Über hannes

Johannes Lothar Schröder lebt als freiberuflicher Forscher, Autor und Lehrer in Hamburg. Sein Arbeitsgebiet ist der Zeitbezug in Werken der bildenden Kunst besonders im Futurismus und in der Performance Art. Die hiervon beeinflussten künstlerischen Äußerungen mit ihren Auswirkungen auf die Bildkultur haben sich durch das Internet, das weltweit ephemere Ereignisse unmittelbar einsehbar machen kann, sind heute kaum noch zu überblicken. Um so wichtiger ist es die Anfänge und die Konstellationen zu kennen, von denen es ausging. Die Expansionen der künstlerischen Äußerungsformen (Text, Bild, Ton) wurden durch die technischen Entwicklungen getrieben und hängen eng mit den Emanzipationsbewegungen zusammen. Nachdem bis ca. 2018 eigene Archivbestände in Form von Objekten, Performances und Installationen verarbeitet wurden. Prototypen wurden auf verschiedenen Performancefestivals u.a. in Szczecin und Salzau www.performance-festival.de und auf Konferenzen von Performance Studies international (PSi) in New York, Mainz, Kopenhagen und Utrecht (2012) gezeigt, schmälerten sich die beim Schreiben anfallenden Papierbestände und die Forschung bekam wieder Vorrang. Schröder war von 2008 - 2013 Vorstandsmitglied im Einstellungsraum www.einstellungsraum.de. Im Archiv dieser Homepage sind zahlreiche Aufsätze zugänglich. Er unterrichtete Kunstgeschichte und Performance Art an verschiedenen Hochschulen (darunter Frankfurt, Hamburg, Lüneburg, Ottersberg). Workshops und Vorträge von ihm gab es in Tokio, Berlin, Hamburg, Nagoya, Eichstätt und anderswo. Er war seit 1992 Mitherausgeber von „Journal Oriental“ www.amokkoma.eu und ist seit 2016 Co-Organisator von FUTUR - Festival für Film und Performance www.futur-filmfestival.com in Hamburg Das neueste Buch "abhängen. Bilder und Gefühle verwerfen" ist über die bedeutenden Leistungen von Künstler*innen wie Dieter Rühmann, Annegret Soltau und Boris Nieslony, die unberechtigterweise wenig beachtet geblieben und sogar zensiert worden sind. Es im 2022 im ConferencePoint Verlag, Hamburg erschienen. ISBN 978-3-936406-61-0

„Ich bin euer Künstler; das verpflichtet mich.“

Dieter Rühmann wird 80

Als Dieter Rühmann 1973 das begehrte Alfred-Lichtwark-Stipendium gewann, düpierte der mit Malerei, Zeichnen, Film, Sprache und Objekten experimentierende Künstler die Jury mit dem Vortrag seiner Agitationsoper, die er zum Dank vortrug, und der Zerstörung seiner Bilder, die er aus den Rahmen schnitt. Was es hieß, zum Roten Tuch für Kunstsachverständige und ein Publikum zu werden, stand für ihn damals nicht im Vordergrund, denn es ging, um mehr, als sich Ausstellungsmöglichkeiten für Bilder zu sichern. Die Bilder selbst standen zur Debatte, und das Lob des Establishments hätte nur von den wesentlichen Fragen abgelenkt.

Den Zwischenrufern in der Hamburger Kunsthalle, die Rühmann gerne in die damals kommunistische DDR verfrachtet hätten, war überhaupt nicht klar, dass sie ihn damit zum Dissidenten im westdeutschen Kunstbetrieb gemacht hätten, denn man nahm damals ja an, dass es „Dissidenten“ nur in den Ländern des Warschauer Pakts geben würde. Warum sollte ein westdeutscher Künstler in der DDR Asyl suchen, wenn für ihn die kommunistische Alternative, wie für viele Protestierende im Westen, in der Volksrepublik China lag.

Weltraum im Kunstraum

Elf Jahre später gab es eine vorsichtige Annäherung an die führende Hamburger Kunstinstitution. Rühmann verbrachte als „Artonaut“ 10 Tage in einer 2x2x2 Meter großen geschlossenen Holzkiste über dem Altbau der Kunsthalle. Er betrachtete seine Klausur im djun-leb vom 9. – 19. Mai 1984 als Weltraumfahrt, die er als Künstler mit einfachen Bordmitteln bewerkstelligte; denn für ihn ging es im Weltraum nicht um Macht und militärische Kontrolle, sondern um die Möglichkeit als Mensch in der Isolation zu sich selbst zu kommen und die Grenzen des Menschen auszukundschaften.

djun-leb,1984, Installationsfoto, (c) Dieter Rühmann

Die auf Monitore innerhalb und außerhalb des Museums übertragene Aktion wurde zu einem Gegenentwurf zur konsumorientierten Lebensweise und zur technologischen und energieverschwenderischen Raumfahrt mit Raketen. Rühmanns Utopie war indes darauf aus, den Stoffwechsel und die Bedürfnisse des Menschen zu reduzierten, um alles Überflüssige wegzulassen zu können. Seitdem ist dieser radikale ökologische Ansatz von bleibender Aktualität, denn die Raumfahrttechnologie hat uns zwar in die Lage versetzt, die Schäden, die die Industrialisierung angerichtet hat, in Echtzeit zu beobachten, doch ist es bisher nicht gelungen, ihre Ursachen zu begrenzen. Im Gegenteil tragen Luft- und Raumfahrt besonders durch die mit ihr verbundene Militär- und Waffentechnologie zur Ausweitung der Schäden bei. Auch dieses Gebiet hatte Rühmann im Blick. Als er 2001 die Büchse der Pandora, eine 400 Meter hohe Plastik, entwarf, die wie ein Schilfrohr mit einer Konservendose an der Spitze im Wind schwingen sollte, dachte er auch an eine Beobachtungsstation der Welt auf der Erde, die ohne Raketen auskommen würde. http://buechsederpandora.de/espresso/index.php Im Verhältnis zur Höhe der Installation wäre die Konservendose kühlturmgroß und würde gleichzeitig als Observatorium und Mahnmal der Verschwendung von Ressourcen fungieren.

Die Herstellung des Menschen als Bild

Das Museum war dem Kunstexperimentator schon 1993 zu eng geworden. Seinen 50 Meter hohen ECCE HOMO stellte er drei Tage lang vor dem Turm der Hamburger Nicolaikirche an der Ost-West-Straße (heute: Willy-Brandt-Straße) aus. Die von einem realen Menschen abgenommene Fotokopie wurde vergrößert und auf 5000 Fotokopien aus Spezialpapier übertragen, um zu einem im Wind rauschenden Feld aus Blättern in der Vertikalen zusammengestellt und ausgestellt zu werden.

Damals jährten sich die alliierten Bombenangriffe auf die Hansestadt zum 50. Mal. Nicht alle dachte bei diesem Thema an Superlative, doch Rühmanns ECCE HOMO war definitiv das größte je in Hamburg gezeigte Bild eines Menschen. In einem Statement, in dem er wie oft in seinen Werken auch seine Gefühle bei der Arbeit und sein Verhältnis zur Rolle als Künstler offen legte, gab er seine Befriedigung über die gelungene Installation bekannt und verkündet zudem, dass dieses Bild ihn nahe an seine ideale Vorstellung von seiner Arbeit als Künstler gebracht habe:

„Ich anerkannte den Fotokopierer als Vervielfältigungsgerät. Es sollte mir eine Kopie des Menschen herstellen, einen Abdruck, in meinen Augen ein reines, unverfälschtes Bild des Menschen. Dieses Gerät sollte statt meiner machen. Ich wollte dabei sein und zuschauen, wie es den Menschen abbildet.
(…)
Ich erlebte wie ein Mensch, das Individuum, das sich mir als Modell zur Vergnügung stellte, in seiner Abbildung so viel von seiner Individualität verlor, dass er zum Zeichen wurde. Zum Zeichen des Menschen.
(…)
»Mein« Bild des Menschen setzte sich inzwischen aus vielen Generationen zusammen, bis es eine Größe erreichte, die ich in meinem Atelier nicht mehr ansehen konnte. Von da an bis zur Größe des Kirchturms hatte ich nur noch nummerierte Fragmente vor Augen. Ich verstand das Bild nicht mehr, seinen lebendigen Zusammenhang nicht. Stattdessen nummerierte ich Blätter mit abstrakten Formen, die der Kopierer ausspuckte.“

(Statement des Künstlers 1993)

Dieter Rühmann, ECCE HOMO, 1993, (c) Dieter Rühmann

Diese Äußerungen Rühmanns belegen, dass sein Künstlerethos von der Maschine inspiriert worden war. Damit ergänzte er die Ansicht Andy Warhols, der von sich sagte, er sei eine Maschine durch die Auffassung, sich in ihren Dienst zu stellen, womit er sich wie ein mittelalterlicher Künstler einer höheren Macht unterwarf. Das hatte zur Konsequenz, dass er das Ergebnis seines Schaffens nicht mehr visuell kontrollieren, sondern nur noch indirekt steuern konnte. Die Übersicht behielt er bis zur Aufhängung des Bildes durch Nummerieren und Organisieren sowie die Konstruktion eines Mechanismus, mit dem das Bild vor dem Turm mit zwei Teleskopkränen hochgezogen werden konnte.

Im Moment des Sichtbarwerdens des gesamten Bildes ereignete sich dann etwas, für das die Moderne den Blick verloren hatte. Es entfaltete sich ein Werk, das sich jenseits der Kontrolle des Künstlers ereignete, und ihm letztlich als Fremdes entgegentrat. Er fasste den Eindruck in Worte:

„Das Bild des Menschen war noch größer geworden als meine Vision. Mir war, als habe man mir eine Binde von den Augen genommen, und ich sah, dass ich bisher nur an einem einzigen Bild gearbeitet hatte, am Bild des Menschen. Dort hing er also. Seht, welch ein Mensch.“, schrieb Rühmann 1993, nachdem er erlebt hatte, wie sich das Bild Abschnitt für Abschnitt vor dem Kirchturm entfaltet hatte. Als Wind durch die frei hängenden Einzelblätter fuhr, erzeugte er das Raunen eines vorbeifliegenden Vogelschwarms.

(c) Johannes Lothar Schröder

 

Das Buch „Bilder und Gefühle verwerfen“ über Dieter Rühmann, Boris Nieslony und Annegret Soltau ist in Vorbereitung. Nach dem Erscheinen im ConferencePoint Verlag wird es im Buchhandel und beim Autor zu bestellen sein.

Der Schwanendreher auf dem Feld oder in der Küche?

über ein Concerto von Paul Hindemith

Am 17. Juli 2019 brachte der NDR-Kultur ein Gespräch mit der Musikerin Tabea Zimmermann, die unter anderem das mit ihr eingespielte Viola-Concerto „Der Schwanendreher“ von Paul Hindemith vorstellte.[1] Ein wunderbares sommerlich klingendes Musikstück war zu hören und es wurde über den Ursprung des Titels gerätselt. Auf mich wirkte es befremdlich, als von Köchen die Rede war, die einen gebratenen Schwan am Spieß drehen, so dass ich mich fragen musste, ob die Interpretin sich ernsthaft eine Beziehung zwischen diesem vorwiegend leicht und beschwingt klingenden Stück und einer mit Bratenschwaden erfüllten Küche vorstellen wollte.

Heu in Schwanen auf der gemähten Wiese

Ich hatte dabei eher das Bild einer frühsommerlichen Wiese mit duftendem Heu vor Augen und Nase, in dem – wie das zu Zeiten Hindemiths noch der Fall war – ein Dutzend Bauern und Helfer dabei waren, das noch nicht vollständig getrocknete Gras am Abend zu schwanen, um es vor nächtlichem Tau oder einem herannahenden Regenschauer zu schützen. War auch am nächsten Tag noch Regen zu erwarten, wurden die Schwanen gedreht oder gewendet, damit sich zwischen dem unten liegenden Schnitt und der Wiese Schimmel kein bilden konnte. Erst wenn das Heu trocken genug war, wurde es zu Haufen gestapelt, bis man es in die Scheune bringen konnte.

Zeitgenössische Schwanen von Stroh mit Erntemaschinen hergestellt, Foto: Gudrun Nehlsen

Eine Besonderheit dieser Schwanen ist auch ihre Parallelität, die einem Komponisten von weitem wie Notenlinien erscheinen können, zwischen denen die Bauern und Feldarbeiter bei ihren Aktivitäten mit Forken und Rechen wie bewegliche Noten unterwegs sind. Dazu kommen Vögel, die zwischen den gedrehten Schwanen aufgescheuchte Insekten und Spinnen finden.

https://www.youtube.com/watch?v=wPgmUji_bBM (mit Noten)

Das Concerto legt auch nahe, dass Hindemith den Weg zum Feld, die Pausen, herannahende Regenschauer, aufziehende Gewitter und die unterschiedlichen Arbeitstempi als Inspirationsquelle verstand. Dazu kommen einzelne, die das zu dicken Gespinsten zusammengeworfene Heu mit ihren Gabeln aufspießen und die Fracht geschultert zusammentragen oder sie später bei der Ernte auf dem Wagen verladen.

[1] NDR Kultur – Klassik à la carte – 17.07.2019 13:00 Uhr im Gespräch mit Margarete Zander
nachzuhören auf: https://www.ndr.de/ndrkultur/Tabea-Zimmermann-gibt-Meisterkurs-und-Konzerte,audio536188.html