Eine Neueinsetzung des antiken Dramas

Georgia Sagri, Antigone Model (3rd Edition), Ongoing since 2010
Performance am 4. Juli 2013, 15-21h, 3 ½ Kunstwerke, Berlin, Auguststraße 69

Sagris Antigone war ein Pferd, eine Wagenlenkerin, ein Model auf dem Laufsteg, eine Trauende, eine Lachende, eine Leidende, eine Erschütterte, eine Gelähmte, eine Sirene, eine Trägerin, eine Botin, eine Liebende, eine Niedergeschlagene, eine Tote, eine Aufstehende, eine sich Erhebende, eine Darstellerin, aber auch – als zeitgenössische Performerin – nichts von alledem. Diesen ‚Parcours‘ aus Innen und Außen durchschritt sie zigmal während ihrer sechs Stunden langen Performance. Sie war die Ausdauernde: Mit Humor und Disziplin beschritt sie die Grenze zwischen Selbstverlorenheit und Selbstverliebtheit. So entfaltete sich eine Kraft aus Strenge und Lockerheit, welche die vielen Sequenzen bis zum Schluss bei steigender Intensität variierte. Dabei setzte die in New York lebende griechische Künstlerin Tanz, Show, Spiel, Mimik, Gestik und vor allem ihre Stimme ein. Lachen, Stöhnen, Ächzen, Wiehern und Weinen steigerten mit dem Rhythmus ihrer Schritte die Wirkung ihrer Performance bis zum Schluss.

Johnicon: Georgia Sagri, 4. Juli 2013, VG-Bild-Kunst, Bonn

Johnicon: Georgia Sagri, 4. Juli 2013, VG-Bild-Kunst, Bonn

Der Chorus aus dem Laptop

Die einzelnen Episoden gliederte sie durch regelmäßige Schleifen in dem 200 qm großen Ausstellungsraum der Kunstwerke, nach denen sie jedes Mal an ihren Laptop zurückkehrte, um aktuelle Klangsequenzen aufzunehmen oder zuvor gespeicherte einzuspielen. Auf diese Weise traten vorherige stimmliche und klangliche Äußerungen mit aktuellen in einen Dialog oder ergänzten sich chorisch. Oft verschmolz dabei Aufgezeichnetes und Aktuelles, so dass es schien, als würde der Chor des antiken Dramas hervortönen. Wenn man sich auf den Titel dieses Stücks besann, so konnte man glauben, die dem Untergang geweihten Gestalten der Tragödie von Sophokles hätten ihre Stimmen auf einer Festplatte hinterlassen. Es schien jedenfalls, als würden mit dem minimalen Einsatz elektronischer Mittel die Stimmen der Antigone aus dem Orkus gerufen, die Polyneikes gegen das Verbot Kreons bestatten wollte, um dort mit ihm wieder vereint zu sein. (Nach dem griechischen Glauben konnte nur bestattete Tote in den Orkus gelangen.) Ob live oder aus dem Off, es waren die Stimmen, die das Stück zu einem Ganzen banden und ihm eine Spannung gaben. Konserven würden diese Aktualisierung von verschiedenen Zeiten und Orten unter den Fußspitzen der Performerin löschen. Deshalb wird an dieser Stelle nur eine Skizze gezeigt, die ich als Rezensent nach der Performance aus dem Gedächtnis anfertigte. Sagri hat ein so ausdrucksvolles Gesicht wie eine Stimme und einen Körper, welche ihre Erscheinung von einem Augenblick zum nächsten wechselten.

Phasen der Ruhe zwischen einzelnen Bewegungssequenzen ermöglichten kaum eine Regeneration; denn es wurden jeweils Einstellungen der Sounds und ihre Positionierungen innerhalb des Raums vorgenommen. Die Wiederholung in Varianten bewirkte eine Einprägung bis hin zur Einfühlung. Noch Tage später echoten die Stimme, das Lachen, das Wiehern und die Bewegungen. Kurz gesagt: Diese Performance vereinte viele der Ansprüche, die heute von interdisziplinärer Arbeit gefordert wird, wobei dennoch der Körper als Instrument der Aktion und als Quelle des Sounds durchgehend präsent war und starke Suggestionen bewirkte.

Vagabonds of Art

The Capital of Performance Art

The 3rd edition of Month of Performance Art – Berlin ended last weekend. 47 locations presented more than 100 performances: site-specific, durational, indoor or outdoor, talks, workshops, screenings, public encounters and interactions, live acts and other formats and related projects. More than 170 international artists and participants as well as 23 associate curators.

This range of work and the public resonance again qualified Berlin as the world’s capital of performance art. Bloggers kept their readers informed at: www.mpa-blog.tumblr.com Please visit the official website www.mpa-b.org also for media partners and video documentation.

Reader, you have to be aware, that this Month of Performance Art – Berlin is an artist-lead, non-profit initiative of Joel Verwimp, Florian Feigl, Francesca Momana Ciardi, Nathalie Fari, Joern J. Burmester and Associated Curators, providing a platform for individuals, groups and collectives. Spirit and initiative makes it possible and it is not stoppable by the lack of public funding.

 

EXTRAORDINARY ALIENS by Alexa Wilson & Cohotography by johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

EXTRAORDINARY ALIENS by Alexa Wilson & Co, photography by johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

News of the Wrestling Woman

Coming from Hamburg I meet Alexa Wilson again, which I met at the Schaubude at the Hamburger Dom – an annual fun-fair – in March (–> see article in this blog). In company with Dave Hall and Teresa Peters she showed Extraordinary Aliens, which actually was the final performance of MPA-B. The stage was a screen showing excerpts of a traveler’s video, which documented stereotypes of hippies playing in deserts and on beaches cut with encounters of outsiders leading miserable lives marginalized in cities.

EXTRAORDINARY ALIENS by Alexa Wilson & Co Photography by johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

EXTRAORDINARY ALIENS by Alexa Wilson & Co
Photography by johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

A plastic-sac containing masks and rudiments which you can find as debris of flea markets was emptied on the floor to provide the performers with costumes, requisites, masks, etc. Elements of dance, theatre, screening, sport, game and disguising communicated feelings like loneliness, desperation and joy and conveyed elements of companionship, solidarity, fighting or tenderness to endure the marginal situation of a traveling performance artist, which nowadays comes close to the situation of vagabonds and players in feudal times when even medical doctors had to perform as healers at markets and fairs to self-promote and practicing their competence and skills.

Parzelliert und gestickt

Annegret Soltau: Ich war total suchend. Erzählt von Baldur Greiner, Weststadt Verlag Darmstadt 2013, Hardcover, 116 Seiten, 19,80 €

Unverwandt blickt die Frau auf dem Cover ihre Leser an. Ihr Gesicht ist mit Linien überzogen, die sich wie ein Tattoo über Haut, Nase, Brauen, Haare und Hals ziehen. Allerdings weist die Parzellierung des Gesichts zweierlei Lineaturen auf. Wie der rückwärtige Buchdeckel zeigt, ist das Foto Annegret Soltaus mit einem verschnürten Gesicht außerdem mit einem Faden übernäht. Eine Arbeitsweise der Aktionskünstlerin gibt sich darin genauso zu erkennen wie die künstlerische Reflexion des Gefangenseins und – wie es der Buchtitel andeutet – die Suche nach einen Wegen.

Umschlag, Vorderseite

Umschlag, Vorderseite

Der Band bringt Schwarz-Weiß-Abbildungen weiterer Werke der Künstlerin seit 1974. Obwohl er kein Kunstbuch ist, stellt die sorgfältige Auswahl, die mit einschlägigen Passagen aus ihrer Biografie synchronisiert ist, ihrer künstlerischen Entwicklung mit ihrer Suche nach Verbindungen und Entfesselungen umfassend vor. Private Fotos zeigen darüber hinaus – durchaus exemplarisch – eine junge Frau der kargen Nachkriegsjahre voller Neuanfänge inmitten reaktionärer Bemühungen, die alten Verhältnisse zu rekonstruieren. Die von ihrem Mann, dem Bildhauer Baldur Greiner erzählten Episoden aus dem Leben der Künstlerin entdecken den Lesern Kindheit, Jugend und Entwicklung dieser Protagonistin feministischer Kunst in Deutschland.

 

Eine und zwei Nachkriegsbiografien

Zufällig erscheint das Buch zeitnah mit zwei anderen Biografien aus der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit: Als Filme kamen „Quellen des Lebens“ von Oskar Roehler  und „ Das Wochenende“ von Nina Grosse nach dem autobiographischen Roman „Herkunft“ von Roehler und „Das Wochenende“  nach dem gleichnamigen Roman von Bernhard Schlink kürzlich in die Kinos. Grosse zeigt in ihrem Film einen aus der Haft entlassenen Terroristen, der an seinem ersten Wochenende im Haus seiner Schwester auf ehemalige Genossen, seine Geliebte und deren gemeinsamen Sohn trifft. Der Film gipfelt in der Konfrontation mit seinem Sohn, der seinen Vater bisher nur einmal für 10 Minuten im Gefängnis gesehen hat.

Beide Werke erzählen die Geschichte von Männern aus einem bürgerlichen kunstaffinen Milieu. Dem gegenüber stehen die von Greiner in einer knappen Sprache geschilderten Lebensumstände seiner Frau, die abgeschnitten vom bürgerlichen Leben ihre Kindheit im zum Wohnen hergerichteten Stall eines kriegszerstörten großmütterlichen Bauernhauses in den Elbmarschen verbrachte. Ihren im Krieg verschollenen Vater hat sie nie kennengelernt. Von ihm existiert lediglich ein Foto, das ihn in Uniform auf einer Brücke aus Birkenstämmen zeigt. Dieses Foto diente der vergeblichen Suche der Tochter nach Spuren von ihm, während ihre Mutter diese folgenreiche Episode am liebsten aus ihrem Leben gestrichen hätte.

Hier zeigt sich eine Gewalt, deren künstlerische und sprachliche Aufbereitung für Soltau im Vergleich zu den beiden Bestsellern und Filmen mindestens 20 Jahre länger gedauert hat. Die Mittel der Kunst waren nicht auf das Schicksal dieser Künstlerin zugeschnitten, die mit Aktionskunst, Zeichnung und Foto-Vernähung ihre Möglichkeiten selbst erfinden und erforschen musste. Dieses meint der Titel:  “Ich war total suchend“ und das Buch zeichnet die Suche dieser Künstlerin jenseits der Ressourcen auf, aus denen die Autoren und Filmemacher bürgerlicher Herkunft selbstverständlich schöpfen können.

 

Leibfeindlichkeit und Zensur

Die Foto-Vernähung mit dem Titel „generativ“

http://www.photoscala.de/Artikel/Die-Kunst-des-Alterns&h=351&w=500&sz=39&tbnid=JLUZTYWKeCzBXM:&tbnh=90&tbnw=128&zoom=1&usg=__uc25yzmRgs9ILQ-NSvhmSXTcVno=&docid=_hkGEXFAxLNM-M&sa=X&ei=8xh5UbHII8mTtAag7oDQDQ&ved=0CEAQ9QEwAg&dur=2311

sollte als Teil ihres Bildessays „Altern und Gestaltwandel der Frau“ in dem von Farideh Akashe-Böhme 1995 herausgegebenen Band „Von der Auffälligkeit des Leibes“ erscheinen, hätte nicht Siegfried Unseld diesen Beitrag zensiert. (vgl.: Darmstädter Dokumente No. 2, Presse- und Informationsamt des Magistrats der Stadt Darmstadt, 1997)  Gegen die nackten Frauenkörper schlugen bei Unseld Ressentiment und Leibfeindlichkeit durch, gegen das ihn das Verlegen der Schriften von Bloch, Adorno, Habermas, Benjamin etc. nicht immunisiert hatten. Dieser Mann ließ vielmehr die Schranken zwischen den Geschlechtern, den Klassen und den verschiedenen Ästhetiken erneut absenken, weil ihm die Vernähungen von vier Frauenkörpern unterschiedlichen Alters (Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter) zu ungeheuer waren, als dass er seinen persönlichen Abscheu durch Vernunft hätte überwinden können.

Annegret Soltaus Werk verkörpert das Potential einer Kunst, für das die Türen in einer von anderen gesellschaftlichen Erfahrungen bestimmten Kunstwelt nur widerstrebend und wenn dann zunächst nur einen Spalt breit geöffnet werden. Dieser jetzt vorliegende biografische Band lässt erkennen, dass die ästhetischen Differenzen um das Werk dieser Künstlerin nicht nur die feministische Seite ihrer Kunst betreffen, sondern auch gespaltene Lebenswelten eine Rolle spielen. Wie das Netz vor dem Gesicht der Künstlerin offenbart die Zensur Unselds exemplarisch die meist unsichtbaren aber gleichwohl folgenreichen Parzellierungen in Kunst und Gesellschaft. Entsprechend abgestuft fällt der Aufwand aus, mit dem die Institutionen ihre Protagonisten aus verschiedenen Klassen würdigen.

Umschlag, Rückseite

Umschlag, Rückseite