„No noise is good noise“ George Brecht

Rutherford Chang, „We Buy White Albums“, 2013 bis 2019, Installationsdetail in den Deichtorhallen, Hamburg. Foto: johnicon

An 14 Doormen vorbei

Im Entrée der Ausstellung muss man sich durch ein Spalier aus menschenhohen s/w-Foto-Porträts vom Sven Marquadt arbeiten. Dabei kann man tatsächlich den 14 Türsteher des Berghain ins Gesicht schauen. Die Serie heißt „Rudel1“. Doch ist es auch hyper, nicht zu den Besuchern des Clubs gehört zu haben, wie Philip Topolovac mit „I’ve Never Been to Berghain“ bekennt. Diesen 2004 verschwundenen Ort hat er stattdessen als Korkmodell maßstäblich nachgebaut. Neben der martialischen Kulisse müssen sich die zwei kleinformatigen Papierarbeiten mit Piktogrammen und Wortspielen für Musikliebhaber von Juro Grau durch hintergründigen Witz behaupten. Und schon ist man eingestimmt auf Kleines und Großes, Großes von Kleinen, Kleines von Großen, Großes von Großen usw., und was sonst Besucher*innen beim Gang durch den Parcours erwartet.

Lange Bilder werden Partituren

Defiliert man am zweitlängsten Bild der Ausstellung, einem aktionistischen Gemälde des Musiker-Künstlers Daniel Blumberg vorbei, in der Hunderte von stereotypen Gesichtern auf fünf Feldern zwischen tachistischen Tuscheaufschlägen aus dickem Pinsel oder Tuch mit zerquetschten Pigmenten eingeschrieben sind, so sieht man ein ganz anderes Verhältnis zur Musik und zum Bild, als uns das das grandiose Publikumsgewimmel auf den Fotografien von Andreas Gursky vermittelt, auf denen Tausende Konzertbesucher*innen aus digitalen Fotoversatzstücken versammelt sind. Blumberg saß nicht vor dem Bildschirm und bearbeitete die visuelle Ausbeute eines Konzerts, sondern beginnt hyperdisziplinär selbst mit einer Aktion auf dem Malgrund und nimmt sie als Notation, die er in ein Konzert umwandeln will, das am 25. Mai in der Elbphilharmonie aufgeführt wird. Als GmbH und durch Sponsoring breitet sie sich krakenartig auch über den Kunstbetrieb und alternative Spielorte aus. Wer wie F.S.K. nicht dabei ist, muss das Vernissage-Publikum zerstreuen und zum hundertsten Mal ein olles Klavier kaputt hauen.

Dem Motto von George Brecht zugeneigt, könnte es entspannter sein, die Ausstellung noch bis zum 8. August zu erleben, wenn es nicht so voll ist. So können Besucher*innen eventuell alle Fotos in den handelsüblichen Album- oder Sammlungskartonformaten sehen, die Wolfgang Tillmans uns auf einer Wand locker verteilt anbietet. Gut, dass wir ihn haben, denn wer hätte schon die ganzen Stars über die Jahre für seine Alben selbst fotografieren können. Das Zusammenspiel von Bild und Namen, die man auf einem ausgehängten Blatt überprüfen kann, muss man sich erarbeiten, wenn man nicht als unerschöpflicher Fan die meisten aus dem Effeff kennt.

Um die Ecke kommend, hätte ich einen tiefen wachen Blick aus dunklen Augen nicht erwartet. Sie gehören einer sitzenden Frau, die entspannt ermattet mit verschobenem Mundschutz nach Malerarbeiten mitten unter einer Sammlung von Plattenhüllen sitzt. „Limitation of Life“ bietet plastischen Fotorealismus von Thea Djorojadze einer Collaborateurin von Rosemarie Trockel, mit der sie auch die ausgestellten Cover von teils fiktiven Platten gestaltet hat. Dort monatelang zu sitzen, hielte kein Corgi-Hund, der der Plastik ausgestopft zur Seite sitzt, aus. Wir Lebewesen haben unsere Grenzen.

Zahlen, Bezahlen, Geld verbrennen

Auf einmal hat man das Gefühl, mitten in einem ,Plattenladen‘ zu stehen. Aber hey! Alle Alben, die Rutherford Chang für sein Projekt „We Buy White Albums“ zwischen 2013 und 2019 aufgekauft hat, sind fast weiß (gewesen). Jetzt sind die 1200 „White Albums“ von den Beatles abgeratzt. Hier hat man mal einen anderen Begriff des Cover-Albums. Kaum irgendwo wird das originelle Original von Richard Hamilton wohl noch im frischen Weiß vorhanden sein. Hier jedenfalls kann man sich an den mit unterschiedlichsten Gebrauchsspuren, Zeichnungen, Schmierereien, Fan-Post und Liebeserklärungen versehenen Hüllen erfreuen, die keinesfalls leer sind. Wer will, kann auf drei Plattenspielern in jede Platte reinhören, ihr je eigenes Knacken vernehmen oder feststellen, ob sie hängen bleibt. Diese Platten sind durch ihren Gebrauch gesampelt!

Grenzenlos sollte die Welt der Hippies gewesen sein, und tatsächlich verlangt  ein amerikanischer Überlandbus der 1960er aus der Ferne Aufmerksamkeit. Eins zu eins steht er da, wie in einem Busbahnhof und man muss ein paar Meter dahin laufen. Statt einzusteigen, erfährt man, dass dieses imposante Siebdruckmonstrum 1967 auf Betreiben von Mason Williams hergestellt wurde. Der ließ es nach dem Drucken auf mehreren Bahnen verkleben, um dann die ganze Auflage von 200 Stück mit etlichen Helfern zum Versandt auf einem Parkplatz zusammenzufalten. Die Liebe zu Editionen war damals groß, und auch hier gibt es in jedem Abschnitt der Ausstellung bemerkenswerte Zahlen.

Die ganze Zeit lockt unbestimmt eine aus der Ferne monoton auf- und abschwellende kreischende Stimme, hinter der ein Bass wummert. Dem nachgehend, komme ich am Video trocken drehenden Stoffwalzen einer Autowaschanlage vorbei, zwischen denen eine Frau im weißen Kleid mit roten Blumen tanzt. Ein hinreißendes Bild gibt Bettina Pousttchis „Die Katharina-Show“ aus dem Jahr 2000 ab. Nach dem Ablegen der Kopfhörer kam die Quelle des Nerv tötenden Refrains „I‘m a looser“ von Alton Ellis näher. Er begleitete als Loop das 3D-Video „Nightlife“, das Cyprien Gaillard 2015 an drei Schauplätzen filmte. Im Wüsten- oder Windmaschinenwind von Los Angeles schaukeln monströs invasive Pflanzen, über dem Olympiastadion in Berlin gleitet das Fliegende Auge mit einer Drohne mitten durch ein Feuerwerk und an der Universität in Cleveland steht die Eiche, mit der der Goldmedaillengewinner im Sprint von 1936, Jesse Owens, aus Berlin zurückreiste. Erst am Ende wechselt der Loop ein einziges Mal zum später aufgelegten neuen, ebenfalls scharf gekrähten Refrain: „I’m a leader!“ Das ist die Botschaft an die, die sonst keine Chance haben, sich aber viel Glück mit Kunst, Sport und Musik versprechen. Das ist ein Mythos, den diese Ausstellung gar nicht zu befeuern braucht, denn die Wirklichkeit ist härter. Wenn einer, der das Berghain nachbaut, selbst nicht dort aufkreuzen kann, weil er als Künstler Karriere machen muss. Oder ist es doch härter, im Berghein gewesen zu sein? Kaum jemand wird die Unverfrorenheit aufbringen, Millioneneinnahmen aus dem Musikgeschäft, einfach zu verfeuern, wie es Jimmy Cauty und Bill Drummond am 23. August 1994 mit ihrem Anteil am Verkauf von The KLF taten. Die Aufnahmen des Kaminfeuers ist in der Ausstellung auf dem 9er-Monitorblock zu sehen. Auf dem Bildschirm zuhause unter: https://www.youtube.com/watch?v=M3DQOLnSMNA

Die Stärke des Aquarells

An den „Musical Transcendences“ von Radenko Milak nach Fotos von Musikern, Dokumenten und Instrumenten vorbei kommend, nehme ich eine weitere Spur auf. Unter dutzenden monochromen Aquarellen erkenne ich den von Joseph Beuys in dicken Filz verpackten Flügel und das Bild der Blueslegende Billie Holiday. Die traditionelle künstlerische Technik lässt alle Abbildungen von zumeist bekannten Fotos in hoher Dichte erscheinen, weshalb Brittney Spears und Madonna zu den Postergirls für die Ausstellung avancieren konnten. Trägt so die bildende Kunst weiterhin Musik erfolgreich in die urbane Öffentlichkeit und zeigt so weiterhin ihre Qualität oder inspiriert die Musik die Kunst, wie es bei Britta Thies der Fall ist, die wie viele Künstler*innen einen Teil ihrer Inspiration darin finden. Sie hat die Bänke zum Lungern hergestellt und zum Aufladen von mobilen Devices mit vielen Steckern bestückt, damit eigene Kanäle individuell zur Ausstellung geöffnet werden können. Ein alarmierender Dreiklang im Rhythmus des Tongebers auf einer Intensivstation aus der Black Box in der hintersten Ecke klingt nun eindringlicher und gibt den Takt vor, mit dem Hunderte ikonischer Aufnahmen aus Sci-Fi, Schwarzer Musik, krimineller und kriegerischer Gewalt, Großtechnologie, dem afroamerikanischen Widerstand in den USA, Sex und Drogen projiziert werden. Dieser so fesselnde wie beängstigende Bilderreigen mit Footage aus Medien zeigt an, wie stark visuelle Fokussierungen den Blick auf die Welt verengen können.

Leider oder glücklicherweise haben diese Bilder längere Halbwertszeiten als manche Musik- oder Künstlergruppen. Der Jahrgang einer Flasche mit einem exklusiven Etikett und einem ebenso speziellen Wein in limitierter Edition erinnert an das Ende der Gruppe Tödliche Doris 1987 aus dem Umfeld der Genialen Dilettanten. Das Andenken an den Abschied dieser 1982 in Hamburg gegründeten Gruppe wird für mich der Abschied aus einer Ausstellung mit 300 Werken von 60 Künstlern, die Max Dax kuratierte. Doch einen Moment noch! Die Zählung der Künstler hat nicht nur einen Haken; denn Richard Hamilton und die vielen unbekannten Gestalter und Umgestalter auf seinem Cover wurden nicht mitgezählt. Auch die vielen Copyrightprobleme von Videos und einer Slideshow sollten nicht verschwiegen werden. Geht es hier genauso zu wie im Internet, wo die Missachtung der Kreativen alltäglich ist. Sollte man sie aber als eine neue Vorstellung von Kollektivität betrachten, so müsste das thematisiert werden. Das geschieht mitten in einer Stadt der Händler und Vermarkter von Kultur. Wie soll dort ein Klima der Solidarität und Zusammengehörigkeit geschaffen werden, wenn man nicht einmal über Regeln spricht.

Alle nehmen alles. Eine neue Solidarität?

Ein Blick auf Gegenwart und Zukunft zeigt, dass Künstler aller Sparten nur sporadisch zusammenarbeiten. Noch vor den Künstlern haben schon die Musiker durch das Internet Umsätze verloren, die unmittelbar mit der Verbreitung ihrer kreativen Leistungen zu tun haben. Schon lange stellen sich Fragen der digitalen Einnahmen auch für Künstler, die nicht unmittelbar von den Einkaufstouren der Milliardäre profitieren. Sie benötigen das Internet als Multiplikator und verlieren doch, wenn ihre Werke verbreitet werden, ohne dass sie selbst und/oder die VG-Bild-Kunst Vorteile von zumeist unangefragter Verbreitung haben. Wenn so eine Ausstellung ein Symposium zu solchen Fragen nach sich zöge, wäre sie noch bedeutungsvoller für alle, die sich dem wachsenden Kreis von Kreativen hinzuzählen. Vielleicht sind in der nördlichen Deichtorhalle ja tatsächlich mehr als 1000 Werke von weit über 100 Künstlern ausgestellt, und keiner möchte es merken.

Alle die ihre Lieblingswerke hier nicht finden, sollten sich noch bis zum 8. August selbst in der Ausstellung umsehen und -hören, um selbst etwas zu entdecken. Während der Ausstellung gibt es noch eine Reihe von Veranstaltungen, darunter zahlreiche Konzerte vor Ort im Mai. Für alle, die häufiger mal kurz vorbeischauen und diese Veranstaltungen besuchen möchten, wären günstige Mehrfachkarten ein großer Vorteil!

Sonderveranstaltungen und weitere Infos finden sich unter www.deichtorhallen.de

Stephanie 1969 von Danny Lyon – eine handschriftliche Fotoreportage

Die Ausstellung der Fotografien von  Danny  Lyon war letztes Jahr im Fotomuseum Winterthur und im c/o Berlin zu sehen.

Danny Lyons Fotos, darunter besonders diejenigen, die mit Texten in der Art einer Reportage gerahmt sind, sind keine autonomen Fotos. Es geht um die abgebildeten Menschen und ihre Geschichte, die nicht oft im Foto identifizierbar ist. Eine dieser Fotoreportagen von Lyon mit einem handschriftlichen Rahmen hat mich besonders angezogen. Seine Zeilen setzte der Fotograf waagerecht in der Breite des Fotos über und unter das Bild, während der Text rechts und links davon über die volle Breite des Fotopapiers von unten nach oben verläuft. Das Blatt wurde also sowohl als Quer- wie auch als Hochformat beschrieben, so dass man es gerne zum Lesen in die Hand genommen hätte. Das Fotos wurde händisch schwarz gerahmt und mit dem Titel „Stephanie 1969“ unten links bezeichnet. Ein Muster aus feinen Linien und rhythmisch gesetzten Punkten macht den Text, der so graphisch strukturiert und zugleich in Rottönen dekoriert wurde, zu einer persönlichen Gabe. Mit diesem Mittel zeigt der Künstler seine Zuneigung und lässt die Betrachter an intimen Momenten seiner Begegnung teilnehmen. Dafür spricht auch der Ton des Texts, der wie eine authentische Erzählung klingt, so dass er wohl von einem Tonbandinterview transkribiert wurde. Hier spricht ihr Mann über Stephanie – so als ob sie nicht mehr da wäre – und über das Land.

Die Überschrift NEW MEXICO 1969-1975 bekommt eine Bedeutung, so dass es scheint, Lyon hätte das Foto 1969 aufgenommen und sei 1975 noch einmal dorthin gereist. Die Aussagen könnten beim zweiten Besuch aufgezeichnet worden sein. Der Sprecher gibt Einblick in die Gegend, die auf den ersten Blick ein Bild von Leere und Endlosigkeit evoziert und tatsächlich voller Abgründe ist; denn es gibt Lager für Wasserstoffbomben und durchgeknallte Vietnamveteranen. Viele der Informationen sind angesichts der Zuspitzung des Streits um mexikanische Einwanderer und des massiven wirtschaftlichen Drucks, der auch auf die scheinbar unwirtlichen Regionen ausgeübt wird, heute noch aktuell. Um den Text besser zugänglich zu machen, habe ich ihn übersetzt:

NEW MEXICO 1969 – 1975 „Stephanie 1969“

Danny Lyon, NEW MEXICO 1969 – 1975 „Stephanie 1969“, Ausst. Fotomus. Winterthur

Innerer Rahmen: „Wer sind wir und woher kommen wir? Wir sind Kinder von Kerouac. Wir sind aus Europa und dem Osten gekommen, um im sogenannten Land der Glückseligen zu siedeln. Und wer kam uns zuvor? Wessen Land ist es, das wir betreten? Wer baute diese Häuser? Wer hinterließ diese Knochen? Zuni, Apachen, Spanier, Mexikaner, Texaner. Sie kamen alle hierher und vergossen ihr Blut … Die Wüste vergisst nichts. Sie wird auch noch Wüste sein lange nachdem wir gegangen sind.“

Äußerer Rahmen: „Ich kam 1969 hierher. Es ist so lange her, dass ich mich kaum noch daran erinnern kann. Ich kam hierher mit dieser Frau, Stephanie, eine Malerin. Wir ließen eine Menge Freunde hinter uns in New York, als wir hier nach Sandoval County in New Mexico kamen, dieser schönsten kleinen Sandkiste der Welt. Nun sind wir hier Zuhause. Wir haben ein Haus gebaut und hatten einige Kinder. Hinten in New York war allen zum Sterben (zumute). Ich traf einen Mexikaner, der sich Eddie nannte, mir ein lausiges Spanisch und das Backen von luftgetrockneten Ziegeln beibrachte und alles zu lieben, was südlich des Colorado liegt. Ich war MOTADO und ‚nass‘ (hinter den Ohren), wie sie in Demning[1] sagen. Ich kümmerte mich darum, wie ich Eddie jedes Frühjahr nach Amerika (in die USA) schleusen konnte, und ich lernte, die Grenzpatrouillen zu hassen – nichts Persönliches. Persönlich denke ich, es würde uns ohne die Grenze und sicherlich auch ohne die Grenzer viel besser gehen. Aber ob Mexiko sich je darum kümmern würde?“

New Mexico im Brennpunkt

„Siehst du den Berg dahinten? Er heißt Sandia, das heißt Wassermelone, und ist mit Wasserstoffbomben gefüllt. Dahinten gibt es einen Haufen zorniger Burschen aus (Viet-)NAM, die man in NAM zusammengeschossen hat und die diesen Berg übernehmen wollen. Die wollen ALB nehmen und Washington und sie lieben Nat Turner[2] in seinem Sumpf. Die denken, hier wären sie sicher und würden nie mehr aus ihren Häusern getrieben.
Jetzt erzähle ich was ganz Verrücktes, wir alle wissen das. Aber ich kann euch sagen, die sind ganz schön durchgeknallt, und nachdem du die Angst ein paar Mal überwunden hast, nimmt sie ab. Eine H-Bombe kriegst du nicht tot, aber hier in New Mexiko sind schon viele Leute für das Land gestorben oder wurden dafür umgebracht, und viele mehr sind darauf gefasst, in Zukunft dafür zu sterben. Nach den Plänen von Firmen wird Land gestohlen und zerstört. Herzlose Leute mit wenig Hirn besitzen viel Land und haben viel, viel Macht. Und alles steht nur auf Papier. Großherzige Leute mit wirklicher Macht schauen hoffnungslos zu. Wohnwagen-Plätze, Tochterunternehmen und Golfplätze bedecken immer mehr Land, während man ihnen nicht mal einen Hektar für Bohnen lässt. Bohnen schmecken besser, wenn du sie auf dem Grab eines Bankers pflanzt. 10 Millionen Grünschnäbel sind hier auf der Suche nach Arbeit. Was glaubst du, weshalb ihre Kinder hierher kommen?“

[1] Eine Stadt dieses Namens war nicht auffindbar. Es gibt eine Stadt namens Deming im Süden New Mexicos (32⁰ nördl. Breite, 108⁰ westl. Länge)

[2] Nat Turner *1800 wurde 1831 hingerichtet, weil er einen Sklavenaufstand anführte. 1967 wurde „The Confession of Nat Turner“ von William Styton veröffentlicht und inspirierte die Black-Power-Bewegung.

Die Anschauung des Unsichtbaren

Die Initiative des Yoshiaki Kaihatsu

Hinter den Fenstern und Türen von Läden und Wohnungen sind die Vorhänge der fotografieren Häuser zugezogen. Schwer zu sagen, ob es ein Zeichen von Sonntagsruhe, Ferien oder Feierabend ist? Die Legende teilt mit, dass es sich um den Ort Iidate in der japanischen Provinz Fukushima handelt, den Yoshiaki Kaihatsu 2012 im Jahr nach der Havarie von 2 Reaktoren besuchte. Gespenstisch erscheinen die Eindrücke, die der Künstler festgehalten hat, weil alle Bewohner ihre Wohnungen und Geschäfte hinterlassen haben, als würden sie nach einem kurzfristigen Aufenthalt woanders bald wieder zurückkehren. Ihnen war nicht klar, dass sie nie wieder in ihre radioaktiv vergiftete Heimat zurückkehren würden. Im Vergleich mit den vom Tsunami zerstörten Geschäften in Kesennuma City (Provinz Miyagi), die Kaihatsu nach der Naturkatastrophe besuchte, bleibt die Ursache der Zerstörung durch Radioaktivität den Sinnen verborgen. Im Vergleich wird mindestens auf den zweiten Blick erkennbar, dass das eingedrungene Salzwasser das Wohnen in den durchnässten Wohnungen entlang der 500 Kilometer der japanischen Küste unmöglich gemacht hatte. Eine Reparatur oder ein Wiederaufbau von den durch Wasser zerstörten Häusern war möglich, und viele Bewohner konnten wieder zurückkehren. Die völlig intakten aber verstrahlten Häuser dagegen werden für mindestens eine wenn nicht mehrere Generationen unbewohnbar bleiben. Ohne dass mit visuellen Mitteln ein Mangel sichtbar gemacht werden könnte, werden sie in den kommenden Jahrzehnten ungenutzt verrotten. So gesehen griff die doppelte Katastrophe des Tsunamis und der Havarie nicht nur in das Leben der Menschen ein, sondern machte einmal mehr auch die traditionellen Möglichkeiten der Bildenden Kunst eine das abbildende Instanz obsolet.

Y. Kaihatsu: Iidate, Fukushima, 2012, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Y. Kaihatsu: Iidate, Fukushima, 2012, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Wie viele ernüchterte Kollegen zog auch Kaihatsu die Konsequenzen daraus und ergriff die Initiative; denn es ist ja so, dass nicht die Künstler allein immer wieder vor dem Versagen der Abbildlichkeit stehen und immer wieder von Neuem die Krise des Sichtbaren beschwören müssen, die mit jeder atomare Havarie, jeder Bankenkrise, jedem Terroranschlag usw. erneut heraufzieht.

Ästhetik und Unsichtbarkeit

Die Krise der Sichtbarkeit beschäftigt Kaihatsu, denn als Künstler ist er Spezialist des Sichtbarmachens. Die Unsichtbarkeit der atomaren Verstrahlung ist eine Herausforderung, denn sie verschärft das Trauma der Menschen, die nicht in ihre vollkommen intakten Häuser zurückkehren dürfen und ihre Gärten und Felder auf absehbare Zeit nicht mehr bestellen dürfen. Es ist ein akademisches Problem, das sich hier stellt,  doch liegt für die Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihren Lebensmittelpunkt verloren haben, der Skandal darin, dass sie auch drei Jahre nach diesen beiden Katastrophen, die Japan weiterhin beschäftigen und der Wirtschaft schwer schaden, noch behelfsmäßig untergebracht sind. Sie hatten sich ein Leben aufgebaut, in das sie nicht mehr zurückkehren dürfen. Sie wissen, was gerade auf den Feldern zu tun wäre, doch müssen sie untätig warten. Das wiegt schwer, und man glaubt, die Klärung der Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung könnte warten. Doch bleibt sie damit verknüpft, obwohl ästhetische Fragen den Nöten der Menschen gegenüber wie ein Luxusproblem erscheinen müssen.

Y. Kaihatsu: Kesennuma City, Miyagi, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Y. Kaihatsu: Kesennuma City, Miyagi, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Kaihatsu hat Interviews mit den provisorisch untergebrachten Menschen geführt, die nicht verstehen können, warum sie nicht zurückkehren können. Offensichtlich sind die ästhetischen Probleme eng mit dem Alltag dieser Menschen verknüpft, denn sonst könnten sie verstehen, warum die Regierung weiterhin so tut, als sei nichts gewesen. Nicht nur, dass sie die verzweifelte Lage der immer noch Obdachlosen in ihren behelfsmäßigen Unterkünften ignoriert, sondern auch weiterhin mit den strahlenden Hinterlassenschaften einer vermeintlich sicheren Atomindustrie umgeht, als sei nichts geschehen. Es fällt offensichtlich leicht, so zu tun, als wären die erforderlichen Arbeiten schon verrichtet, weil die oberflächlichen Aufräumarbeiten abgeschlossen sind: die verstrahlte Erde steht in Plastiksäcken unter freiem Himmel und das strahlende Kühlwasser in Tanks abgefüllt in der Nähe der Kraftwerke. Wie das 100.000 Jahren so weitergehen soll, entzieht sich der Vorstellungskraft und dem wirtschaftlichen Kalkül einer profitorientierten Risikogesellschaft, in der solche nicht mehr zu beziffernden Schäden ausgeblendet werden. Die Beamten warten auf Anweisungen.

Kaihatsu hat an der Grenze zum Sperrgebiet eine Hütte auf der Grundfläche von vier Tatamimatten errichtet. Eine Tafel darüber weist sie als „Haus für Politiker“ aus. Bis jetzt hat er 750 von ihnen eingeladen, sich eine Zeit lang in dieser Hütte an der Grenze zur kontaminierten Zone von Fukushima aufzuhalten. Der Künstler nimmt an, dass so ein Aufenthalt außerhalb der privilegierten Aufenthaltsorte von Politikern den Gedanken auf die Sprünge helfen könnte.

Y. Kaihatsu: The House of Politicians, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Y. Kaihatsu: The House of Politicians, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Bestandsaufnahme: Erbe der Konzept-Kunst

Warum Kaihatsu ausgerechnet als Künstler eine solche Initiative ergreift, liegt wohl daran, dass die Kunst des 21. Jahrhunderts weiterhin mit den Problemen der Moderne zu tun hat, und sich damit auseinandersetzen muss, dass die Folgen eines planvollen Handelns ins Chaos führten, das sich wiederum der Anschauung entzieht, obwohl es die betroffenen Menschen innerlich zerreißt. Die das Leben überschattenden Risiken unserer Zeit wiedersetzen sich den Wünschen, die Vorgaben der Moderne hinter sich zu lassen. Die Einschätzung der Risiken aus der Kernkraft, den Finanzmärkten, dem Terror und der digitalen Datenspeicherung und Vernetzung bleibt weiterhin unanschaulich.

Was mit der fotografischen Bestandsaufnahme, die Kaihatsu verwendet, in Angriff genommen wird, geht zurück auf eine Pionierleistung der Konzept-Kunst. Ed Rusha fotografierte 1965 nacheinander http://www.medienkunstnetz.de/werke/sunset-strip/ alle Gebäude am Sunset-Strip in Los Angeles und reihte sie als ein Leporello aneinander. Er legte mit dieser Fixierung eine Messlatte für alle sichtbaren Veränderungen. Zwar könnten die Häuser und ihre Besitzverhältnisse juristisch auch mit den Mitteln von Katastern abgeglichen werden, doch haben wir es hier mit einem Paradigmenwechsel hin zu einer visuellen Aneinanderreihung zu tun, die sich angesichts von dramatischen Veränderungen von einem  Projekt der avantgardistischen Bestandsaufnahme ausgehend zu einem Instrument künstlerischen Handelns weiterentwickelt hat.

Zunächst unterscheidet sich der symbolische Akt des Abfotografierens von dem politischen und verwaltungstechnischen Agieren in ästhetischer Hinsicht. Doch hat die Gewöhnung an die Möglichkeiten der Fotografie dazu geführt, dass die Menschen ihre Gewohnheiten umgestellt haben und über die Rechtsverhältnisse hinaus nach Anschauung und visueller Nachprüfbarkeit verlangen. Trotz aller Möglichkeiten, Daten und Messergebnisse zu sammeln, erscheint den meisten Menschen die Anschauung nach wie vor direkt und unmittelbar und eine Mehrheit ist weiterhin entzückt, wenn die Künste – darunter sind es neben der bildenden Kunst besonders Konzerte, Oper, Tanz und Theater – unseren Gesichtssinn ansprechen. Und genau diese ästhetische Sicht wird zum Problem, wenn es um das Unsichtbare geht, das uns mit der zunehmenden Erschließung von Mikro- und Makrokosmus nicht nur umgibt, sondern in immer entscheidenderem Maße auch unseren Alltag bestimmt.

Bestehende Wahrnehmungsgewohnheiten behindern die notwendige Bestandsaufnahme der hier von Kaihatsu aufgeführten noch zehntausende von Jahren strahlenden Hinterlassenschaft von Tschernobyl, Fukushima und aller noch intakten Kernkraftwerke. Die Unfähigkeit, sich das Problem vorzustellen, behindert letztlich auch die Findung einer Lösung für die Lagerung von strahlendem „Atommüll“. Der Wunsch, diese unangenehmen Hinterlassenschaften der Moderne endlich vergessen zu wollen, ist verständlich, doch die Aufgaben, die diese dem künstlerischen und praktischen Nachdenken stellen, sind noch zu lösen. Insofern liegt Kaihatsu richtig mit dem Gedanken, Politiker zur Meditation in eine kleine Hütte einzuladen. Doch er könnte den Kreis derjenigen, die dort in Klausur gehen sollten, durchaus auch auf andere Berufsgruppen ausdehnen; denn es kann gar nicht genug solcher Hütten zum Nachdenken über die Bedingungen unserer Zeit geben.

Johannes Lothar Schröder

Ausstellung „Naturkatastrophe Atomenergie Disput Terrorismus“
in der Galerie Mikiko Sato, Klosterwall 13, 20095 Hamburg
bis 19. April 2014

www.mikikosatogallery.com