Unkräuter und Werke im Schatten. Documenta14 vom Ende her betrachtet

Viele Werke der documenta 14 werden zum Ende der Ausstellung immer besser: „Die lebende Pyramide” von Agnes Denes blüht und grünt im Septembersonnenlicht, das sie zum Abschied aufleuchten lässt. Obwohl nicht alle Besucher in den Nordstadtpark gepilgert sind, ist Denes eine der Schlüsselfiguren dieser documenta, weil sie Konzept-Kunst mit ökologischen und sozialen Themen verknüpft hat. Aus Ungarn in die USA emigriert, steht sie außerdem für den Emanzipationsprozess einer Geflüchteten.

Agnes Denes, “The Living Pyramid”, 900x900x900 cm, Nordstadtpark, Kassel, 2017, ©johnicon, VG-Bild-Kunst

Humanistische Bildung und indigene Völker

Der Name Athen setzt bei humanistisch gebildeten Kritikern leider nur eine Philosophiemaschine in Gang, die an den sagenhaften heidnischen Stämmen Hellas‘ vorbeifährt, ohne ihre Rituale und Feste zu würdigen. Aby Warburg zog diese in Betracht, um das Fleisch an den verblichenen Knochen der steinernen Überreste der Antike zu ergänzen, damit vorstellbar wird, wie sich die Menschen wohl in den noch erhaltenen Grundrissen der Tempelbezirke und Städte benommen haben könnten. Deshalb beobachtete er die Oraibi beim Schlangentanz und verglich auf seiner Reise nach New Mexico die noch lebendigen archaischen Kulturen mit seinem Wissen über Antike und italienische Renaissance. Die daraus gezogenen Erkenntnisse prägten Warburgs Leitspruch: „Athen, Oraibi, alles Vettern.“ Zum Verständnis der d14 können solche Studien beitragen, die in der Folge von Warburg die Zusammenhänge zwischen  visuellen kulturellen Äußerungen und dem Aktionspotential von Körpern untersucht haben. Beides ist in der Vorgeschichte verwurzelt, und das im Körper gespeicherte Bewegungsrepertoire bestimmt bis heute physische Äußerungen und spontanes Handeln. Sehr sinnreich war daher die Entscheidung der Kuratoren, die Bibliothek mit 180 in den letzten zehn Jahren veröffentlichten Büchern über Tanz, Bewegung und Performances, die Annie Vigier & Franck Apertet zusammengestellt haben, im Nordflügel der Torwache unterzubringen, die Ibrahim Mahama mit Jutesäcken und Leder verhüllt hat. Sein „Check Point Sekondi Loco 1901-2030“ ist ein weiteres temporäres Denkmal, aus rohen und gebrauchten Materialien, die dem Transport kolonialer Lebensmittel und Rohstoffe dienen. Inhalt und Oberfläche der Torwache vereinen so die Lebenslinien, die uns mit den Kontinenten, darunter Afrika, immer schon verbunden haben, bilden gleichzeitig auch die Ein- und Ausgangskontrollen ab, die ebenso im Hinblick auf Kleidung, Benehmen und Körperlichkeit gelten.

IbrahimMahama, Check Point Sekondi Loco 1901-2030, 2016 – 2017, 1729 qm Jute und Leder, Torwache, Kassel 2017, ©johnicon, VG-Bild-Kunst

Wenn nach Warburg die gemeinsamen Wurzeln der Kultur körpersprachlich verbreitet werden, dann verfügen alle Menschen über ein solches Potential. Und weil die mit den Vorgaben der Evolution ausgestatteten Körper sich den kulturellen Vorgaben gegenüber oft widerspenstig verhalten, werden sie gezüchtigt, gefoltert, geschändet und ausgebeutet. Die Herrschenden und ihre Vasallen hüllen ihre Körper in die Zwangsjacken des Design, der Uniformen und der Disziplin, um die als bedrohlich empfundene Wildheit einzukapseln. Ersatzweise wird sie in den Körpern der Anderen, der Indigenen, der Aborigines, der Nomaden, der Feinde und der Andersdenkenden verortet. Dafür lässt man sie knechten und massakrieren, währenddessen man eigene Exzesse verbirgt und die Schändung durch Schergen verrichten lässt. Diesen Zusammenhängen geht die documenta 14 mit zahlreichen Exponaten, Sonderveranstaltungen und Performances nach.

‚Unkraut vergeht nicht‘, heißt es

Eingeladen wurden erstmals auch zwei samische Künstler, die einem der letzten nomadischen Völker angehören. Joar Nango drehte auf seiner Fahrt vom Polarkreis nach Athen Material für seine „Documentation of European Everything“, das er in einem kurzen Video zusammengefasst hat. Dieses kann aus dem Laderaum des Kleintransporters angeschaut werden, mit dem er die Fahrt von der Nordspitze Europas an das Mittelmeer unternommen hat. Er ist ein Künstlerkollege von Máret Ánne Sara, die sich mit den Eingriffen der norwegischen Regierung in die Rentierzucht beschäftigt, die die Lebensweise der Samen in Skandinavien bedroht. Das Umherziehen von Menschen und Tierherden, das auf dem Kontinent durch Grenzziehungen, Mauern, Zäune etc. zum Erliegen gebracht worden ist, wird durch Nangos Fahrt belebt. Er definiert das Nomadische als eine Entdeckungsreise neu, die sich von der Zweckmäßigkeit der allgemeinen motorisierten Fortbewegung abgrenzt, um in einen freibeuterischen Modus einer Fahrt ohne Fahrplan von Entdeckung zu Entdeckung zu schalten. Sie führt ihn in die Peripherie, also in unbesiedeltes Ödland mit Müllrecycling und Menschen in ausbeuterischen Arbeitsbedingungen. Schwierigkeiten, geeignete Wege zu finden und die Grenzen zu übertreten, hatte auch Ross Birells aus Schottland, der mit einer Gruppe auf vier Pferden von Athen nach Kassel geritten ist.

Diesen Aspekt des Randständigen hat Louis Weinberger auf die Pflanzenwelt bezogen. Um den Nomaden unter den Pflanzen einen Platz zu bieten, hat er einen Streifen Erde in der Karlsaue freigelegt, damit sich dort Ruderien, also die Unkräuter – die Harten Hunde unter den Pflanzen – zusammenrotten konnten. „Ruderale Gesellschaft“ nennt er sie deshalb. Diese duldet man nicht einmal vor der Tür, weshalb diese Indigenen unter den Pflanzen noch in den Fugen der Gehwegplatten der Dörfer und Vorstädte mit giftigen Chemikalien zerstört werden.

Ein „Lob des Schattens“

Weil selbst die Nachfolger der Hippies und Rucksacktouristen mit Flugzeugen schnell, kostengünstig und direkt ihre Urlaubsziele erreichen, verschwinden die nomadisierenden Reisen und das Dahinzockeln über Land. Daneben verödet auch die besondere Form der Kommunikation mittels Mail-Art, durch die sich Enthusiasten mittels postalischer Zusendung kleiner Kunstwerke gegenseitig erfreuten. Ein Teil der schönsten Beispiele dieser graphischen Kunst blieb dem Kunstpublikum verborgen, bis die Kuratoren der documenta14 Ruth Wolf-Rehfeldt entdeckten. Sinnigerweise wird ihre Typografie- und Buchstabenkunst in der Neuen Hauptpost ausgestellt, die als „Neue Neue Galerie“ firmiert. Wie meisterhaft Wolf-Rehfeldt ihre Kunst beherrscht, die sie aus Visueller Poesie entwickelte, lässt sich an den räumlich dargestellten Körpern ablesen, die sie mit zehntausenden fehlerfreien Anschlägen aufs Papier gebracht hat.

Ruth Wolf-Rehfeldt, Schreibmaschinengrafiken, 1979. Neue Neue Galerie, Kassel 2017

Zu den Entdeckungen, die dem Namen und der ursprünglichen Intention der documenta-Ausstellungen gerecht wird, nämlich die durch Kriege und Katastrophen gerissenen Lücken durch Dokumentieren zu schließen, gehört auch die 1922 in Wien geborene Elisabeth Wild, die mit ungebrochener Schaffenskraft farbige Papiere ausschneidet und diese noch letztes Jahr zu 40 in der Neuen Galerie ausgestellten Collagen verdichtet hat, die ihresgleichen suchen. Durch Unterdrückung, Vertreibung und Modernisierung blieben nach der Wende auch zahlreiche Künstler und Künstlerinnen außerhalb der Scheinwerfer, die die Kunstwelt absuchen. Die d14 bringt die Werke von Erna Rosenstein, Wladyslaw Strzeminski, Maria Lai u.a. ans Licht und kann die oft fragilen Arbeiten aus empfindlichen Farben und Malmitteln auf säurehaltigen Papieren aus konservatorischen Gründen doch nur in schwach ausgeleuchteten Kabinetten ausstellen. Dabei bringt gerade das gedimmte Licht einen wichtigen Aspekt der Ausstellung hervor, der unter Kritikern unbeachtet geblieben ist. Das Dogma des grell beleuchteten White Cube hat das schwache Licht obsolet gemacht. Schatten sind unpopulär, obwohl „Lob des Schattens“ von Tanizaki Juni‘chiro in den Bibliotheken vieler Kunstfreunde zu finden ist. Dort dämmert die Einsicht, dass wenig Licht auch Kennzeichen von Spiritualität ist. Die Kirchenspaltungen haben diesen Aspekt der Religion aus dem Zentrum nach Osten abgedrängt. Und nach der Eroberung von Byzanz hat sich diese kontemplative weltabgewandte Form der Orthodoxie besonders in Griechenland und auf dem Balkan gehalten. Um die Zustände in Europa besser zu verstehen, könnte dieser an den Rand gedrängte Teil der Kulturgeschichte Europas bedeutsam sein. Wo finden die Reste von Spiritualität in einem wirtschaftlich und wissenschaftlich hyperaktiven Europa ihren Platz? Wie sich in Kassel zeigt, bleiben in der Kunst und im Ausstellungswesen Reste dieser Traditionen erhalten.

Art-Mama of Life-Art died

One of the longest experiments Life-Art came to an end Thursday, May 25th 2017. Odai Orimoto, better known as “Art-Mama”, died at the age of 98 in Kawasaki-City. She has become part of the art-world, since Japanese Fluxus-Artist Tatsumi Orimoto included her in his Life-Art in 1996 and launched photoprints of “Tire-Tube-Communication” showing Odai with neighbors in her garden and in her living room.[1] It seemed slightly disturbing to the audience, to see three old ladies with tires as necklaces, and later also “Art-Mama”

Small Mama + Big Shoes, Kawasaki 1997, Courtesy of the artist

with gigantic custom-made shoes. But Orimoto’s work is about the burden of getting old and feeling one’s body as a weight, which becomes heavier and heavier every year. These aspects of the mature body, which have never been reflected by Body Art were introduced by Tatsumi Orimoto for the first time in art history. He started this unique artistic collaboration with his mother who was suffering from depression and Alzheimer’s disease and it lasted for 21 years. The whole artistic production of that period was labelled “Art-Mama” and focuses on the aesthetic implications of the growing number of elderly people in many contemporary societies. Beside the physical self-awareness it deals with the shrinking field of vision, deteriorated hearing and haptic sensations.

The last time, that Odai appeared in a public performance, was at a lunch for 50 grandmas in the Kawasaki-City-Museum in 2006. After that Orimoto spent more and more time taking care for his mother. Nevertheless he travelled in Japan and abroad, to show his new work (see several articles in this blog – just tick on Orimoto, Art-Mama and other key-words of this article like artist’s mothers) which he produced at home including his mother as usual and experimenting with new objects and tools related to his care-taking like diapers and wheelchairs.

The Stress with the Wheelchair, Kawasaki-City 2012, courtesy of the artist

Last year Orimoto appeared as a woman’s drag as “Art-Mama” by himself. Here he investigates the field of similarity and imitation not only of facial expression but also on body-language and habits as a topic in the arts.

[1] The first European shows of this series was realized by Aktionsgalerie in Berlin in 1999 and Fotogalerie Wien in April 2000 (Catalogue # 160, Vienna 2000)

Hass, Rachegefühle und Fortschrittskritik

Ein knappes und erhellendes Licht auf die Umstände, von denen Trump profitieren konnte, gab Saskia Sassen in einen Leserbrief an die SZ (10. Nov. 2016). Nicht nur Sassen macht die abgehängten und gedemütigten Verlierer des technologischen Wandels und der neoliberalen Politik als diejenigen aus, die ihr Schicksal ausgerechnet in die Hände eine Milliardärs gelegt haben, der bisher nicht als Wohltäter in Erscheinung getreten ist.

SZ vom 10.11.2016

SZ vom 10.11.2016

Eine Passage aus den Geschichtsphilosophischen Thesen von Walter Benjamin machte mich auf einen blinden Fleck in der bisherigen Diskussion um den zunehmenden Populismus aufmerksam. Es geht um den Zorn der Menschen und ihr Unbehagen, die sich zunehmend in Hass verwandelt haben. Benjamin gab angesichts der Kämpfe infolge der Wirtschaftskrise in den 1920er Jahren zu bedenken, dass im Kampfeswillen der Arbeiter auch Rache zu erkennen sei. Er schrieb, dass in jedem der Kämpfer auch die Demütigungen und Erniedrigungen mitschwingen würden, die allen Generationen der abhängig Arbeitenden bis heute angetan worden sind. In der These XII heißt es: „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst. Bei Marx tritt sie als die letzte geknechtete, als die rächende Klasse auf, die das Werk der Befreiung im Namen von Generationen Geschlagener zu Ende führt.“

Die Rachefaust des Donald Trump

Hinsichtlich des aus der Geschichte wirkenden Motivs aktuellen Handelns wendet sich Benjamin auch gegen den sozialdemokratischen Irrtum, dass die Arbeiterschaft im Namen des Fortschritts kämpfen würde. Diese Kritik zur Kenntnis nehmend, kann man sagen, dass linker Fortschrittsglaube es erschwert, die Richtung zu erkennen, in die sich die versprengten Reste der Arbeiterklasse in der post-industriellen Staaten heute bewegen. Wenn man unterstellt, dass auch Rache ein Motiv für die Wahl eines populistischen Wahlkämpfers gewesen ist, so würde besser zu verstehen sein, warum gegen den Fortschritt gerichtete Wahlversprechen nicht nur in Amerika ziehen. Während Ronald Reagan noch den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow aufforderte die Mauer in Berlin niederzureißen und das Brandenburger Tor zu öffnen, stößt Trump mit der Forderung eines Mauerbaus an der mexikanischen Grenze auf Begeisterung. Andererseits bleibt es rätselhaft, welche Vorteile sich die Abgehängten von einer in Aussicht gestellten Steuersenkung für Reiche versprechen?

Als Benjamin der Arbeiterbewegung – freilich unter ganz anderen Bedingungen als sie heute gegeben sind – das Engagement für den Fortschritt bestritt, fand er die drastische Metapher der Revolution als Notbremse in einem zu schnell fahrendem Zug.  Dieses Sinnbild ist bis heute bestechend, weil es die Abneigung gegen technologische und politische Entwicklungen verständlich macht, die die Globalisierung fördern. Doch wenn der Kandidat, den ein Großteil von Arbeitern, Arbeitslosen und prekär Beschäftigten gewählt haben, schon als Unternehmer besonders stark von dieser Entwicklung profitiert hat, indem er für seine Bauvorhaben Stahl und Aluminium aus China importierte, ist diese Entscheidung zutiefst irrational, denn die Bauten des Unternehmers Trump brachte keinem Stahlwerker aus Pennsylvania auch nur einen Penny. Es wäre zu ironisch, das Motiv der Solidarität mit chinesischen Stahlarbeitern auch nur zu erwägen, denn es steht zu bezweifeln, dass den ehemaligen Stahlarbeitern des „rustbelt“ oder Trump die Arbeitsbedingungen in chinesischen Stahlwerken ein Kümmernis sein würde. Die irrationale Entscheidung ist aber durch Hass und Rachegefühle zu erklären, die der Wahlkämpfer Trump geschickt angestachelt hat. Vielleicht aber hat Trump als junger Mann die Armen und Deklassierten beobachten können, die in den Mietskasernen seines Vaters leben mussten, weil auch damals schon jede Krise neue Deklassierte produziert hatte. Dort erfuhr er, wie diese Menschen denken und fühlen, was ihm sicher geholfen hat, wirkungsvoll die politischen Wünsche und Vorstellungen der heute von Krisen geschüttelten Generation zu erkennen und für sich zu nutzen. Die ausgeliehene gehobene Faust, die er immer wieder zeigte, weist in diese Richtung. So ging das sinnentleerte Pathos dieser Geste als routinierter Angriff auf das Establishment durch, ohne dass es als Schmierenkommödie beanstandet wurde.

 

Deutsche im Spiegel der USA

Die aktuellen Entwicklungen in den USA sind ein Anlass, erneut über unseren wichtigsten Verbündeten außerhalb Europas nachzudenken; denn die Vereinigten Staaten und ihre Bewohner sind immer auch ein Spiegel gewesen, der uns in Europa auffordert, uns anzuschauen und über uns selbst nachzudenken.

Out-Laws, Homines sacri und Das Kapital

Nach der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA biete ich den Text über Joseph Beuys und John Dillinger noch einmal in der überarbeiteten Form, wie sie jetzt im Buch „Vorsicht bei Fett!“ (S. 246-257) steht, nächstfolgend zur Lektüre an. Diese überarbeitete und nun in den Kontext von „Homines sacri“ (Kap. VI) eingebundene Version ging aus der Version des Textes vom 22. Januar 2016 (s.u.) hervor. Mit der Aktion vor dem Biograph-Kino in Chicago am 14. Januar 1974 fand Beuys in der Figur des Dillinger eine Möglichkeit, sein Verhältnis zu den vormaligen Feinden und jetzigen Verbündeten neu zu bestimmen und über sein Verhältnis zu den Einwanderern aus Europa auf dem „Neuen Kontinent“ nachzudenken. Diese Perspektive macht diesen Abschnitt auch heute noch aktuell, zumal die Frage der Schuld angesprochen wird, die in der Ausstellung „Das Kapital“ in einem eigenständigen Kapitel behandelt wird. Das gleichnamige Werk von Beuys wurde von dem Kunstsammler Erich Marx für den Hamburger Bahnhof erworben und ist nun dauerhaft in Berlin zu sehen.