Auf Augenhöhe

Ein mit Bandstahl vergitterter hölzerner Käfig stand am Morgen des 30. Oktober 2004 auf dem Platz vor dem ehemaligen Jesuitenkolleg in Paderborn. Er entsprach 1:1 einer Isolierzelle, die U.S.-Truppen im Foltergefängnis von Abu-Ghraib einsetzten. 14 Jahre später kehrt der Käfig nach Stationen in Osnabrück, wo er 2009 als Teil der Ausstellung „COLOSSAL. Kunst Fakt Fiktion“ aus Anlass der Varus-Schlacht vor 2000 Jahren für einen Eklat sorgte, und der Ausstellung von Skulpturen und Zeichnungen im Morgner-Museum in Soest im Sommer 2018 zurück nach Paderborn. Bis auf weiteres steht er im Zwickel des Portals der Theologischen Fakultät und der Fensterfront des Hörsaals, womit ein Zeichen zum lebendigen Andenken an den Jesuitenpater Friedrich von Spee gesetzt wird, der von 1629 bis 1631 als Professor für Moraltheologie am dort ansässigen Jesuitenkolleg unterrichtete und die Cautio Criminalis verfasste. Auf diese Schrift berief sich der Bildhauer Wilfried Hagebölling, als er den Käfig aus Protest gegen die Wiederkehr der Folter baute und aufstellte, denn der 1631 und 1632 erschienene Text leistet bis heute einen wichtigen Beitrag zur Ächtung von Folter und Unterdrückung.[i]

Wilfried Hagebölling, Abu-Ghureib 2003/2004 – Friedrich von Spee 1631/1632, 2004, am aktuellen Standort vor der Theologischen Fakultät 2018, Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2018

14 Jahre nach der ersten Aufstellung des Käfigs fand am 22. November 2018 an der Theologischen Fakultät der Universität Paderborn eine längst überfällige öffentliche Diskussion statt. Professor Dr. Josef Meyer zu Schlochtern moderierte das Gespräch zwischen Prof. Dr. Manfred Schneckenburger, dem Bildhauer Wilfried Hagebölling und der Leiterin der Städtischen Galerien und Museen Dr. Andrea Wandschneider.

Ohne Sockel

Im „Willen zur Veränderung“  sieht Hagebölling den Hauptantrieb seines Schaffens. Diesbezüglich hebt er die Sockellosigkeit seiner Arbeiten hervor und nennt als Beispiel das 1980 in den Wallanlagen von Soest aufgestellte achtteilige Bodenstück. Diese Art der Präsentation, wie sie erstmals bei der Skulpturenausstellung 1958 im Londoner Battersea-Park angewandt wurde, inspirierte Hageböllings ebenerdige Aufstellung von Skulpturen. Auf das menschliche Maß bezogen sind auch Papierarbeiten, auf denen er in der Spannweite seiner Arme durch Materialabriebe Bilder erzeugt, die Betrachter*innen auf Augenhöhe nachverfolgen können. Ein unmittelbarer Körperbezug bestimmt auch den 3 x 2 x 1 Meter messenden Käfig. Doch ist Hagebölling überzeugt, dass der Aufstellungsort dieses Objekts vor der Theologischen Fakultät mit dem Bezug zu von Spee seine Schlagkraft steigern würde.

Andrea Wandschneider griff diesen Aspekt auf, da sie der Kunst innerhalb der städtischen Gemeinschaft (polis) generell die Rolle einer Gegenmacht zur politischen Macht einräumt. Sie sieht eine grundsätzliche ästhetische Qualität schon mit dem Objekt gegeben, über das sie zu bedenken gibt: „Wenn ich dem Käfig im Wald begegnete, hätte er für mich eine ähnlich starke Macht.“  Da es sich hier um einen Nachbau handelt, unterstellt sie zugleich, dass der Käfig der amerikanischen Truppen eine bisher unausgesprochene ästhetische Grundlage hätte.

Entsprechend hatten sich die Stadtoffiziellen nach der erstmaligen Aufstellung des Käfigs vor 14 Jahren verhalten, als sie den Käfig mit Trassierband umgaben und den Künstler ultimativ aufforderten, das Objekt zu entfernen. Angesichts der politischen Querelen, welche bisher fast jede seiner öffentlichen Skulpturen ausgelöst hatte, ist Hagebölling ein lebender Beweis der Herausforderung der Macht, was jedoch einen Großteil der Kunstwerke ausschlösse, die keine Kontroversen hervorrufen.

Schneckenburger räumte ein, dass er bis 1986 an den Plastiken von Hagebölling vorbeigefahren sei. Während seiner Zeit als Leiter der documenta 6 und 8 sowie als Professor an der Kunstakademie in Münster standen sie von ihm unbemerkt an verschiedenen Orten entlang der Autobahn in Marl, Münster, Mannheim, Soest oder Bielefeld. Sein freimütiges Bekenntnis benannte das Dilemma der mit Kunst Befassten, die betriebsblind in einem System eingeschlossen, oft nicht mitbekommen, was außerhalb der von Kritikern, Akademikern und anderen Experten begutachteten Welt vor sich geht.

Ein Käfig als Medium

Er begründete den Aspekt der Macht mit der physischen Gegenwart von Skulpturen, die sich von den „flimmernden Scheiben“ der Bildschirme unterscheiden würden, die „neutral in jeder Richtung“ seien. Wenn er den Käfig sehe, müsse er unweigerlich an die Fotos denken, die aus Abu Ghraib an die Öffentlichkeit gelangt sind. Hier hätte man sich die Stimme des Moderators gewünscht, der die Diskussion auf die mit diesen Beiträgen angerissenen Zusammenhänge und die damit verbundenen ästhetischen und medialen Probleme gelenkt hätte.

Podium im Hörsaal der Theologischen Fakultät, Still der Aufzeichnung vom 22.11.2018 aus YouTube

Das prachtvolle barocke Kreuz über dem Podium und die Projektion des Käfigs begleiteten die Diskussion und beinhalteten selbst schon eine Aussage über 2000 Jahre Folter. Beide sind Kopien von Folterwerkzeugen und decken die Jahrhunderte ab, in der sich die Größen- und Bedeutungsverhältnisse von Theologischen Fakultäten gegenüber den Kunst- und Medienhochschulen signifikant verschoben haben.

Mein Buch über Käfige wird 2019 im ConferencePoint Verlag in Hamburg erscheinen und stellt zahlreiche Käfige aus der Kunst der Gegenwart vor.[ii] Da fast alle Käfige der Schaustellung von Menschen und Dingen dienen, liegt eine Beziehung zu elektronischen Displays auf der Hand, die dazu geführt hat, die käfigartige Beschaffenheit von Bildschirmen in die Gedankengänge mit einzubeziehen.

© Johannes Lothar Schröder

Die komplette Veranstaltung ist auf: https://www.youtube.com/watch?v=MQbNpPb_414
zu sehen

 

[i] Als Priester leistete Friedrich Spee von Langenfeld SJ (1591-1635) den in Hexenprozessen zum Tode Verurteilten Beistand und begleitete sie auf ihrem Weg zur Hinrichtung. Er wusste, dass diese Opfer der Inquisition unschuldig waren. Doch waren sie den Peinigern chancenlos ausgeliefert, weil jede ihrer Aussagen gegen sie gewendet werden konnte. Bekannter ist von Spee, der zuvor schon von 1623 bis 1626 als Professor der Philosophie in Paderborn tätig war, als Verfasser bekannter Kirchenlieder wie „Zu Betlehem geboren.

[ii] Das erste Kapitel ist als Vorabdruck zur Ausstellung „Wilfried Hagebölling. Skulpturen und Zeichnungen“ im Museum Wilhelm Morgner in Soest 2018 erschienen.

 

Wissen in Aktionen

Auch in der dritten Auflage des Performance-Festivals von Brise°3 vom 3. – 5. Juli brachte die Initiatorin Elke Mark wieder verschiedene Generationen von Performern zusammen. Das ist die Praxis von paersche (homepage: www.paersche.org), deren Mitglieder das Festival mittags mit einer open session im Park auf dem Flensburger Museumsberg begannen.

Ruedi Schill & Monika Günther, Perf. am 3.7. foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Ruedi Schill & Monika Günther, Perf. am 3.7.
foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Sich bewegende Bilder

Gelassen und poetisch begannen Ruedi Schill und Monika Günther das Abendprogramm. Sie klebte sich ein Papierstreifen an die Stirn, der über den Nasenrücken bis zur Stirn reichte und gelegentlich vom Atem gerührt wurde. Er zog nacheinander auf A6 gefaltete A2 Bögen aus der Gesäßtasche, um sie auf 12 verschiedene Art und Weisen zu entfalten. Danach wurde der gerade entfaltete Bogen neu geknickt, gerollt, gedrückt, zerknüllt, getütet, gestrichen, geknäuelt, geöffnet und dann der Schwerkraft überlassen , die je nach Oberfläche verschiedene Varianten des Fallens erzeugte.

Zwei Fahrräder steckten in einem Konglomerat aus Erde und Pflastersteinen, unter dem Bilderrollen steckten, die Helge Meyer & Marco Teubner nach und nach entrollten und auslegten. Wofür stehen die in schwarzer Farbe gebadeten Hände der schwarz Beanzugten mit schwarzen Koffern? Stellen sie eine Art von hohen Priestern der Kehrseite unseres auf hohe Mobilität gegründeten Wohlstandes dar, in dessen Namen nicht nur die in den Statistiken aufgezählten Menschen geopfert werden, sondern gleichfalls eine ihre Zahl übersteigende unbekannte Anzahl von Tieren?

Helge Meyer & Marco Teubner, Perf. am 3.7. Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Helge Meyer & Marco Teubner, Perf. am 3.7.
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Das Spiel mit einem schwebenden Herz aus Metallfolie begann nach der Pause in einem Gebäudezwickel des Museums. Im Abendlicht erzeugten Evamaria Schaller & Alice de Visscher schöne Bilder, die in überraschende Aktionen mündeten, als der mit Helium gefüllte Ballon z.B. im Aufzug nach Oben entschwand oder diagonal am Publikum vorbeiraste.

Evamaria Schaller & Alice de Visscher, Perf. am 3.7. Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Evamaria Schaller & Alice de Visscher, Perf. am 3.7.
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Zum Abschluss des Abends führte eine Spur aus Sand, der aus dem Karton auf dem Gepäckträger eines Fahrrades rieselte an die Förde. Dort schwebte auf einem Ponton einer luftgängigen Riesenqualle über die mitsommerliche Förde.

Elke Mark, Perf. am 3.7. Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Elke Mark, Perf. am 3.7.
Foto: johnicon, VG Bild-Kunst 2015

Über die anderen Performances, mögen andere schreiben; denn ich musste abreisen und konnte die Fortsetzung des Festivals in Dänemark nicht mehr erleben.

Nachlässe

Bleibt noch zu erwähnen, dass Brise und paersche unterschiedlichen Menschen zum praktischen und theoretischen Austausch zusammenbringen, um besonders auch das sich physisch manifestierende Wissen verschiedener Generationen mit ihren jeweiligen Erfahrungen und Eigenheiten zusammenzubringen. Das aktiviert Ressourcen der Performance-Art, die besonders hinsichtlich einer beschleunigten Ausbildungs- und Berufswelt, die auch Künstlerkarrieren in der Welt digitalisierten Wirtschaftens und Kunstschaffens nicht unberührt lässt. Dieser Austausch zwischen den Generationen, die internalisiertes Wissen und tollkühne Experimente teilen, ist eine kostbare Praxis in einer virtuellen Kommunikationswelt. Ein paar Tage lang wird Wissen physisch sichtbar gemacht und rituell geteilt. Ob das auch auf dem Gebiet des Archivierens geschehen wird, wird sich in den kommenden Jahren herausstellen, wenn die Nachlässe der Generation von Performern zur Disposition stehen, die in den 1960ern und 70ern die Inspirationen der interdisziplinären Kunst, der Body Art, der Überschreitung etc. aufgriffen haben und als bildende Künstler damit begannen, vor Publikum mit ihrem Körper zu experimentieren. Jetzt stellt sich nämlich die Frage, ob die Kulturrichter und ihre Geldgeber sich dafür entscheiden, dieses Wissen auf die Boote zu laden, um es mit in die Zukunft zu nehmen oder es dem Abfall überlassen. Eine Entscheidung fällt aber nicht nur durch Archivierung der Relikte und Medien, auf denen Performances gespeichert werden, sondern auch in den Curricula der Schulen und Hochschulen, wo neoliberale Berater den Kunstunterricht und kulturwissenschaftliche Fachbereiche auf die Streichlisten setzen.

Ein Buch

Mit Formen der Wissensgenerierung/Practices in Performance Art stellten die Herausgeber Manfred Blohm und Elke Mark einen Band vor, dessen Beiträge die paradoxe Verbindung zwischen Bild und Ephemeren untersuchen (ATHENA-Verlag, Oberhausen 2015, 203 Seiten). Das Tun – Wahrnehmen und Machen – führen zu Ergebnissen, die weiterwirken, sei es dass sie bleiben oder verschwinden, sich manifestieren oder in etwas Anderes übergehen. Entscheidend sind wohl die jeweilige Auffassung von Festigkeit und das Bedürfnis nach Stabilität von Verhältnissen und Dingen. Die ruhigen Bilder und die Bedächtigkeit, die den ersten Festivaltag bestimmten, waren möglicherweise dem Streben nach Konsolidierung gedankt, mit dem sich Performance Art und Bildwelten sich aufeinander zubewegen.

Johannes Lothar Schröder

Parzelliert und gestickt

Annegret Soltau: Ich war total suchend. Erzählt von Baldur Greiner, Weststadt Verlag Darmstadt 2013, Hardcover, 116 Seiten, 19,80 €

Unverwandt blickt die Frau auf dem Cover ihre Leser an. Ihr Gesicht ist mit Linien überzogen, die sich wie ein Tattoo über Haut, Nase, Brauen, Haare und Hals ziehen. Allerdings weist die Parzellierung des Gesichts zweierlei Lineaturen auf. Wie der rückwärtige Buchdeckel zeigt, ist das Foto Annegret Soltaus mit einem verschnürten Gesicht außerdem mit einem Faden übernäht. Eine Arbeitsweise der Aktionskünstlerin gibt sich darin genauso zu erkennen wie die künstlerische Reflexion des Gefangenseins und – wie es der Buchtitel andeutet – die Suche nach einen Wegen.

Umschlag, Vorderseite

Umschlag, Vorderseite

Der Band bringt Schwarz-Weiß-Abbildungen weiterer Werke der Künstlerin seit 1974. Obwohl er kein Kunstbuch ist, stellt die sorgfältige Auswahl, die mit einschlägigen Passagen aus ihrer Biografie synchronisiert ist, ihrer künstlerischen Entwicklung mit ihrer Suche nach Verbindungen und Entfesselungen umfassend vor. Private Fotos zeigen darüber hinaus – durchaus exemplarisch – eine junge Frau der kargen Nachkriegsjahre voller Neuanfänge inmitten reaktionärer Bemühungen, die alten Verhältnisse zu rekonstruieren. Die von ihrem Mann, dem Bildhauer Baldur Greiner erzählten Episoden aus dem Leben der Künstlerin entdecken den Lesern Kindheit, Jugend und Entwicklung dieser Protagonistin feministischer Kunst in Deutschland.

 

Eine und zwei Nachkriegsbiografien

Zufällig erscheint das Buch zeitnah mit zwei anderen Biografien aus der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit: Als Filme kamen „Quellen des Lebens“ von Oskar Roehler  und „ Das Wochenende“ von Nina Grosse nach dem autobiographischen Roman „Herkunft“ von Roehler und „Das Wochenende“  nach dem gleichnamigen Roman von Bernhard Schlink kürzlich in die Kinos. Grosse zeigt in ihrem Film einen aus der Haft entlassenen Terroristen, der an seinem ersten Wochenende im Haus seiner Schwester auf ehemalige Genossen, seine Geliebte und deren gemeinsamen Sohn trifft. Der Film gipfelt in der Konfrontation mit seinem Sohn, der seinen Vater bisher nur einmal für 10 Minuten im Gefängnis gesehen hat.

Beide Werke erzählen die Geschichte von Männern aus einem bürgerlichen kunstaffinen Milieu. Dem gegenüber stehen die von Greiner in einer knappen Sprache geschilderten Lebensumstände seiner Frau, die abgeschnitten vom bürgerlichen Leben ihre Kindheit im zum Wohnen hergerichteten Stall eines kriegszerstörten großmütterlichen Bauernhauses in den Elbmarschen verbrachte. Ihren im Krieg verschollenen Vater hat sie nie kennengelernt. Von ihm existiert lediglich ein Foto, das ihn in Uniform auf einer Brücke aus Birkenstämmen zeigt. Dieses Foto diente der vergeblichen Suche der Tochter nach Spuren von ihm, während ihre Mutter diese folgenreiche Episode am liebsten aus ihrem Leben gestrichen hätte.

Hier zeigt sich eine Gewalt, deren künstlerische und sprachliche Aufbereitung für Soltau im Vergleich zu den beiden Bestsellern und Filmen mindestens 20 Jahre länger gedauert hat. Die Mittel der Kunst waren nicht auf das Schicksal dieser Künstlerin zugeschnitten, die mit Aktionskunst, Zeichnung und Foto-Vernähung ihre Möglichkeiten selbst erfinden und erforschen musste. Dieses meint der Titel:  “Ich war total suchend“ und das Buch zeichnet die Suche dieser Künstlerin jenseits der Ressourcen auf, aus denen die Autoren und Filmemacher bürgerlicher Herkunft selbstverständlich schöpfen können.

 

Leibfeindlichkeit und Zensur

Die Foto-Vernähung mit dem Titel „generativ“

http://www.photoscala.de/Artikel/Die-Kunst-des-Alterns&h=351&w=500&sz=39&tbnid=JLUZTYWKeCzBXM:&tbnh=90&tbnw=128&zoom=1&usg=__uc25yzmRgs9ILQ-NSvhmSXTcVno=&docid=_hkGEXFAxLNM-M&sa=X&ei=8xh5UbHII8mTtAag7oDQDQ&ved=0CEAQ9QEwAg&dur=2311

sollte als Teil ihres Bildessays „Altern und Gestaltwandel der Frau“ in dem von Farideh Akashe-Böhme 1995 herausgegebenen Band „Von der Auffälligkeit des Leibes“ erscheinen, hätte nicht Siegfried Unseld diesen Beitrag zensiert. (vgl.: Darmstädter Dokumente No. 2, Presse- und Informationsamt des Magistrats der Stadt Darmstadt, 1997)  Gegen die nackten Frauenkörper schlugen bei Unseld Ressentiment und Leibfeindlichkeit durch, gegen das ihn das Verlegen der Schriften von Bloch, Adorno, Habermas, Benjamin etc. nicht immunisiert hatten. Dieser Mann ließ vielmehr die Schranken zwischen den Geschlechtern, den Klassen und den verschiedenen Ästhetiken erneut absenken, weil ihm die Vernähungen von vier Frauenkörpern unterschiedlichen Alters (Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter) zu ungeheuer waren, als dass er seinen persönlichen Abscheu durch Vernunft hätte überwinden können.

Annegret Soltaus Werk verkörpert das Potential einer Kunst, für das die Türen in einer von anderen gesellschaftlichen Erfahrungen bestimmten Kunstwelt nur widerstrebend und wenn dann zunächst nur einen Spalt breit geöffnet werden. Dieser jetzt vorliegende biografische Band lässt erkennen, dass die ästhetischen Differenzen um das Werk dieser Künstlerin nicht nur die feministische Seite ihrer Kunst betreffen, sondern auch gespaltene Lebenswelten eine Rolle spielen. Wie das Netz vor dem Gesicht der Künstlerin offenbart die Zensur Unselds exemplarisch die meist unsichtbaren aber gleichwohl folgenreichen Parzellierungen in Kunst und Gesellschaft. Entsprechend abgestuft fällt der Aufwand aus, mit dem die Institutionen ihre Protagonisten aus verschiedenen Klassen würdigen.

Umschlag, Rückseite

Umschlag, Rückseite