„No noise is good noise“ George Brecht

Rutherford Chang, „We Buy White Albums“, 2013 bis 2019, Installationsdetail in den Deichtorhallen, Hamburg. Foto: johnicon

An 14 Doormen vorbei

Im Entrée der Ausstellung muss man sich durch ein Spalier aus menschenhohen s/w-Foto-Porträts vom Sven Marquadt arbeiten. Dabei kann man tatsächlich den 14 Türsteher des Berghain ins Gesicht schauen. Die Serie heißt „Rudel1“. Doch ist es auch hyper, nicht zu den Besuchern des Clubs gehört zu haben, wie Philip Topolovac mit „I’ve Never Been to Berghain“ bekennt. Diesen 2004 verschwundenen Ort hat er stattdessen als Korkmodell maßstäblich nachgebaut. Neben der martialischen Kulisse müssen sich die zwei kleinformatigen Papierarbeiten mit Piktogrammen und Wortspielen für Musikliebhaber von Juro Grau durch hintergründigen Witz behaupten. Und schon ist man eingestimmt auf Kleines und Großes, Großes von Kleinen, Kleines von Großen, Großes von Großen usw., und was sonst Besucher*innen beim Gang durch den Parcours erwartet.

Lange Bilder werden Partituren

Defiliert man am zweitlängsten Bild der Ausstellung, einem aktionistischen Gemälde des Musiker-Künstlers Daniel Blumberg vorbei, in der Hunderte von stereotypen Gesichtern auf fünf Feldern zwischen tachistischen Tuscheaufschlägen aus dickem Pinsel oder Tuch mit zerquetschten Pigmenten eingeschrieben sind, so sieht man ein ganz anderes Verhältnis zur Musik und zum Bild, als uns das das grandiose Publikumsgewimmel auf den Fotografien von Andreas Gursky vermittelt, auf denen Tausende Konzertbesucher*innen aus digitalen Fotoversatzstücken versammelt sind. Blumberg saß nicht vor dem Bildschirm und bearbeitete die visuelle Ausbeute eines Konzerts, sondern beginnt hyperdisziplinär selbst mit einer Aktion auf dem Malgrund und nimmt sie als Notation, die er in ein Konzert umwandeln will, das am 25. Mai in der Elbphilharmonie aufgeführt wird. Als GmbH und durch Sponsoring breitet sie sich krakenartig auch über den Kunstbetrieb und alternative Spielorte aus. Wer wie F.S.K. nicht dabei ist, muss das Vernissage-Publikum zerstreuen und zum hundertsten Mal ein olles Klavier kaputt hauen.

Dem Motto von George Brecht zugeneigt, könnte es entspannter sein, die Ausstellung noch bis zum 8. August zu erleben, wenn es nicht so voll ist. So können Besucher*innen eventuell alle Fotos in den handelsüblichen Album- oder Sammlungskartonformaten sehen, die Wolfgang Tillmans uns auf einer Wand locker verteilt anbietet. Gut, dass wir ihn haben, denn wer hätte schon die ganzen Stars über die Jahre für seine Alben selbst fotografieren können. Das Zusammenspiel von Bild und Namen, die man auf einem ausgehängten Blatt überprüfen kann, muss man sich erarbeiten, wenn man nicht als unerschöpflicher Fan die meisten aus dem Effeff kennt.

Um die Ecke kommend, hätte ich einen tiefen wachen Blick aus dunklen Augen nicht erwartet. Sie gehören einer sitzenden Frau, die entspannt ermattet mit verschobenem Mundschutz nach Malerarbeiten mitten unter einer Sammlung von Plattenhüllen sitzt. „Limitation of Life“ bietet plastischen Fotorealismus von Thea Djorojadze einer Collaborateurin von Rosemarie Trockel, mit der sie auch die ausgestellten Cover von teils fiktiven Platten gestaltet hat. Dort monatelang zu sitzen, hielte kein Corgi-Hund, der der Plastik ausgestopft zur Seite sitzt, aus. Wir Lebewesen haben unsere Grenzen.

Zahlen, Bezahlen, Geld verbrennen

Auf einmal hat man das Gefühl, mitten in einem ,Plattenladen‘ zu stehen. Aber hey! Alle Alben, die Rutherford Chang für sein Projekt „We Buy White Albums“ zwischen 2013 und 2019 aufgekauft hat, sind fast weiß (gewesen). Jetzt sind die 1200 „White Albums“ von den Beatles abgeratzt. Hier hat man mal einen anderen Begriff des Cover-Albums. Kaum irgendwo wird das originelle Original von Richard Hamilton wohl noch im frischen Weiß vorhanden sein. Hier jedenfalls kann man sich an den mit unterschiedlichsten Gebrauchsspuren, Zeichnungen, Schmierereien, Fan-Post und Liebeserklärungen versehenen Hüllen erfreuen, die keinesfalls leer sind. Wer will, kann auf drei Plattenspielern in jede Platte reinhören, ihr je eigenes Knacken vernehmen oder feststellen, ob sie hängen bleibt. Diese Platten sind durch ihren Gebrauch gesampelt!

Grenzenlos sollte die Welt der Hippies gewesen sein, und tatsächlich verlangt  ein amerikanischer Überlandbus der 1960er aus der Ferne Aufmerksamkeit. Eins zu eins steht er da, wie in einem Busbahnhof und man muss ein paar Meter dahin laufen. Statt einzusteigen, erfährt man, dass dieses imposante Siebdruckmonstrum 1967 auf Betreiben von Mason Williams hergestellt wurde. Der ließ es nach dem Drucken auf mehreren Bahnen verkleben, um dann die ganze Auflage von 200 Stück mit etlichen Helfern zum Versandt auf einem Parkplatz zusammenzufalten. Die Liebe zu Editionen war damals groß, und auch hier gibt es in jedem Abschnitt der Ausstellung bemerkenswerte Zahlen.

Die ganze Zeit lockt unbestimmt eine aus der Ferne monoton auf- und abschwellende kreischende Stimme, hinter der ein Bass wummert. Dem nachgehend, komme ich am Video trocken drehenden Stoffwalzen einer Autowaschanlage vorbei, zwischen denen eine Frau im weißen Kleid mit roten Blumen tanzt. Ein hinreißendes Bild gibt Bettina Pousttchis „Die Katharina-Show“ aus dem Jahr 2000 ab. Nach dem Ablegen der Kopfhörer kam die Quelle des Nerv tötenden Refrains „I‘m a looser“ von Alton Ellis näher. Er begleitete als Loop das 3D-Video „Nightlife“, das Cyprien Gaillard 2015 an drei Schauplätzen filmte. Im Wüsten- oder Windmaschinenwind von Los Angeles schaukeln monströs invasive Pflanzen, über dem Olympiastadion in Berlin gleitet das Fliegende Auge mit einer Drohne mitten durch ein Feuerwerk und an der Universität in Cleveland steht die Eiche, mit der der Goldmedaillengewinner im Sprint von 1936, Jesse Owens, aus Berlin zurückreiste. Erst am Ende wechselt der Loop ein einziges Mal zum später aufgelegten neuen, ebenfalls scharf gekrähten Refrain: „I’m a leader!“ Das ist die Botschaft an die, die sonst keine Chance haben, sich aber viel Glück mit Kunst, Sport und Musik versprechen. Das ist ein Mythos, den diese Ausstellung gar nicht zu befeuern braucht, denn die Wirklichkeit ist härter. Wenn einer, der das Berghain nachbaut, selbst nicht dort aufkreuzen kann, weil er als Künstler Karriere machen muss. Oder ist es doch härter, im Berghein gewesen zu sein? Kaum jemand wird die Unverfrorenheit aufbringen, Millioneneinnahmen aus dem Musikgeschäft, einfach zu verfeuern, wie es Jimmy Cauty und Bill Drummond am 23. August 1994 mit ihrem Anteil am Verkauf von The KLF taten. Die Aufnahmen des Kaminfeuers ist in der Ausstellung auf dem 9er-Monitorblock zu sehen. Auf dem Bildschirm zuhause unter: https://www.youtube.com/watch?v=M3DQOLnSMNA

Die Stärke des Aquarells

An den „Musical Transcendences“ von Radenko Milak nach Fotos von Musikern, Dokumenten und Instrumenten vorbei kommend, nehme ich eine weitere Spur auf. Unter dutzenden monochromen Aquarellen erkenne ich den von Joseph Beuys in dicken Filz verpackten Flügel und das Bild der Blueslegende Billie Holiday. Die traditionelle künstlerische Technik lässt alle Abbildungen von zumeist bekannten Fotos in hoher Dichte erscheinen, weshalb Brittney Spears und Madonna zu den Postergirls für die Ausstellung avancieren konnten. Trägt so die bildende Kunst weiterhin Musik erfolgreich in die urbane Öffentlichkeit und zeigt so weiterhin ihre Qualität oder inspiriert die Musik die Kunst, wie es bei Britta Thies der Fall ist, die wie viele Künstler*innen einen Teil ihrer Inspiration darin finden. Sie hat die Bänke zum Lungern hergestellt und zum Aufladen von mobilen Devices mit vielen Steckern bestückt, damit eigene Kanäle individuell zur Ausstellung geöffnet werden können. Ein alarmierender Dreiklang im Rhythmus des Tongebers auf einer Intensivstation aus der Black Box in der hintersten Ecke klingt nun eindringlicher und gibt den Takt vor, mit dem Hunderte ikonischer Aufnahmen aus Sci-Fi, Schwarzer Musik, krimineller und kriegerischer Gewalt, Großtechnologie, dem afroamerikanischen Widerstand in den USA, Sex und Drogen projiziert werden. Dieser so fesselnde wie beängstigende Bilderreigen mit Footage aus Medien zeigt an, wie stark visuelle Fokussierungen den Blick auf die Welt verengen können.

Leider oder glücklicherweise haben diese Bilder längere Halbwertszeiten als manche Musik- oder Künstlergruppen. Der Jahrgang einer Flasche mit einem exklusiven Etikett und einem ebenso speziellen Wein in limitierter Edition erinnert an das Ende der Gruppe Tödliche Doris 1987 aus dem Umfeld der Genialen Dilettanten. Das Andenken an den Abschied dieser 1982 in Hamburg gegründeten Gruppe wird für mich der Abschied aus einer Ausstellung mit 300 Werken von 60 Künstlern, die Max Dax kuratierte. Doch einen Moment noch! Die Zählung der Künstler hat nicht nur einen Haken; denn Richard Hamilton und die vielen unbekannten Gestalter und Umgestalter auf seinem Cover wurden nicht mitgezählt. Auch die vielen Copyrightprobleme von Videos und einer Slideshow sollten nicht verschwiegen werden. Geht es hier genauso zu wie im Internet, wo die Missachtung der Kreativen alltäglich ist. Sollte man sie aber als eine neue Vorstellung von Kollektivität betrachten, so müsste das thematisiert werden. Das geschieht mitten in einer Stadt der Händler und Vermarkter von Kultur. Wie soll dort ein Klima der Solidarität und Zusammengehörigkeit geschaffen werden, wenn man nicht einmal über Regeln spricht.

Alle nehmen alles. Eine neue Solidarität?

Ein Blick auf Gegenwart und Zukunft zeigt, dass Künstler aller Sparten nur sporadisch zusammenarbeiten. Noch vor den Künstlern haben schon die Musiker durch das Internet Umsätze verloren, die unmittelbar mit der Verbreitung ihrer kreativen Leistungen zu tun haben. Schon lange stellen sich Fragen der digitalen Einnahmen auch für Künstler, die nicht unmittelbar von den Einkaufstouren der Milliardäre profitieren. Sie benötigen das Internet als Multiplikator und verlieren doch, wenn ihre Werke verbreitet werden, ohne dass sie selbst und/oder die VG-Bild-Kunst Vorteile von zumeist unangefragter Verbreitung haben. Wenn so eine Ausstellung ein Symposium zu solchen Fragen nach sich zöge, wäre sie noch bedeutungsvoller für alle, die sich dem wachsenden Kreis von Kreativen hinzuzählen. Vielleicht sind in der nördlichen Deichtorhalle ja tatsächlich mehr als 1000 Werke von weit über 100 Künstlern ausgestellt, und keiner möchte es merken.

Alle die ihre Lieblingswerke hier nicht finden, sollten sich noch bis zum 8. August selbst in der Ausstellung umsehen und -hören, um selbst etwas zu entdecken. Während der Ausstellung gibt es noch eine Reihe von Veranstaltungen, darunter zahlreiche Konzerte vor Ort im Mai. Für alle, die häufiger mal kurz vorbeischauen und diese Veranstaltungen besuchen möchten, wären günstige Mehrfachkarten ein großer Vorteil!

Sonderveranstaltungen und weitere Infos finden sich unter www.deichtorhallen.de

Auf Augenhöhe

Ein mit Bandstahl vergitterter hölzerner Käfig stand am Morgen des 30. Oktober 2004 auf dem Platz vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg in Paderborn. Er entsprach 1:1 einer Isolierzelle, die U.S.-Truppen im Foltergefängnis von Abu-Ghraib einsetzten. 14 Jahre später kehrt der Käfig nach Stationen in Osnabrück, wo er 2009 als Teil der Ausstellung „COLOSSAL. Kunst Fakt Fiktion“ aus Anlass der Varus-Schlacht vor 2000 Jahren für einen Eklat sorgte, und der Ausstellung von Skulpturen und Zeichnungen im Morgner-Museum in Soest im Sommer 2018 zurück nach Paderborn. Bis auf weiteres steht er im Zwickel des Portals der Theologischen Fakultät und der Fensterfront des Hörsaals, womit ein Zeichen zum lebendigen Andenken an den Jesuitenpater Friedrich von Spee gesetzt wird, der von 1629 bis 1631 als Professor für Moraltheologie am dort ansässigen Jesuitenkolleg unterrichtete und die Cautio Criminalis verfasste. Auf diese Schrift berief sich der Bildhauer Wilfried Hagebölling, als er den Käfig aus Protest gegen die Wiederkehr der Folter baute und aufstellte, denn der 1631 und 1632 erschienene Text leistet bis heute einen wichtigen Beitrag zur Ächtung von Folter und Unterdrückung.[i]

Wilfried Hagebölling, Abu-Ghureib 2003/2004 – Friedrich von Spee 1631/1632, 2004, am aktuellen Standort vor der Theologischen Fakultät 2018, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2018

14 Jahre nach der ersten Aufstellung des Käfigs fand am 22. November 2018 an der Theologischen Fakultät der Universität Paderborn eine längst überfällige öffentliche Diskussion statt. Professor Dr. Josef Meyer zu Schlochtern moderierte das Gespräch zwischen Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, dem Bildhauer Wilfried Hagebölling und der Leiterin der Städtischen Galerien und Museen Dr. Andrea Wandschneider.

Ohne Sockel

Im „Willen zur Veränderung“  sieht Hagebölling den Hauptantrieb seines Schaffens. Diesbezüglich hebt er die Sockellosigkeit seiner Arbeiten hervor und nennt als Beispiel das 1980 in den Wallanlagen von Soest aufgestellte achtteilige Bodenstück. Diese Art der Präsentation, wie sie erstmals bei der Skulpturenausstellung 1958 im Londoner Battersea-Park angewandt wurde, inspirierte Hageböllings ebenerdige Aufstellung von Skulpturen. Auf das menschliche Maß bezogen sind auch Papierarbeiten, auf denen er in der Spannweite seiner Arme durch Materialabriebe Bilder erzeugt, die Betrachter*innen auf Augenhöhe nachverfolgen können. Ein unmittelbarer Körperbezug bestimmt auch den 3 x 2 x 1 Meter messenden Käfig. Doch ist Hagebölling überzeugt, dass der Aufstellungsort dieses Objekts vor der Theologischen Fakultät mit dem Bezug zu von Spee seine Schlagkraft steigern würde.

Andrea Wandschneider griff diesen Aspekt auf, da sie der Kunst innerhalb der städtischen Gemeinschaft (polis) generell die Rolle einer Gegenmacht zur politischen Macht einräumt. Sie sieht eine grundsätzliche ästhetische Qualität schon mit dem Objekt gegeben, über das sie zu bedenken gibt: „Wenn ich dem Käfig im Wald begegnete, hätte er für mich eine ähnlich starke Macht.“  Da es sich hier um einen Nachbau handelt, unterstellt sie zugleich, dass der Käfig der amerikanischen Truppen eine bisher unausgesprochene ästhetische Grundlage hätte.

Entsprechend hatten sich die Stadtoffiziellen nach der erstmaligen Aufstellung des Käfigs vor 14 Jahren verhalten, als sie den Käfig mit Trassierband umgaben und den Künstler ultimativ aufforderten, das Objekt zu entfernen. Angesichts der politischen Querelen, welche bisher fast jede seiner öffentlichen Skulpturen ausgelöst hatte, ist Hagebölling ein lebender Beweis der Herausforderung der Macht, was jedoch einen Großteil der Kunstwerke ausschlösse, die keine Kontroversen hervorrufen.

Schneckenburger räumte ein, dass er bis 1986 an den Plastiken von Hagebölling vorbeigefahren sei. Während seiner Zeit als Leiter der documenta 6 und 8 sowie als Professor an der Kunstakademie in Münster standen sie von ihm unbemerkt an verschiedenen Orten entlang der Autobahn in Marl, Münster, Mannheim, Soest oder Bielefeld. Sein freimütiges Bekenntnis benannte das Dilemma der mit Kunst Befassten, die betriebsblind in einem System eingeschlossen, oft nicht mitbekommen, was außerhalb der von Kritikern, Akademikern und anderen Experten begutachteten Welt vor sich geht.

Ein Käfig als Medium

Er begründete den Aspekt der Macht mit der physischen Gegenwart von Skulpturen, die sich von den „flimmernden Scheiben“ der Bildschirme unterscheiden würden, die „neutral in jeder Richtung“ seien. Wenn er den Käfig sehe, müsse er unweigerlich an die Fotos denken, die aus Abu Ghraib an die Öffentlichkeit gelangt sind. Hier hätte man sich die Stimme des Moderators gewünscht, der die Diskussion auf die mit diesen Beiträgen angerissenen Zusammenhänge und die damit verbundenen ästhetischen und medialen Probleme gelenkt hätte.

Podium im Hörsaal der Theologischen Fakultät, Still der Aufzeichnung vom 22.11.2018 aus YouTube

Das prachtvolle barocke Kreuz über dem Podium und die Projektion des Käfigs begleiteten die Diskussion und beinhalteten selbst schon eine Aussage über 2000 Jahre Folter. Beide sind Kopien von Folterwerkzeugen und decken die Jahrhunderte ab, in der sich die Größen- und Bedeutungsverhältnisse von Theologischen Fakultäten gegenüber den Kunst- und Medienhochschulen signifikant verschoben haben.

Mein Buch über Käfige wird 2019 im ConferencePoint Verlag in Hamburg erscheinen und stellt zahlreiche Käfige aus der Kunst der Gegenwart vor.[ii] Da fast alle Käfige der Schaustellung von Menschen und Dingen dienen, liegt eine Beziehung zu elektronischen Displays auf der Hand, die dazu geführt hat, die käfigartige Beschaffenheit von Bildschirmen in die Gedankengänge mit einzubeziehen.

© Johannes Lothar Schröder

Die komplette Veranstaltung ist auf: https://www.youtube.com/watch?v=MQbNpPb_414
zu sehen

 

[i] Als Priester leistete Friedrich Spee von Langenfeld SJ (1591-1635) den in Hexenprozessen zum Tode Verurteilten Beistand und begleitete sie auf ihrem Weg zur Hinrichtung. Er wusste, dass diese Opfer der Inquisition unschuldig waren. Doch waren sie den Peinigern chancenlos ausgeliefert, weil jede ihrer Aussagen gegen sie gewendet werden konnte. Bekannter ist von Spee, der zuvor schon von 1623 bis 1626 als Professor der Philosophie in Paderborn tätig war, als Verfasser bekannter Kirchenlieder wie „Zu Betlehem geboren.

[ii] Das erste Kapitel ist als Vorabdruck zur Ausstellung „Wilfried Hagebölling. Skulpturen und Zeichnungen“ im Museum Wilhelm Morgner in Soest 2018 erschienen.

 

Adrenalinmassaker feinliniert auf makellosem Zeichenpapier

„AS IF“, Ralf Ziervogel, in den Deichtorhallen, Sammlung Falkenberg in Harburg

Kreis- und Kettensägen, Bohrer, Elektrohämmer, Schraubendreher, Dildos, Butt-Plugs, Schleifmaschinen, Laptops, Flüssigkeiten aller Art und mehr werden ihnen zum Verhängnis, wenn sie aufeinander losgehen. Es ist der Lärm der Arbeits- und Haushaltsgeräte, der vielen Menschen eine Bestätigung ihrer Existenz bietet, wenn spirituelle und transzendente Verbindungen nicht mehr kraftvoll genug sind, um das Leben mit Sinn zu füllen. Die trostlose Welt langweiliger Routine, manischer Konsum und permanenter Kämpfe in den schlaflosen Metropolen erfüllt viele Menschen mit dem Drang, ihre sinnlose Existenz mit Drogen erträglich zu machen oder ihre Angst mit Waffen zu bekämpfen.

Paraden grotesker Gewalt

Ralf Ziervogel spielt Gott und hat zeichnend eine Auswahl nackter Menschen in die Quarantäne seiner weißen Zeichenpapiere gesetzt. Hintergrundlos fliegen und schweben aufgeriebene und zerfetzte Menschenleiber zwischen verschiedenen Dingen herum. Fein gezeichnete Linien, die Geschoßbahnen, pulsierendes Blut, hausgerissene Sehnen und Nerven darstellen, verbinden sie zu Konglomeraten oder binden sie in Muster ein. Mit Spritzen bestückte Hautfetzen ornamentieren verklumpte Torsi und Extremitäten, die auf bis zu 10 Meter hohen Bahnen makellosen Spezialzeichenpapiers arrangiert werden. Aus der Fernsicht verschwinden die hässlichen Details und man blickt auf Netze, die von einer Parade von durch Gewalt in Verbindung stehenden Menschen auf einem Gerüst oder auf Hängebrücken gebildet werden, die bisweilen die Gestalt einer Partitur annehmen können. Wenn man weiß, dass die Gewalt der Musik auch erst im Konzertsaal hervortritt, so fällt hier die schwierige Aufgabe der Orchestrierung der Seheindrücke keinem Dirigenten zu, sondern die Vervollständigung und Einordnung der Bilder erfordert einen nachdenkenden Betrachter. Wer kein Voyeur sein will und zufrieden damit ist, die hochkonzentrierte Kunst eines ausdauernden Zeichners zu bewundern, muss sich fragen, wohin die jeweils monatelange Arbeit an Tausenden blutrünstiger Details mit spritzendem Blut und anderen Flüssigkeiten ohne einen einzigen unabsichtlichen Tuscheklecks führt?

Ralf Ziervogel, Immobilie, 2004, Ausschnitt, ca. 160×110 cm

Ziervogel hat die Stürzenden und Fallenden im Business-Dress, die Robert Longo in den 1980er bekannt gemacht haben, entkleidet. Er gibt sie nicht nur nackt wieder, sondern nimmt ihnen auch noch jeden lokalen oder territorialen Bezug, und sie haben Pfunde zugelegt. Historisch andere unerträgliche Zustände führten Günter Brus zu Aktionen und zeichnerischen Untersuchungen seiner Existenz, um die Auswirkungen der Gewalt zu bearbeitet, die in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in Österreich noch allgegenwärtig war. Dabei stellte er sich anfänglich meist selbst als Opfer ins Bild, so dass man den Hintergrund in Wien, im Berliner Exil und in Europa (die literarischen Bezüge der Text-Bilder) mitdenken konnte. Bei Ziervogel lässt der weiße Zeichengrund die Figuren bindungslos und ohne Kontext erscheinen und nimmt den Massakern ihren Schauplatz. Wenn überhaupt eine Verortung benennbar ist, dann wäre es der Abgrund – nur einmal ruft er – nicht ohne Humor – eine Schweizer Gegend auf, in der wohl die gelb gemalten Sackgesichter beheimatet sind. Sind also am Ende die meisten Männer, Frauen und Kinder seiner Bilder Märtyrer? Wofür oder wozu sie leiden bleibt unbestimmt.

Die Nichtigkeit der Individuen

Trotz all dieser nicht jugendfreien Gewalt und Sexualität könnten diese Riesenformate in eine Lobby hängen, wo sie sich sowieso kaum jemand aus der Nähe anschaute, insofern eine Nahsicht zum Erkunden der Details überhaupt noch naheliegend wäre. Diese Tatsache zeigt, wie klein und belanglos das Wüten jedes dieser Individuen tatsächlich ist. Aus der Ferne gleichen die Zeichnungen Wimmelbildern und den Bildern der niederländischen Künstler, die zur Vorgeschichte dieses Sujets gehören. Menschen und Gruppen von Menschen, in bis heute rätselhaften Zusammenstellungen schuf Hieronymus Bosch mit Bildern von Himmel und Hölle. Auch die Gemälde der Brueghels mit summarischen Darstellungen von Kinderspielen, Sprichwörtern sowie von Karnevals- und Fastenbräuchen etc. im Getümmel auf Dorfplätzen gehören in diese Kategorie. Triftige Zusammenstellungen von Szenen weisen auch spätmittelalterliche Höllendarstellungen auf, die bis in die Renaissance hinein Kirchen außen und innen schmückten. Hier sind außerdem massenhaft Nackte zu sehen, die Ziervogels Figuren überraschenderweise sogar mit dem christliche Totsündenschema in Verbindung bringen; denn sie töten, prassen, sind lüstern, überfressen, gierig, sex- und rachsüchtig und viel mehr. Doch die Hand des zeitgenössischen Künstlers sortiert die Menschen anders als die Gotteshand. Ziervogels Figuren sind alles andere als demütig. Sie tun gerade das Gegenteil, sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie kämpfen noch während sie in Fetzen durch die Luft fliegen.

Ralf Ziervogel, Tuschezeichnung und Sprühlack, Seitenansicht

Den Himmel auf Erden haben sie nicht gefunden, also machen sie sich und ihresgleichen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Hölle heiß. Die „Deterritorialisierung“ (Deleuze/Guattari) hat die Existenz der Abgebildeten an den Rand eines Zustands getrieben, der in den Religionen als Hölle beschrieben wurde. Selbst das Feuer hat auf den Blättern Spuren in Gestalt mit mattschwarz besprühten Flächen in Gestalt von Rauch- und Rußfahnen hinterlassen.

© Johannes Lothar Schröder

P.S.: Noch viel mehr lässt sich beobachten und auffinden, wenn man die zahlreichen Klein- und Großformate genau inspiziert. Auffallend sind die Blätter mit Fingerabdrücken und winzigen Zahlenkombinationen.

Ralf Ziervogel, Ech, 2016, Bodyprint und Zeichnung, Detail

Neueren Datums sind Body-Prints. Hier werden Finger, Arme, Penisse und andere Körperteile seriell als Objektdrucke gesetzt, bis sie sich zumindest soweit zu Ornamenten fügen, dass sie sich wieder öffnen können, um Verbindung mit der anschließenden Druckfolge aufzunehmen.

Die Ausstellung bis 27. Januar 2019, Wilstorfer Straße 71, 21073 Harburg
Weitere Infos und interessantes Begleitprogramm: www.deichtorhallen.de/ralfziervogel