seine Wirkung verschoben, so dass sich heutige Menschen darin wiedererkennen.