Gekratzte Cinematografie – Negativgravuren von Annegret Soltau

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Annegret Soltaus fotografische Reproduktionen manipulierter Negative ermöglichen es, die massenhafte Bildproduktion unserer Zeit aus biologistischer Sicht zu betrachten. Unzählige und permanente Variationen desselben Negativs erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest einige Kopien weiter existieren werden. Kennzeichnend für Soltaus Arbeitsweise ist die Produktion von Hybriden, die weder eindeutige Unikate noch nummerierte Multiples sind. Erst wenn sie auf einem einzigen Tableau kombiniert werden, nähern sie sich einem Original an. Diese innovative Methode, fotografische Bilder durch manuelle Eingriffe zu modifizieren und in der Summe zu einem Original zusammenzufügen, wurde von der fortschrittsblinden Fachöffentlichkeit unbemerkt durchgewunken und findet erst seit etwa zehn Jahren zunehmende Beachtung. Das war möglich, weil Soltau durch Verlangsamung und die Verwendung von Arbeitsmethoden aus der Druckgrafik das Potenzial der Fotografie völlig überraschend verschoben hat. Damit schuf sie einen Beitrag zur Postfotografie, ehe dieser Begriff in die Theorie der Fotografie einging.
Auf noch nicht gesehene Weise erforschte sie einzelne Fotos von Bewegungen und Gesten durch manuelle Manipulationen, die es ermöglichten, besondere Momente zu entdecken und auszuarbeiten, wobei sie nicht vor grotesken und parodistischen Resultaten zurückschreckte. In den horizontalen, vertikalen und diagonalen Sequenzen kann man abstrakten Farbverläufen von Grauwerten folgen, aber auch Sequenzen identifizieren, die filmische Qualitäten haben. Dabei ist herauszustellen, dass die verwendeten Negative Ergebnisse autobiografischer Fotoperformances sind. Die bei der Aktion gegebene Nähe von Subjekt und Objekt konnte durch die aufwändigen Prozsesse der Gravur der Negative vertieft werden. Hierin trafen die Utopien, Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Sorgen eines fotografischen Moments mit ihrer damaligen Umbruchsituation zusammen, in der Künstlerinsein, Schwangerschaften, Kindererziehung und Existenzsicherung bewältigt werden mussten. Die Nadel auf dem Negativ fokussierte diese Situation wie ein Brennglas das Licht. Um die Bandbreite eigener Erfahrungen zu erforschen und grafisch zu objektivieren, verbrachte Soltau ganze Nächte an ihrem Arbeitstisch, In solchen Marathon-Sitzungen entstanden mit den Fototableaus Bildobjekte von ungeahnter Kraft und außergewöhnlicher Schönheit .
(c) Johannes Lothar Schröder

https://www.instagram.com/p/CKUJebOo9vg/?utm_source=ig_web_copy_link

Ausst: Annegret Soltau, Körpersprache, bis 20. März 2021, https://galerie-beckers.com/exhibitions/

Dieser Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch ABHÄNGEN von Johannes Lothar Schröder über Dieter Rühmann, Annegret Soltau und Boris Nieslony. Es erscheint 2021 im ConferencePoint Verlag, Hamburg

SCRATCHED CINEMATOGRAHPHY by Annegret Soltau

Soltaus’s photographic reproductions of manipulated negatives make it possible to consider the massive increase of image production of our time from a biologistic point of view. The innumerable and permanent variation of the same negative increases the likelihood that at least some copies will continue to exist. Apparently casually, neither the unique pieces preferred by the market were created, nor numbered multiples were issued, but hybrids were produced to combine them to a unique image on a single tableau. This innovative method of modifying photographic images by manual intervention and assembling them into an original has been waved through unnoticed by the professional public. Meanwhile Soltau exploited the potential of a photograph in a completely surprising way and has created a contribution to post-photography before post-photography and has even gone beyond it. In a way not yet seen, she has explored individual photos of movements and gestures and extended the moments to be identified in them not shying away from grotesque and parodistic ways of doing so. In the horizontal, vertical, and diagonal sequences, one can follow abstract gradients of gray values but also identify sequences, that contained cinematic qualities.
Therefore, it is important to emphasize once again that the negatives used are not arbitrary photos, but those of an autobiographical performance in front of the camera. That is why Soltau was able to evoke the utopias, desires, hopes, fears, and worries contained in a photographic moment. To bring it into an appearance she spent marathon sessions at her worktable mostly at night. With the needle on individual selected negatives, Soltau has fought against the ever-faster production and marketing of the new, composing images of unimagined power and beauty.

(c) Johannes Lothar Schröder
The English translation was assisted by Microsoft® Translator

Eine Performance in Zeiten der Epidemie fotografieren

Am 30. Mai 2020 lud Ilka Theurich zur atelier:performance #27 von Sigtryggur Berg Sigmarsson in ihr Studio in Hannover ein.

Coronabedingt finden alle Veranstaltungen dieser Serie 1:1 mit nur einem Zuschauer statt und dieses Mal fiel die Wahl auf mich. Ich wählte die Fotografie mit einer digitalen Spiegelreflexkamera zur Dokumentation. Als Objektive verwendete ich ein Weitwinkel- und ein Telezoom (24-80 mm und 100-240 mm) von Zuiko.

Mit Sigtryggur traf ich einen Zeichner und experimentellen Musiker, von dem ich bisher nur you-tube-Videos gesehen hatte. In den ersten zwei Teilen des Programms mit ghostriders und das ist keine Musik begegnete mir ein bis zur Ekstase singender und in der Art eines Dirigenten agierender Mann. Dass er nicht auf einer Bühne stand, sondern wir uns auf einer Ebene – auf dem Estrich eines Studios – begegneten, ließ nie das Gefühl von Musiktheater aufkommen. Ich spürte also nicht den Druck eine Kluft wie z.B. die zwischen Bühne und Zuschauerbereich überbrücken zu müssen. Dafür musste ich teilweise auf die Knie, um die Kamera in die Körpermitte des Performers zu bringen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Vor mir agierte ein bildender Künstler seine ganz eigene Faszination an den darstellenden Künsten aus. Sie erlaubte ihm, die Exaltiertheit von Stimmen und Gesten frei zu interpretieren. Das war nicht der Alltag von Bühnenkünstlern, sondern Sigtryggur Berg Sigmarsson. Ich hatte ihn hier in dieser besonderen Situation als ein Modell im Studio vor der Kamera und konnte die Spannung zwischen der Bühnen- und Studiosituation nutzen, um seine Interpretationen der verschiedenen Genre durch Übersteigerung von Gesten und Körpersprache bis hin zur Parodie besser zu verstehen.

Sigmarsson, das ist keine Musik, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Nachdem ich mich auf Raum, Licht und Performer eingestellt hatte, und ich mich ganz der Aktion zuwenden konnte, lief die Arbeit trancehaft ab. Vielleicht verbrachten wir zwischen einer und zwei Stunden zusammen. (Fünf Wochen später habe ich schon mindestens doppelt so viel Zeit mit den Fotos verbracht und muss dringend schriftlich die Unmittelbarkeit des Life-Erlebens niederlegen, ehe die Standbilder das Geschehen auf eine Auswahl von Momenten zuspitzen.)

Sigmarsson, the important little man, Performance, 2020, foto: johnicon, VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Im zweiten Teil der Session präsentierte Sigtryggur einen Stapel Pastellzeichnungen und gab sich als Darsteller verschiedener Kunstvermittler zu erkennen, indem er sich der für Künstler oft unangenehmen Aufgabe stellte, einem Publikum zu erklären, um was es auf den Bildern geht oder wer oder was dargestellt sein soll. Mit wenigen Worten wurde Blatt für Blatt und Motiv für Motiv einzeln vom Stapel genommen und charakterisiert. Ich könnte jetzt keine Details der Beschreibungen, Benennungen und Interpretationen mehr nennen. Ich sah vielmehr neben den farbigen Pastellzeichnungen, aus deren Strichgewirr sich Gesichter mit Attributen herausschälten, jeweils neben den Gesten und den Mimiken der Vermittlung. Blick, Objektiv und Gedanken blieben an den Rollen hängen, die ich dort mit jedem Blatt in leichten Varianten kurz aufscheinen sah. Ich jagte ihnen im Sportfotomodus der Kamera nach. Dabei konnte ich unter all den verschiedenen gemimten und mit Gesten angereicherten Charakteren – die Performance hieß the important little man – augenzwinkernde Künstler, charmante Museumsführer, gerissene Verkäufer, gefällige Kunstsachverständige, joviale Galeristen oder zynischen Wissenschaftler und andere Vermittlerfiguren entdecken. 

@johnicon

Dokumentation auf: https://atelierperformance.blogspot.com/2020/06/atelierperformance-27-sigtryggur-berg.html

Weitere Fotos auf Instagram: @studio.ilka.theurich und @sigtryggurberg (9.Juni)

From Carrying to Caring

PAST & NOW – a retrospective of Tatsumi Orimoto

PAST & NOW is the title of the retrospective of Tatsumi Orimoto organized by the Onomichi City Museum of Art (Hiroshima) from August 4th to September 16th. It honors one of the most active performance artists of Japan who has been traveling and showing his work in four continents since 1982.

The curators of the show and authors of the catalogue Noritoshi Motoda and Shinji Umebajashi enrol Orimoto’s work in 6 chapters.

The earliest works consisted of metal-bracelets and -tags which Orimoto attached to arms and clipped to ears of people – single or groups – he photographed in Thailand, India, Sri Lanka, Australia and Japan.

Carrying

In the 1980s Orimoto attracted attention by carrying-events, in which he carried bread, carton-boxes, a chimney, a tire-tube and other things alone or with somebody in various ways. This type of performance is still going on until today, when he carries a rabbit, a duck or a baby-pig, which are part of his performances with animals.

Tatsumi Orimoto: Carrying a Baby Pig on my Back, Juni 13, 2012, Poster (c) ART-MAMA Foundation

Bread-Man, which made him famous worldwide, developed out of carrying bread. Without a container Orimoto attached a loaf of bread or a number of different types of bread onto his face or around his head. Covered by this strange type of mask he performed not only in museums, but also in hospitals, stations and even in trains and boats. In public places and streets he often gathered large groups of people who formed surreal processions.

ART-MAMA

His father’s death forced Orimoto to take care of his mother who suffered from depression and Alzheimer. From 1996 on he created and documented numerous performances and events including “Art-Mama” as well as neighbors and friends within the domestic situation. After participating in the 49th Venice Biennale in 2001 he took the chance to expand these events with public lunches and gatherings of up to 500 grandmothers (Convent of Sao Bento de Castris, Evora, Portugal) in international locations and museums from Brazil to Denmark.

Last but not least the exhibition presented hundreds of his watercolors and pencil-drawings, which he created alongside of his performances especially while planning art-events, traveling and having his beer in the evening.

Everybody who likes the work of Orimoto or looks for an opportunity to get in touch with it should not miss this catalogue. Thoughtfully chosen examples of his work and shoots from the exhibition give an excellent overview on his work.

The catalogue is available at the ONOMICHI CITY MUSEUM OF ART, 17-19 Nishitsuchido-Cho, Onomichi-shi, Hiroshima 722-0032, Japan; please call for details!  Tel: 0081 (0) 849-23-2281 Fax: 0081 (0) 849-20-1682