Eine Drehpunktperson wird Siebzig

Boris Nieslony begegnete ich in Hamburg, wo Besuche in der BuchHandlungWelt sowie das Theater der Nationen 1979 mit einem Performance-Programm mein Interesse an der Performance Art geweckt hatten. Im Künstlerhaus in der Weidenallee trafen wir uns gelegentlich. An einem Winternachmittag schaute uns Dr. Coppi beim Schlürfen des heißen Bohnenkaffees, der mit Getreidekaffee gestreckt war, zu. Man sollte ihn fragen, ob er unsere Gespräche noch erinnert.

Bei einem unserer letzten Treffen in Hamburg vor Nieslonys Umzug nach Düsseldorf und dann nach Köln zeigte er mir einen Band von Pier Paolo Pasolini (Corpi e luogi, Rom 1981). Darin waren Filmstills systematisch nach Themen, Orten, Darstellern, Gesten, Mimik und anderen körpersprachlichen Gesichtspunkten geordnet. Die archaischen Schauplätze waren nach Pasolini, der das kulturelle Erbe durch zügellose Profitgier zerstört sah, für das Gedächtnis der Menschheit essentiell. Das Kino sah er als ein Mittel, die „in die Körper eingeschriebene Geschichte“ zu bezeugen. Man muss bedenken, dass in der Zeit keine Videos von Kinofilmen verfügbar waren, weshalb es schwierig war, die Eindrücke, die nach einem Kinobesuch blieben, zu belegen. Der Pasolini-Band muss Nieslony dazu bewegt haben, seine im Entstehen befindliche Bildersammlung von Körpern, seinen Gesten und Bewegungen zu organisieren. Teile dieser Sammlung, die er „Anthropognostisches Tafelgeschirr“ nennt, waren vom 27.2. bis 22.3.2015 im Künstlerforum Bonn zu sehen. Ein Text mit Fotos aus der Ausstellung von Boris Nieslony und Gerhard Dirmoser „Liegen-Sitzen-Stehen-Gehen-Springen-Fliegen/Fallen. Was Menschen tun-und wie“ ist in dem Band Formen der Wissensgenerierung. Practices in Performance Art (hg. von Manfred Blohm und Elke Mark, ATHENA-Verlag Oberhausen 2015, S. 95-108) erschienen. Sowie: http://thelyingonthefloorabandonedtolie.blogspot.co.at/

Boris Nieslony im Gespräch mit Marco Teubner am 3.7.2015 in Flensburg (Brise3) Foto: johnicon, VG Bild-Kunst

Boris Nieslony im Gespräch mit Marco Teubner am 3.7.2015 in Flensburg (Brise3)
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst

Dieses Archiv aus Tausenden von Ausrissen aus Illustrierten wurde von den besten Fotografen weltweit geliefert, und Nieslonys Sammlung antizipierte zudem die Möglichkeiten des Internets; denn er hatte bemerkt, dass Gesten und Körpersprache in der Fotografie massenhaft vorhanden waren. Das Archiv bildet zudem einen wesentlichen Teil des umfangreichen plastischen, installativen, performativen und zeichnerischen Werks von Nieslony. Letzteres bewirkte übrigens seine Entscheidung, Kunst zu studieren. Tote und Sterbende, denen er bei seiner Arbeit im Pflegeheim begegnete, hatten ihn veranlasst, sie zu portraitieren. Unzufrieden mit den Ergebnissen bewarb er sich mit dem Ziel, das Zeichnen zu lernen, an der Kunstakademie.

Die Zweifel an der Endgültigkeit eines Bildes haben ihn seitdem angetrieben und zum Anreger der Performance Art und zu einer wichtigen Drehpunktperson in Deutschland werden lassen, der Künstler aus aller Welt zusammenbrachte. Er war 1977 Mitbegründer des Künstlerhauses in der Weidenallee in Hamburg, von Black Market (1985-1997). Ab 1995 regte er eine Reihe von Performance-Konferenzen an, die später wie eine Staffel von verschiedenen Künstlern an unterschiedlichen Orten fortgesetzt worden sind. Mehr als 10 dieser Konferenzen waren parallel zur akademischen Institutionalisierung der Performance Art wichtige Treffpunkte und Möglichkeiten des Austauschs.

Mit diesen wenigen Fragmenten aus seinem Werk wünsche ich dir lieber Boris zum 70sten Geburtstag Gesundheit und Schaffenskraft sowie weitere erfolgreiche Veranstaltungen mit dem aktuellen Projekt PAErsche!   http://paersche.org/

Zusammenstehen statt Schmelzen

Alexandru Pirici interpretiert „Fluids“ in Berlin

Eine Touristengruppe mit Segway-Rollern fährt eine Schleife über den Platz, um bei der nächsten Grünphase die Kreuzung zu queren. Auf ein Zeichen des Tourenführers mischen sich die Elektroroller zwischen die Fahrräder, die gleichfalls bei Grün losfahren. Auf der Fahrbahn anfahrend dröhnen die schweren Dieselmotoren der Busse und eines Baustofflasters. Vor ihnen zieht ein Motorrad davon und an den zum Stehen gekommenen Rechtsabbiegern vorbei. Als beim Umschalten der Ampeln der Lärm für Augenblicke versiegt, wird ein raunendes Summen vernehmbar. Es dringt von einer Gruppe Menschen herüber, die als Block zusammenstehen. An- und abschwellend singen die Freiwilligen, die diese Version der „Fluids“ von Allan Kaprow realisieren, einen Ton. Alexandru Pirici hat sie sich ausgehend von der Beschreibung des 10 Meter langen 3,40 m breiten und 2,60 hohen Gebildes des amerikanischen Künstlers überlegt und am 18. Sept. 2015 auf dem Potsdamer Platz realisiert.

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Kalte Zeiten

Kaprow, der als Protagonist von Happenings bekannt geworden ist und den Begriff erfand, hatte „Fluids“ 1967 anlässlich der Retrospektive seiner Arbeiten im Pasadena Art Museum konzipiert. Sie sollten an 30 verschiedenen Schauplätzen im Großraum Los Angeles aufgebaut werden. Angeblich wurden 15 „Fluids“ aus insgesamt ca. 200 to Wassereisblöcken installiert. (Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, München 2003, S. 191) Am 15. Sept. 2015 wurde eine Version dieser historischen Installation vor der Neuen Nationalgalerie aktualisiert. Nicht abwegig ist es anzunehmen, dass zahlreiche Besucher dieser Installation angesichts ihrer langsam dahinschmelzenden Substanz an den Klimawandel gedacht haben. Vor 48 Jahren war das anders. Damals sprach man vom „Kalten Krieg“ und von „Eiszeit“. Auch konnten Begegnungen zwischen Politikern und Künstlern aus den Ländern des Warschauer Pakts und der NATO „eingefroren“ werden. In den Zeiten des „Eisernen Vorhangs“ ging es außerdem um Territorien, wie sie durch die Eismauern, die praktisch 30 qm begrenzen, dargestellt worden sind. Insofern rekapituliert der Standort, den Pirici für ihre Variante von „Fluids“ wenige Schritte vom ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer entfernt treffend ausgewählt hat, die Geschichte von „Fluids“ und die Zeit der Happenings.

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Tempo

Drückte damals das schmelzende Eis auch die Hoffnung auf ein Ende der politischen Stagnation aus, so ist der relative Stillstand der wirtschaftlichen Verhältnisse seit dem Fall der Mauer einer zunehmenden Dynamik gewichen, so dass heute die schnelle Veränderungen zur sozialen Instabilität führten und die laufende Verflüssigung der Verhältnisse vielen Menschen Angst macht. Der Potsdamer Platz ist ein authentischer Ort dieser Entwicklung. Zur Zeit des Kalten Krieges war er durch die Mauer geteilt und gar nicht mehr als städtebaulicher Kreuzungspunkt zu erkennen, wogegen dort heute die ungezügelte wirtschaftliche Entwicklung einen städtebaulichen Ausdruck findet, der freilich anders als in den rasant wachsenden orientalischen Metropolen von den kulturellen Denkmälern des Kalten Krieges, dem Kulturforum mit Philharmonie, Bibliothek und Neuer Nationalgalerie gesäumt wird.

1970 baute Kaprow übrigens die „Sweet Wall“ nahe der Berliner Mauer aus mit Brot und Marmelade verbundenen Hohlblocksteinen. (Fotos dieses Happenings aus der Sammlung René Block, der dieses Happening organisiert hatte, sind gerade in der NGBK, Chausseestraße 8 noch bis zum 25. Jan. 2016 zu besichtigen.) Auch diese temporäre Installation wurde Happening genannt, weil sie nur errichtet wurde, um anschließend von den Erbauern umgeworfen und weggeräumt zu werden. Vor dem historischen Hintergrund der Happenings von Kaprow führt die Entscheidung der rumänischen Künstlerin Pirici, Menschen zusammenstehen und stundenlang mit einem summenden Gesang ausharren zu lassen, zu einem Bild der Standhaftigkeit von Menschen gegen neue Grenzbefestigungsanlagen.

Faster than a supersonic-passenger-liner

On Sunday, 10th of May 2015, Chris Burden died of skin cancer in the age of 69. For the critics of the 1970s who wondered whether he would survive the decade of Body Art, he made a pretty long career as he became an influential teacher at UCLA, where he was the dean of the art department. Besides being a teacher, his spectacular performances and installations made him a general example of an artist who takes risks and shows, what you can achieve by pushing the limits of your body and art. He took the risks of being shot at and of folding himself in a 2 by 2 by 3 feet locker for five days.

Chris Burdens Arm, Köln 1992, Foto: johnicon, Courtesy: NONNOMPRESS, Kiel; VG-Bild-Kunst 2014

Chris Burdens Arm, Köln 1992, Foto: johnicon, Courtesy: NONNOMPRESS, Kiel; VG-Bild-Kunst 2015

When he turned to create objects by building the B-Car in 1975, he did not give up this spirit of performance-art, but instead created monuments of human triumphs over the limits of the physical. In 1977 he took a banal rubberband powered airplane made by paper with him when entering the Air France supersonic-passenger-liner from Paris to Washington D.C. just to prove that it can fly faster than the Concorde at Mach 2.05 groundspeed.

For those who doubt that his later large scale installations have something in common with performance art, one can say, that they are monuments of the ludicrous, as part of the poetic capability which is reinforced by will and imagination. At first glance it seems crazy to imagine one could meet a flying steamroller in reality. Not so in the exhibitions of Burden, where he achieved things which seemed impossible. In the MAK in Vienna you could encounter the “Flying Steamroller” in 1991. These installations are monumental for the spirit of performance art, as they show that steadiness and leverage are virtues of performers making big things move. And he was aware of the dangers of the big, careful to control the big and the destructive potential of the big. This was demonstrated by Samson in 1985, when he used a 100-ton jack, which was connected via gear box to the turnstile of entrances in Museums and galleries. Should hundreds of thousands of visitors have attended Burden’s art show, his work of art would have destroyed the walls of these buildings.

These works were under the control of the artist. But the “Fist of Light” consisting of 116 halide light fixtures and cooling systems, which could change black into white hit him metaphorically and in reality. The light, a constant theme of his art, could not destroy him, but the sunshine did.

Johannes Lothar Schröder