Geschwindigkeit – Generationen – Vatersuche – Matriarchat

Die Suche nach dem Vater steht im Mittelpunkt der Ausstellung Teilen_Verbinden von Annegret Soltau in der Kunsthalle der Sparkassenstiftung in der Kulturbäckerei Lüneburg im Juni 2016. Eine Sequenz im Raum hängender Folien, in die Selbstportraits eingeschweißt wurden, heißt „Vatersuche“. An Stelle ihres Gesichts sind fragmentierte Schreiben von Dienststellen eingenäht, die sie um Mithilfe bat, das Schicksal des vermissten Wehrmachtsoldaten aufzuklären, von dem sie nur ein Foto besitzt.

Annegret Soltau: Vatersuche, 2003-2007, courtesy: Annegret Soltau, VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Foto: johnicon

Annegret Soltau: Vatersuche, 2003-2007, courtesy: Annegret Soltau, VG Bild-Kunst, Bonn 2016, Foto: johnicon

Um diese im Raum hintereinander aufgehängte Reihe dutzender Folien sind weitere Fotoarbeiten gruppiert, zu denen Foto-Vernähungen wie „Transgenerativ“ http://www.annegret-soltau.de/de/galleries/generativ-1994-2005 genauso gehören wie die zwei 150×240 cm großen Fototableaus „Hindurchgehen 1 und 2“.  Sie bestehen aus je 240 Schwarz-Weiß-Abzügen von 6×6-Negativen. Jedes einzelne zeigt ihren Körper in Bewegungsphasen, die durch Ritzungen in den Negativen mit harten kontrastreichen Linien  dynamisiert wurden, bis sie sich in eine futuristisch anmutende abstrakte Figur verwandelt hatten. Jedes dieser hybriden Negative aus Ritzung und Fotos wurde mehrmals in einem anderen Stadium der Bearbeitung abgezogen, bis aus jeder Fotografie ein zeichenhaftes Gebilde und am Schluss ein schwarz gefülltes Quadrat geworden war. Der Körper hatte sich so von seinem fotografischen Abbild in ein Zeichen von Bewegung und Geschwindigkeit verwandelt bis er verschwand.

Hindurchgehen, Fototableau 150x240 cm (Ausschnitt), Die Bildrechte liegen bei: Annegret Soltau, VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Hindurchgehen II, Fototableau 1983-84, 150×240 cm (Ausschnitt), Die Bildrechte liegen bei: Annegret Soltau, VG Bild-Kunst, Bonn 2016

Wesentlich für die Entwicklung des fotographischen Werks von Soltau ist ihre Auseinandersetzung mit zeitlichen Prozessen, von denen die Geschwindigkeit ein Aspekt ist, den zuvor schon die Futuristen mit Krieg in Zusammenhang gebracht hatten. Mit den Fotosequenzen legt Soltau als eine der Body Art nahe stehende Künstlerin die verschiedenen zeitlichen Ebenen offen, die sich in ihren Körper eingeschrieben haben. Dabei erlauben es die bearbeiteten Negative, den Schauplatz der Einschreibung auf das fotographische Material zu verlegen und so von Leiden und Entbehrungen des Körpers zu trennen, den einigen ihrer Zeitgenossen in Performances öffentlich malträtiert haben. Die Abzüge von Selbstportraits, die jeweils mit echten Stecknadeln gespickt worden sind, bestätigen diesen symbolisch gewordenen Zusammenhang. Der Verlust des Vaters, die vergebliche Suche nach ihm und die Entbehrungen der Nachkriegszeit werden jeweils durch die Bearbeitungsprozesse des Bildmaterials als physische Erfahrung vergegenwärtigt. So durchdrangen die Nadelstiche in Versatzstücke wie zerrissene Fotos und zerschnittene Dokumente und fügten sie mit den daran hängenden Fäden wie Häute zu einem Ledermantel zusammen. Folien und Fotopapiere verhalten sich tatsächlich wie Surrogate gegenüber den traditionellen Materialien, die wie Pergament immer schon als Bildträger genutzt wurden.

Die Bildrechte liegen ich überstochen, 1991/1992, Foto, Stecknadeln (Ausschnitt), courtesy: Annegret Soltau VG Bild-Kunst, Bonn, 2016

Die Bildrechte liegen ich überstochen, 1991/1992, Foto, Stecknadeln (Ausschnitt), courtesy: Annegret Soltau VG Bild-Kunst, Bonn, 2016

Auf eine archaische Art und Weise werden die insgesamt vier Generationen der Frauen der Familie zu grotesk surrealen Bildern zusammengefügt. Diese simultanen Ansichten verschiedenen Altersstufen von Frauen und Mädchen, die oft in einem Körper kombiniert sind, offenbaren Erfahrungen von Familien, die den gewaltsamen Verlust eines Mitglieds kompensieren müssen. In diesem konkreten Fall des gefallenen oder verschollenen Vaters führen die Anstrengungen einen künstlerischen Ausgleich herbei, der ein Matriarchat verkörpert, in das erst im Laufe der Zeit der Mann der Künstlerin und der Vater ihrer drei Kinder einbezogen wurde. Die Werkgruppen „generativ“ und „transgenerativ“, zwischen 1994 und 2008 entstanden, bearbeiten diesen existenziellen Zusammenhang.

Im Werk Soltaus schieben sich mehrere Zeitebenen ineinander: In den 1970er Jahren war es die Zeit und Raum komprimierende Dynamik der Bewegung, die letztlich auch ihrer zerstörerische Wirkung ausmacht.  Später wird diese mit der Lebenszeit von vier Generationen verschnitten und vernäht. Und darüber liegt die Zeit, die über die Geschichte hinausweist in die Zeit der transhistorischen Erfahrung, aus der sich die „transgenerative“ Erfahrung der Zeit des Matriarchats speist.

Alle Werkgruppen und einzelne Werke sind auf der Homepage der Künstlerin: www.annegret-soltau.de einzusehen.

©Johannes Lothar Schröder, VG-Wort 2016

Zusammenstehen statt Schmelzen

Alexandru Pirici interpretiert „Fluids“ in Berlin

Eine Touristengruppe mit Segway-Rollern fährt eine Schleife über den Platz, um bei der nächsten Grünphase die Kreuzung zu queren. Auf ein Zeichen des Tourenführers mischen sich die Elektroroller zwischen die Fahrräder, die gleichfalls bei Grün losfahren. Auf der Fahrbahn anfahrend dröhnen die schweren Dieselmotoren der Busse und eines Baustofflasters. Vor ihnen zieht ein Motorrad davon und an den zum Stehen gekommenen Rechtsabbiegern vorbei. Als beim Umschalten der Ampeln der Lärm für Augenblicke versiegt, wird ein raunendes Summen vernehmbar. Es dringt von einer Gruppe Menschen herüber, die als Block zusammenstehen. An- und abschwellend singen die Freiwilligen, die diese Version der „Fluids“ von Allan Kaprow realisieren, einen Ton. Alexandru Pirici hat sie sich ausgehend von der Beschreibung des 10 Meter langen 3,40 m breiten und 2,60 hohen Gebildes des amerikanischen Künstlers überlegt und am 18. Sept. 2015 auf dem Potsdamer Platz realisiert.

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Kalte Zeiten

Kaprow, der als Protagonist von Happenings bekannt geworden ist und den Begriff erfand, hatte „Fluids“ 1967 anlässlich der Retrospektive seiner Arbeiten im Pasadena Art Museum konzipiert. Sie sollten an 30 verschiedenen Schauplätzen im Großraum Los Angeles aufgebaut werden. Angeblich wurden 15 „Fluids“ aus insgesamt ca. 200 to Wassereisblöcken installiert. (Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, München 2003, S. 191) Am 15. Sept. 2015 wurde eine Version dieser historischen Installation vor der Neuen Nationalgalerie aktualisiert. Nicht abwegig ist es anzunehmen, dass zahlreiche Besucher dieser Installation angesichts ihrer langsam dahinschmelzenden Substanz an den Klimawandel gedacht haben. Vor 48 Jahren war das anders. Damals sprach man vom „Kalten Krieg“ und von „Eiszeit“. Auch konnten Begegnungen zwischen Politikern und Künstlern aus den Ländern des Warschauer Pakts und der NATO „eingefroren“ werden. In den Zeiten des „Eisernen Vorhangs“ ging es außerdem um Territorien, wie sie durch die Eismauern, die praktisch 30 qm begrenzen, dargestellt worden sind. Insofern rekapituliert der Standort, den Pirici für ihre Variante von „Fluids“ wenige Schritte vom ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer entfernt treffend ausgewählt hat, die Geschichte von „Fluids“ und die Zeit der Happenings.

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Tempo

Drückte damals das schmelzende Eis auch die Hoffnung auf ein Ende der politischen Stagnation aus, so ist der relative Stillstand der wirtschaftlichen Verhältnisse seit dem Fall der Mauer einer zunehmenden Dynamik gewichen, so dass heute die schnelle Veränderungen zur sozialen Instabilität führten und die laufende Verflüssigung der Verhältnisse vielen Menschen Angst macht. Der Potsdamer Platz ist ein authentischer Ort dieser Entwicklung. Zur Zeit des Kalten Krieges war er durch die Mauer geteilt und gar nicht mehr als städtebaulicher Kreuzungspunkt zu erkennen, wogegen dort heute die ungezügelte wirtschaftliche Entwicklung einen städtebaulichen Ausdruck findet, der freilich anders als in den rasant wachsenden orientalischen Metropolen von den kulturellen Denkmälern des Kalten Krieges, dem Kulturforum mit Philharmonie, Bibliothek und Neuer Nationalgalerie gesäumt wird.

1970 baute Kaprow übrigens die „Sweet Wall“ nahe der Berliner Mauer aus mit Brot und Marmelade verbundenen Hohlblocksteinen. (Fotos dieses Happenings aus der Sammlung René Block, der dieses Happening organisiert hatte, sind gerade in der NGBK, Chausseestraße 8 noch bis zum 25. Jan. 2016 zu besichtigen.) Auch diese temporäre Installation wurde Happening genannt, weil sie nur errichtet wurde, um anschließend von den Erbauern umgeworfen und weggeräumt zu werden. Vor dem historischen Hintergrund der Happenings von Kaprow führt die Entscheidung der rumänischen Künstlerin Pirici, Menschen zusammenstehen und stundenlang mit einem summenden Gesang ausharren zu lassen, zu einem Bild der Standhaftigkeit von Menschen gegen neue Grenzbefestigungsanlagen.

Wissen in Aktionen

Auch in der dritten Auflage des Performance-Festivals von Brise°3 vom 3. – 5. Juli brachte die Initiatorin Elke Mark wieder verschiedene Generationen von Performern zusammen. Das ist die Praxis von paersche (homepage: www.paersche.org), deren Mitglieder das Festival mittags mit einer open session im Park auf dem Flensburger Museumsberg begannen.

Ruedi Schill & Monika Günther, Perf. am 3.7. foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Ruedi Schill & Monika Günther, Perf. am 3.7.
foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Sich bewegende Bilder

Gelassen und poetisch begannen Ruedi Schill und Monika Günther das Abendprogramm. Sie klebte sich ein Papierstreifen an die Stirn, der über den Nasenrücken bis zur Stirn reichte und gelegentlich vom Atem gerührt wurde. Er zog nacheinander auf A6 gefaltete A2 Bögen aus der Gesäßtasche, um sie auf 12 verschiedene Art und Weisen zu entfalten. Danach wurde der gerade entfaltete Bogen neu geknickt, gerollt, gedrückt, zerknüllt, getütet, gestrichen, geknäuelt, geöffnet und dann der Schwerkraft überlassen , die je nach Oberfläche verschiedene Varianten des Fallens erzeugte.

Zwei Fahrräder steckten in einem Konglomerat aus Erde und Pflastersteinen, unter dem Bilderrollen steckten, die Helge Meyer & Marco Teubner nach und nach entrollten und auslegten. Wofür stehen die in schwarzer Farbe gebadeten Hände der schwarz Beanzugten mit schwarzen Koffern? Stellen sie eine Art von hohen Priestern der Kehrseite unseres auf hohe Mobilität gegründeten Wohlstandes dar, in dessen Namen nicht nur die in den Statistiken aufgezählten Menschen geopfert werden, sondern gleichfalls eine ihre Zahl übersteigende unbekannte Anzahl von Tieren?

Helge Meyer & Marco Teubner, Perf. am 3.7. Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Helge Meyer & Marco Teubner, Perf. am 3.7.
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Das Spiel mit einem schwebenden Herz aus Metallfolie begann nach der Pause in einem Gebäudezwickel des Museums. Im Abendlicht erzeugten Evamaria Schaller & Alice de Visscher schöne Bilder, die in überraschende Aktionen mündeten, als der mit Helium gefüllte Ballon z.B. im Aufzug nach Oben entschwand oder diagonal am Publikum vorbeiraste.

Evamaria Schaller & Alice de Visscher, Perf. am 3.7. Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Evamaria Schaller & Alice de Visscher, Perf. am 3.7.
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Zum Abschluss des Abends führte eine Spur aus Sand, der aus dem Karton auf dem Gepäckträger eines Fahrrades rieselte an die Förde. Dort schwebte auf einem Ponton einer luftgängigen Riesenqualle über die mitsommerliche Förde.

Elke Mark, Perf. am 3.7. Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Elke Mark, Perf. am 3.7.
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Über die anderen Performances, mögen andere schreiben; denn ich musste abreisen und konnte die Fortsetzung des Festivals in Dänemark nicht mehr erleben.

Nachlässe

Bleibt noch zu erwähnen, dass Brise und paersche unterschiedlichen Menschen zum praktischen und theoretischen Austausch zusammenbringen, um besonders auch das sich physisch manifestierende Wissen verschiedener Generationen mit ihren jeweiligen Erfahrungen und Eigenheiten zusammenzubringen. Das aktiviert Ressourcen der Performance-Art, die besonders hinsichtlich einer beschleunigten Ausbildungs- und Berufswelt, die auch Künstlerkarrieren in der Welt digitalisierten Wirtschaftens und Kunstschaffens nicht unberührt lässt. Dieser Austausch zwischen den Generationen, die internalisiertes Wissen und tollkühne Experimente teilen, ist eine kostbare Praxis in einer virtuellen Kommunikationswelt. Ein paar Tage lang wird Wissen physisch sichtbar gemacht und rituell geteilt. Ob das auch auf dem Gebiet des Archivierens geschehen wird, wird sich in den kommenden Jahren herausstellen, wenn die Nachlässe der Generation von Performern zur Disposition stehen, die in den 1960ern und 70ern die Inspirationen der interdisziplinären Kunst, der Body Art, der Überschreitung etc. aufgriffen haben und als bildende Künstler damit begannen, vor Publikum mit ihrem Körper zu experimentieren. Jetzt stellt sich nämlich die Frage, ob die Kulturrichter und ihre Geldgeber sich dafür entscheiden, dieses Wissen auf die Boote zu laden, um es mit in die Zukunft zu nehmen oder es dem Abfall überlassen. Eine Entscheidung fällt aber nicht nur durch Archivierung der Relikte und Medien, auf denen Performances gespeichert werden, sondern auch in den Curricula der Schulen und Hochschulen, wo neoliberale Berater den Kunstunterricht und kulturwissenschaftliche Fachbereiche auf die Streichlisten setzen.

Ein Buch

Mit Formen der Wissensgenerierung/Practices in Performance Art stellten die Herausgeber Manfred Blohm und Elke Mark einen Band vor, dessen Beiträge die paradoxe Verbindung zwischen Bild und Ephemeren untersuchen (ATHENA-Verlag, Oberhausen 2015, 203 Seiten). Das Tun – Wahrnehmen und Machen – führen zu Ergebnissen, die weiterwirken, sei es dass sie bleiben oder verschwinden, sich manifestieren oder in etwas Anderes übergehen. Entscheidend sind wohl die jeweilige Auffassung von Festigkeit und das Bedürfnis nach Stabilität von Verhältnissen und Dingen. Die ruhigen Bilder und die Bedächtigkeit, die den ersten Festivaltag bestimmten, waren möglicherweise dem Streben nach Konsolidierung gedankt, mit dem sich Performance Art und Bildwelten sich aufeinander zubewegen.

Johannes Lothar Schröder