Künstler-Schamane im dokumentarischen Schwarz-Weiß

Zum Film über Beuys von Andres Veiel

Erfreulich, dass mit dem Film von Andres Veiel ein Dokumentarfilm über den Künstler Joseph Beuys entstanden ist. Seine Uraufführung während der Berlinale fand große  Beachtung in den Feuilletons.(*) Die Erwartungen waren hoch und man war neugierig, Neues über den inzwischen legendär gewordenen Künstler der Bundesrepublik (West) zu erfahren. Für die Verbreitung von Legenden indes hat Beuys selbst schon zu Lebzeiten gesorgt. Sie gehen auf seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg zurück, in dem er als Berufssoldat in einem Sturzkampfbomber als Bordfunker und MG-Schütze Dienst tat.

Diese Zusammenhänge streift der Film nur marginal und muss mithin nicht nur den Ballast der Tatarenlegende mitschleppen sondern kann folglich auch den Mythos nicht wirklich durchbrechen. Veiel hat allerdings zahlreiche filmische Mittel aufgeboten, um dem Publikum das umfangreiche Foto- und Filmmaterial mit heutigen Mitteln und Animationstricks vor Augen zu führen? Die Schwarz-Weiß-Ästhetik mit der Beuys sich am Liebsten damals für das Fernsehen in Szene setzen ließ, wurde gefeiert und durch das Kinoformat ins Monumentale gesteigert. Aus einem Meer von Einzelfotos auf Kontaktbögen wird durch punktuelles Beleuchten einzelner Bilder das damalige Auswahlverfahren zur Herstellung von Abzügen simuliert. Daraus und aus Beta-Cam-Videos sowie 16mm-Filmen entstanden Übertragungen in das heutige digitale Kinoformat. Doch ist es fraglich, ob mehr als eine Faszination am Material erreicht wurde, das ein jüngeres Publikum an die heute unbekannten Medien der 1960er und 70er Jahre heranführt. Mit Erstaunen nimmt man nebenbei zur Kenntnis, dass damals überall geraucht wurde, so dass bisweilen Gesichter von Interviewten hinter Tabakrauch ausgeblendet werden.

Bilder gegen Klischees

Beeindruckend fand ich die Filmsequenz zur Eröffnung des Films, die zeigt, wie Beuys den Raum betritt, Platz nimmt und nervös in einem Band der Zeitschrift FILMKRITIK blättert. Gelesen hat er darin nicht; deshalb werden hier schon Zweifel an der Legende eines souveränen Künstlers wach. Oft sieht man nicht nur hier einen angespannten etwas fahrigen wenn nicht sogar unsicheren Protagonisten. Das lag daran, dass sich Beuys erst in seinen 40er Jahren von der Bildhauerei kommend in die Aktionskunst hineingearbeitet hat. Noch in den 1970ern war Beuys – obwohl allseits bekannt – ständig unter dem Beschuss der Feinde der Aktionskunst (Kunstkritiker und zahlreiche Kollegen), von Politikern und großen Teilen der Bevölkerung. Man vergisst aus heutiger Sicht leicht, dass Beuys sich in dieser Zeit erst nach vorne arbeiten musste, als Wolf Vostell der führende Vertreter von Happening und Fluxus in Deutschland war. Das kann der Film noch nicht hervorbringen, denn diese Art des Künstlerdokumentarfilms mit vorgegebenem Material, wie in Veiel herstellte, ist als Gattung neu. Man sieht schon, welche Arbeit auf diesem Gebiet noch zu leisten ist.

Veiel verwendet aber auch Aufnahmen der Aktion „Celtic“, die im Edinburgh College of Art entstanden ist, wo Beuys Ende August 1970 „Celtic (Kinloch Rannoch), Schottische Symphonie“ an mehreren Tagen wie ein Theaterstück aufführte. Der Film präsentiert jedoch die erneute Aufführung 1971 in Basel, die ein großes Publikum in einer Halle anzog, das hier Zeuge eines Stücks wird, mit dem Beuys auf die Höhepunkte seiner Karriere als Aktionskünstler zusteuerte. Dass beide Aktionen im Ausland stattfanden, belegt, dass ihm dort vorbehaltlose Anerkennung gezollt wurde, während sie in Deutschland jeweils erkämpft werden musste. Die Aktion „Celtic“ führte er wie viele andere mit Henning Christansen auf, der für den musikalisch-technischen Teil der Aktion zuständig war. Auch hier wird ersichtlich, dass Beuys oft von Kooperationen mit anderen Künstlern profitieren konnte. So kam er überhaupt erst durch die Begegnung mit George Maciunas 1963 mit der Aktionskunst in Berührung. Davon sieht man im Film leider nichts. Auch hat Beuys entgegen des Spiels, das er mit dem Begriff „Eurasien“ betrieb, immer wieder den Kontakt gerade auch zu amerikanischen Künstlern gesucht und gefunden, so dass man nicht sagen kann, er hätte die USA und den amerikanischen Lebensstil ignoriert. Dass dies ausgerechnet von Caroline Tisdall in einem Statement verlautbart wird, verdreht die Geschichte. Vielleicht wird hier auch eine offene Rechnung mit Klaus Staeck beglichen – er kommt ebenfalls im Film zu Wort – ,der mit Beuys im Januar 1974 auf einer ersten Reise  in die USA das Terrain sondiert hatte. Mit der Aktion „Dillinger“  in Chicago hat Beuys diesen Besuch dauerhaft in die Kunstgeschichte eingeschrieben, und mit dem Slogan  „energy plan for the western man“, hatte er eine weitreichende Übertragung des Begriffs „soziale Plastik“ ins Englische geschaffen, die auf Vorträgen in den USA gut ankam. Vielleicht wird er sich sogar auf Dauer als schlagkräftiger erweisen als die kunstgattungsspezifische deutsche Bezeichnung.

Konflikte

Dass dieses unerwähnt bleibt, ist ein weiteres Manko des Films, in dem wegen der beeindruckenden Bilder der Aktion „I like America and America likes Me“ der Mythos des Künstler-Schamanen unkritisiert vordergründig bleibt, weshalb schließlich der politische Künstler Beuys nicht wirklich zu verstehen ist. Die revolutionäre Kraft, die man in Beuys sehen mag und die der Film durch die Konzentration auf das Charisma des Künstlers hervorbringen will, erschließt sich nicht allein visuell. Sie muss kunsthistorisch und begrifflich herausgearbeitet werden. Nur mit dem Zeigen seines Äußeren, das selbst ein Kunstprodukt ist, und der Wiedergabe seiner Äußerungen, wird man Beuys nicht gerecht.

Das in Kürze. Wer mehr wissen will, findet in den Ausführungen über die Aktion „Dillinger“ aus dem 5. Kapitel meines Buchs „Vorsicht bei Fett!“ hier auf dem Blog einige Anhaltspunkte.

Johannes Lothar Schröder

 

KOMPLETTIEREN DURCH ZERSTÖREN Aktionen, Typographien und Zeichnungen von Günter Brus

Synchronisieren von Aktionen und Zeichnungen

Fotografien und digitalisierte Filme von Aktionen bieten nach Beispielen gestischer Malerei einen Einstieg in diese umfassende Werkschau von Günter Brus. Die Ausstellung Störungszonen

in Berlin im Frühjahr 2016 bot eine seltene Gelegenheit, die Aktionen der 1960er und 70er Jahre außerhalb von Archiven aus einer zeitlichen Distanz in Augenschein zu nehmen. Vor dem Horizont des umfangreichen zeichnerischen Werks des Künstlers, das in acht Sälen des Martin-Gropius-Baus nach Werkgruppen übersichtlich gehängt worden ist, war es möglich, die filmischen und fotographischen Dokumente mit dem „Kopffilm“ des Künstlers zu synchronisieren. So ließen sich die Zeichnungen mit dem aktionistischen Werk in einer Weise verbinden, wie es Brus vor 30 Jahren gegenüber seinem Interviewer Daniel Plunkett geäußert hat: „Die wirklichen Dokumente meiner damaligen Arbeit sind meine Werke von heute und morgen.“ (Kat. G. Brus: Augensternstunden, Van Abbemuseum, Eindhoven, 1984, S. 19)

Das umfangreiche zeichnerische Werk, das Brus als gelernter Typograph anlegt hat und weiterführt, überschreitet – wie die Aktionen selbst – Grenzen. Während Brus als Aktionist durch mit Notizen versehenen Skizzen die Möglichkeiten seiner Aktionen antizipierend erschloss,  geht er gesättigt mit den Erfahrungen des Aktionismus den inneren Bildern nach, die seine spezifische Auseinandersetzung mit dem Körper so nachhaltig freigelegt hat, dass sie ihn und damit das Publikum noch lange mit Informationen darüber versorgen werden. Als wesentlich erweisen sich dabei die Verdichtungen typographischer und ikonographischer Inhalte zu Figuren, Konglomeraten, Worten, Sätzen und Texten, die in monumentalen Zeichnungen bis über die Grenzen hin zur Malerei getrieben wurden, wo sie sich vielleicht den Signaturen Cy Twombys nähern. Auf tausenden von Blättern, die bisweilen Wandgröße erreichen, werden die Linien, die mit der Rasierklinge in die Haut gezogen worden sind, bis das Blut Bahnen über Rücken und Schenkeln zog und Tüchern fleckte, mit Blei- Kohle, Graphit, Tinte, Pastell- und Ölkreiden, Filzstiften und Kugelschreibern mit den die Instrumente steuernden Fingern des Zeichners und Dichters ausdifferenziert.

Brüche in der Aktion grenzen Figuren voneinander ab

Die Filme, mit denen Brus neben der Fotografie viele seiner Aktionen dokumentieren ließ, legen die Bruchstellen an den aktionistisch erkundeten Grenzen offen. Zwischen langsamen und bedacht entwickelten Abschnitten führen plötzliche ekstatische Bewegungen dorthin. Die abrupten Wechsel zeigen einmal mehr an, wo das Austesten von Körpergrenzen prekär wird und zu scheitern droht. Schon der Versuch, ohne schauspielerische Mittel aus der Haut zu fahren, ein Anderer zu sein oder eine andere Gestalt anzunehmen, ist schmerzhaft. Während „Zerreißprobe“ (1970) fragt Brus nach einem Glas, erhielt es, urinierte hinein und trank den durch eingenommene Chemikalien überraschenderweise blau gefärbten Urin. Wie um dem Eindruck des Farbspiels mit der Anleihe an die Malerei zu entfliehen, hechtete Brus unvermittelt vom Laken, auf dem die Aktion im Wesentlichen stattfand, auf den Estrich. Ein weiterer Bruch der sich von Bild zu Bild entwickelnden Aktion erfolgte gegen ihr Ende, als er abermals nach einem Glas fragte und ohne Abzuwarten wie ein Frosch aus der Hocke sprang, um sich zuckend zu wälzen.

Günter Brus: Zerreißprobe 1972 (Kopfstehend) und d'Annunzio aus der Serie "Kardinäle des Südens", 1974

Günter Brus: Zerreißprobe 1970, Foto: K. Eschen (Archiv Sohm) (kopfstehend wiedergegeben) und d’Annunzio aus der Serie „Kardinäle des Südens“, farbige Zeichnung, 1973-74

Derartige katatonische Bewegungen schnitten die Aktion in Stücke und stellten auch die Beziehung zum Publikum in Frage, die sich in ruhigen Phasen der Aktion eventuell einstellte. Brus entfloh so der Empathie, weil er statt der Interaktion mit dem Publikum die Selbstvergewisserung suchte. In einem Flyer zur Aktion ANA, schrieb er von seinem Leib, dass er in “ katatonischer Stellung an der Wand, wie festgeklebt für lange Zeit verharrte.“ Und es ist mehr als bezeichnend, dass auf dem Blatt, das der Aktion beigefügt im Ausstellungsraum hing, von „katalonischer Stellung“ die Rede ist. Hinsichtlich der Bedeutung der Aktionskunst im Vorfeld der Zeichnungen, muss man sich deshalb fragen, ob die Kuratoren genug Interesse für die Kunst der Performance aufbrachten, die eine wesentliche Voraussetzung des zeichnerischen Werks ist. Festzuhalten ist also, dass Brus mit dem Begriff aus der Psychatrie die abrupten Bewegungen und krampfartigen Verschlingungen des Körpers benannte, um diese während der Aktionen an der RWTH Aachen und an der Uni in Wien (1968) zu explizieren und auf das architektonische, soziale und kulturelle Feld zurückzuführen, das die Körper nicht nur umschließt, sondern in die Tradition einschließt und diszipliniert. Brus sah ihn repräsentativ von Zwängen, Übungen, Drill, Routinen beherrscht, aus denen er aktionistisch, zeichnerisch und graphisch Bilder ein Entkommen suchte.

Ob es ihm gelungen ist, einen Ausweg aus den Gewaltverhältnissen zu finden, bleibt dahin gestellt, zumal die Arbeit daran bis heute weiter geht. Entscheidend jedoch ist, dass er zeichnend andere Repräsentationen als den eigenen Körper gefunden hat und räumliche sowie zeitliche Auswege darstellt, die nachvollziehbar machen, wie sehr gesellschaftliche Wirkung Deformation und Zerstörung voraussetzt. Einer der in einer Serie konzipierten „Kardinäle des Südens“ zeigt den Schriftsteller d’Annunzio in seinem Sarkophag, wie er tatsächlich auf einer Stele im Vittoriale degli Italiani (I-Gardone) im Kreise seiner Freunde in die Luft ragt. Die Version von Brus zeigt an der Stelle der Leiche einen Säugling in einer Embryonalhaltung, die an eine Pose in seiner „Zerreißprobe“ erinnert. Auf der Zeichnung ist der kleine Körper in Teile zerlegt, ein Ohr und ein Auge sind zugenäht. Der Schriftsteller hat den Preis für seine Erhöhung mit Blindheit und Gehörlosigkeit bezahlt. So kann er in seiner Welt leben, die aus Buchstaben besteht, denn diese sind in Stücke geschnittene Worte. Es ist ja der gewaltsame Akt des Heraussprengens von Versatzstücken, den Walter Benjamin zunächst in der Kunst verortete, der heute unsere Arbeitswelt, unseren Alltag und schließlich die sozialen Medien mit ihren Bild-, Wort- und Informationshäppchen bestimmt.

© Johannes Lothar Schröder

Joseph Beuys als John Dillinger

Als „John Dillinger“ hat sich Beuys mit Amerika, Gangstertum, Gefahr und Tod auseinandergesetzt. Zum 30. Todestag von Joseph Beuys biete ich einen Text über ihn als John Dillinger aus dem 6. Kapitel meines Buchs über die Reflexe des Soldatenlebens in den Aktionen von Beuys an.

Das Buch wird dieses Jahr bei Conferencepoint in Berlin/Hamburg erscheinen.

Joseph Beuys als John Dillinger

Joseph Beuys Auftritt als John Dillinger bei seinem ersten Besuch in Chicago am 14. Januar 1974 könnte als Rollenspiel bezeichnet werden. Beuys stieg vor dem Biograph-Kino in der North Lincoln Avenue aus dem Auto und spielte die Hinrichtung des verurteilten mehrfachen Raubmörders, der sich seiner Todesstrafe durch Flucht entzogen hatte, als ein Solo. Nach einem Kinobesuch wurde Dillinger am 22. Juli 1934 von FBI-Beamten vor dem Kino gestellt und an Ort und Stelle mit Geschossen durchsiebt. Beachtlich ist die aus der Durchsicht der Fotoserie von Klaus Staeck zu lesende Leichtigkeit und Bereitschaft zur Improvisation, mit der Beuys sich spielerisch in einen Gesetzesbrecher verwandelte. Es sind die wenigen Kleidungsstücke, also Beuys Hut und sein Hasenfellmantel, die ihn glaubwürdig in eine Figur der Geschichte verwandelten und doch zugleich ihn selbst darstellen, also als eine Figur der Zeitgeschichte erkennbar machten. Je nach Informationen über die Hintergründe springen einem aus dem persona-Doppelpack, in dem beide wie ein Sandwich zur Deckung gebracht worden sind, einmal Dillinger und ein anderes Mal Beuys ins Auge. Beide kommen zur Deckung. Aber warum gilt dieses Spiel einem Gesetzesbrecher?

1.       Die Energie des John Dillinger (1. Variante: Schuldgefühle)

Es ist möglich, dass die weltweite Berichterstattung über Dillingers Hinrichtung durch das FBI 1943 den damals 13-jährigen Beuys erreichte und ihn das gewaltsame Ende dieses Gesetzesbrechers ebenso erschrocken wie fasziniert hatte.[1] Vielleicht hatte diese Episode auch sein Amerikabild mit der Botschaft geprägt, dass man sich nimmt, was man braucht, wenn man bereit ist, das Risiko einzugehen, erschossen zu werden. Erstaunlich ist jedenfalls, dass sich Dillinger dem jungen Beuys bis zu seinem ersten Besuch in den USA 40 Jahre später eingeprägt hatte, wo ihn Erinnerungen und Recherchen bewogen, diese Szene in einem Live-Act zu aktualisieren. Seinem Begleiter Staeck gegenüber äußerte sich Beuys über sein Interesse an diesem Gangster: „Ich lege großen Wert auf die Energie, die in einer Biographie wie der des John Dillinger liegt. Diese Energien, die beim Dillinger beispielsweise negativ gepolt waren, können einen positiven Impuls abgeben. Nach dem Motto: Unser Liebesimpuls für solche Menschen oder überhaupt Menschen ist dreifach: untermenschlich, menschlich und übermenschlich.“[2] Für den in diesem Kapitel zur Diskussion stehenden Ansatz ist wichtig, dass Beuys hier von einem Liebesimpuls, also von einer irrationalen Energiequelle spricht und sie auf mehreren Stufen der Menschlichkeit ansiedelt, wo sie von ihm ähnlich gestaffelt werden wie in der Psychologie das Bewusstsein (Unterbewusstsein, Ich und Über-Ich). Ein zweiter Aspekt ist die Umpolung des Negativen. Dazu hat Schneede Äußerungen aus verschiedenen Interviews mit Beuys zusammengetragen, die deutlich machen, wie sehr ihn das Böse faszinierte. So sagte er Birgit Lahann für ihn wäre Hitler „ein großer Aktionist“[3], der wie die großen Gangster „seine schöpferischen Fähigkeit negativ gebraucht“ hätte. Unter dem Gesichtspunkt des Aktionismus hat ihn die Energie fasziniert, die das Böse im Kampf gegen seinen Antagonisten freisetzen konnte. Und inzwischen hatte er genug Erfahrungen als Performer, um zu wissen, welche Energien seine Aktionen benötigten, bzw. durch sie und günstige Umstände freigesetzt werden konnten. Diese haben natürlich mit den Energieschüben zu tun, die er während seiner Tätigkeit im Sturzkampfbomber durch Amphetamine und Lebensgefahr angestachelt erlebt hatte.

Die Personen, die Beuys aus verschiedenen Anlässen aufgeführt hat, haben jeweils auf ihrem Gebiet und zu ihrer Zeit Verbrechen begangen, Schuld auf sich geladen oder wurden bestraft, bzw. richteten sich selbst. Wenn Beuys diese Biographien auf sich zog, indem er sie wie die Episode vom gewaltsamen Ende des Dillinger sogar nachspielte, zeigte sich darin neben der Absicht der Identifikation konkret auch die Bemühungen des Verzeihens und des Abtragens von Schuld, die er nicht nur als Individuum sondern auch als Angehöriger seiner Generation im Krieg auf sich geladen hatte. Es ging dabei auch um den Fluss von Lebensenergie. Im Moment, in dem der Kampf oder der Krieg als Energiereservoire endete, brach diese Energiequelle zusammen und es entstand eine Leerstelle, die durch die Erschließung anderer Energiequellen aufgefüllt werden musste. Die Beziehungen zwischen den Energien des modernen Lebens mit Kunst und Fiktion, wie sie z.B. durch F.T. Marinetti und später auch durch Ernst Jünger namhaft gemacht worden, die die Gefahr als einen Katalysator zu Steigerung des Lebensgefühls propagierten, wurden durch Aktionen – heute Re-doings – an neue Energiequellen angeschlossen. Das Rauchen einer Zigarette war die Kompensation solcher Aktionen sozusagen zwischendurch für jeden Tag ohne umfangreiche Aktionen.

2.       Erfahrungspool (2. Variante: Opfer)

Auf den ersten Blick erscheinen die Handlungen, von denen hier die Rede ist, identifikatorisch, doch ist darüber hinaus festzustellen, dass Energieentfaltung, Traumata und fatale Ereignisse zusammenhängen und einen Erfahrungspool bilden, der zwischen Menschen mit vergleichbaren Biographien wirksam ist und sich wie ein virtuelles Wurzelgeflecht zwischen ihnen ausbreitet. Außerdem können durch Nachspielen, also Re-doings, historische Zusammenhänge mit der Gegenwart gekoppelt, und folglich auch der Neubearbeitung und Umdeutung zugänglich gemacht werden. Neben der Darstellung und der durch die Aktion gesteigerten Energie liegt das Eigeninteresse von Beuys nicht nur in der Heilung, sondern darüber hinaus auch in der Revision seiner bisherigen Erfahrungen mit Amerikanern als Feinden. Deshalb kann die Personifikation des Dillinger auch als eine Entlastung betrachtet werden, die dazu beigetragen hatte, dass Beuys als Künstler von seiner Vorgeschichte unbelastet in den USA auftreten konnte. Die Aktion „Dillinger“ gestaltete sozusagen Beuys‘ verinnerlichtes Amerikabild um und war deshalb mehr als ein Rollenspiel, denn sie ermöglichte ihm durch die Identifikation seine eigenen Schuldgefühle auf Dillinger abzuwälzen, der sich im christlichen Sinn stellvertretend und im Voraus schon für den Künstler geopfert hatte. So gelang es Beuys durch das doubeln dieser persona auch Schuldgefühle, die er nicht nur als Soldat akkumuliert hatte, sondern auch durch Aneignung der Methoden von FLUXUS und des Begriffs auf sich geladen hatte zu kompensieren. Wie Dillinger sich das Geld aus den Banken holte, sich also materielles Kapital beschaffte, so hatte sich Beuys FLUXUS angeeignet, um seine im Krieg und während seiner persönlichen Krise hinter den Entwicklungen zurückgebliebenen Mittel zur Verwirklichung seiner künstlerischen Ideen umzubauen und aufzustocken, um sie auf den neuesten Stand zu bringen.[4] Man kann mit Beuys‘ Worten diesbezüglich vom immateriellen kulturellen Kapital sprechen, das er sich von jüngeren Kollegen aneignet hatte. Insofern hat die Personifikation des Dillingers, der sich seiner Strafe nicht entziehen konnte, eine für Beuys durch die katholische Erziehung geprägte, also eine Strafe erwartende, Seele eine entlastende Wirkung. Da er der Kirche nicht mehr verbunden war, fand Beuys seine eigenen Wege der Vergebung und konnte nach der performativen Sühne auf die Bezeichnung FLUXUS verzichten und seine eigene Form der Aktions- und Installationskunst verwirklichen.

3.       Identifikationsfiguren (3. Variante: Freibeuter)

John Dillinger hatte aber auch etwas, was Beuys nicht erreicht hat. Das Echo auf den lapidaren Satz, den Beuys als Untertitel der Ausstellung ARENA wählt, „Wo wäre ich hingekommen, wenn ich intelligent gewesen wäre“ hallt hier nach. Der Satz klingt wie eine Frage, doch ohne Fragezeichen ist er eine Aussage. Nachdem Hitler ihm und Millionen anderen zum Aufbruch in eine neue Zeit bereiten Jugendlichen eine neue Welt vorgegaukelt hatte, hatte der junge Flieger Beuys durch das Kriegsfiasko alles, was er damals erträumt und worauf er sich eingelassen hatte, verloren. Vom Krieg gezeichnet, musste er wie die anderen Überlebenden des Krieges in seine zerstörte Heimat zurückkehren. Diese deprimierende Situation ließ Alles in einem anderen Licht erscheinen, und besonders andere Kontinente schienen außer Reichweite gerückt zu sein. Insofern war der Dillinger, der den Alten Kontinent schon Generationen vorher verlassen hatte und sich in der „Neuen Welt“ als Gangster einfach genommen hatte, was ihm gefiel, auch ein Heldenfigur, dessen Handeln von Unabhängigkeitsstreben durchdrungen war. Eine solche Haltung mag die jungen Soldaten anlässlich der Eroberungszüge zu Beginn des Krieges fasziniert haben, bis diese nach Kriegsende diskreditiert und sanktioniert worden waren. Der gewaltsame Tod Dillingers kompensierte diesen Verlust gleichsam stellvertretend, weshalb er für den jungen Beuys, der sich im Krieg und in seiner Krise 1956/57 mit dem Sterben auseinander setzen musste, eine Figur wurde, die auch wegen der Ferne – in Amerika und in der Zeitung – für ihn als Identifikationsfigur eine Distanz zu sich selbst ermöglichte. Diese Distanz verkürzte Beuys in Chicago, als er sich schließlich genau an den Schauplatz des Show-downs chauffieren ließ. Hier hatte es dann den Anschein, dass er die Wirksamkeit der Aktionskunst, die er sich in den vorausgegangenen 10 Jahren angeeignet und erarbeitet hatte, nun an diesem Dillinger, hinsichtlich ihrer Belastbarkeit in einer anderen kulturellen Umgebung überprüfen wollte.

In Bezug auf die Kunst der Moderne waren die Fluxuskünstler Figuren, die eine negative Utopie verkörperten, als sie in den 1960er Jahren als Freibeuter in Europa aufgetaucht waren, denn sie waren wie die Zirkusleute mit Festivals, die nur einen Abend dauerten, unterwegs. Das stieß in der Kunstwelt nicht einmal auf Unverständnis, denn man wollte diese Leute gar nicht zur Kenntnis nehmen, auch wenn man sich über den Professor wunderte, der bei diesem Zirkus partiell mitmachte. Zuvor hatten schon die Surrealisten mit „Ersatzporträts“ Identifikationsfiguren verwendet, um die Aussagekraft ihrer eigenen Porträts zu hinterfragen. Dazu verwendeten sie die Porträts bekannter zeitgenössischer Krimineller, die den illegitimen Status unterstreichen sollten, den die Literaten und Künstler damals in den Augen der Offiziellen hatten – und sie sollten die Öffentlichkeit provozieren. Doch die Kunstauffassung der Fluxuskünstler und ein Dillinger hatten Beuys in der Zeit der Umwälzungen in der Kunst noch wegen anderer Vorzüge angesprochen. Durch die Begegnungen mit Nam June Paik und Georges Maciunas standen Beuys erweiterte künstlerische Mittel zur Verfügung, als die, die ihm die Hochschule, an der er studiert hatte und die ihm nun von Jahr zu Jahr einen neuen Lehrauftrag erteilte, anbieten konnte. In den 1960er Jahren noch in dieser Sackgasse steckend, aus der er durch den Rauswurf aus der Akademie befreit wurde, hatte er Ambivalenz, möglicherweise sogar Neid gegenüber den Angehörigen der U.S.- Army empfunden, die wie Maciunas und George Brecht als zivile Angestellte in einer beeindruckenden Weise künstlerisch ambitioniert sein konnten. Beuys hatte ja Erfahrungen damit, wie es beim Militär zuging, und es ist wahrscheinlich, dass er dort mit seinen Kameraden und Ausbildern vor den Fronteinsätzen ähnliche Aktivitäten und seinen Interessen in Bezug auf die Naturwissenschaften nachgegangen war, die er dann nach der Begegnung mit Maciunas in Lebenslauf Werklauf „Ausstellungen“ genannt hatte. Die Einträge für 1940 mit den „Ausstellungen“ in Posen, in Sewastopol „während des Abfangens einer JU 87“, auf dem Flugplatz Erfurt-Bindersleben und dem Flugplatz Erfurt-Nord deuten das an.

© Johannes Lothar Schröder, VG-Wort, Conferencepoint 2016

[1] Schneede erwähnt, dass sich in Beuys Nachlass eine Kopie des Berliner Lokal-Anzeigers vom 23.07.1935 mit dem Bericht über dieses Ereignis befindet. Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen [Buch]. – Ostfildern-Ruit : Hatje, 1994 S. 324 Auch wenn die Kopie nicht aus der Zeit sein kann, sondern später hergestellt wurde, ist es möglich, dass der damals 13-jährige Beuys von dem sensationellen Show-down Dillingers erfuhr, und die Person faszinierend genug war, um von Kindern nachgespielt zu werden, um das Böse zu konkretisieren. Bis heute belegen Spiele – auch solche in digitaler Form – das Interessen von Kindern, sich dynamisch und performativ mit Gewalt, den Grenzen zwischen Gut und Böse sowie Leben und Tod auseinanderzusetzen.

[2] Beuys in: Staeck/Seidel 1987, S. 210. Zit. nach: Schneede, ebd.

[3] In: Stern, Heft 19, 30.April 1981, S. 77-82, 250-253, S. 82

[4] Thomas Kellein äußerte das ganz drastisch als er in einem Radiointerview sagte: am 4.6.2007 auf D-Radio-Kultur: „In Wahrheit hat Beuys Fluxus ausgebeutet. Er hat den Begriff, er hat die Werkformen auf sein eigenes Oeuvre übertragen, hat seine eigene Ausstellung ‚Fluxus‘ betitelt, um dann so eine Art Systemführerschaft zu übernehmen. Und das schließlich hat dazu geführt, dass viele Beuys-Forscher sich noch nicht einmal die Mühe machen zu überlegen: Wo kommt Fluxus eigentlich her?“ http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/632221/