Neuer Existenzialismus als Folge der Expansion der Künste

Es ist keine Neuigkeit dass der Aufbruch in den Künsten seit den 1960 Jahren nicht nur Bühnenbildner in die Museen geholt hat, sondern auch die Spezialisierung von Autoren mit interdisziplinären Fertigkeiten nach Orten der Präsentation verlangt, die Theater nicht bieten können, hingegen werden in Off-Räume und Kunstinstitutionen, die sich diesen Feldern geöffnet haben, neue Erfahrungen für alle Beteiligten möglich. Die GAK in Bremen setzt sich mit solchen Positionen auseinander. Noch bis zum 25. Februar 2018 zeigt Than Hussein Clark „The Director’s Theatre Writer’s Theatre“ Umgekehrt haben bildende Künstler Video als ihr Medium definiert und auf das Wissen der Filmindustrie gesetzt sowie mit Theater experimentiert. Dadurch konnten sich eminent erfolgreiche Installationskünstler wie Bruce Nauman und Paul McCarthy entwickeln.

Horror der Existenz und Existenzbeweise

Ganz andere weniger Raum greifende und dennoch eindringliche Werke aus einer Privatsammlung präsentiert die Weserburg auf dem Teerhof gegenüber noch bis Ende März 2018 (verlängert!). Schon der Titel „Proof of Life“ lässt aufhorchen und erfüllt auch noch die geweckten Erwartungen. Die Ausstellung versammelt 76 Werke von Künstlern, die die Expansion der Künste gut beobachtet haben und ihre Konsequenzen als Maler, Bildhauer und Fotografen daraus gezogen haben. Sie vergegenwärtigen die Grenzsituationen, wie sie von Performer in ihren besten Zeiten erforscht worden sind, und fixieren sie. Es ist vielleicht vermessen, das so eindeutig zu behaupten, doch liegt die Stärke dieser Sammlung in der Ballung von Werken, die sich so wie sie gehängt sind noch gegenseitig steigern. Der existenzialistische Druck, in den uns die Ereignisse und Brüche der letzten 100 Jahre in Europa und den USA bei durchweg guten materiellen Bedingungen geführt haben, wird transportiert. Es scheint, dass der Überfluss erst die Fähigkeit und die Mittel erzeugt hat, derartige Forschungen zu betreiben und zugleich die Konzentration deutlich macht, mit der wir als Europäer bestimmte Phänomene immer wieder neu zu erfassen und zu interpretieren zu versuchen. Mit der Bibel haben wir uns den Turmbau zu Babel als Erzählung der menschlichen Hybris angeeignet, die die Menschen in den Abgrund reißt. Jake & Dinos Chapman haben mit Tower of Babbel ein Miniaturmodell mit Tausenden von sich lustvoll gegenseitig abschlachtenden Nazis gebaut, in dem sich Uniformierte, Behelmte und Verwundete mit Clownsfiguren vermischt, die den Totentanz anscheinend organisiert haben, den sie auf einem provisorischen Holzturm fortsetzen, von wo sie den Leichenhaufen kontinuierlich erhöhen. In dieser von einer Apokalypse gezeichneten Landschaft kann der Turm nicht einmal mehr ein Mahnmal sein. Keiner mehr wird es anschauen können …

Bilder, Objekte, Skulpturen, Installationen, Fotos und mehr in ähnlicher Qualität von folgenden Künstlern haben weitere Aspekte so zugespitzt, dass man die aktuellen Themen nicht unbedingt vermissen muss. Es sind:
Hilary Berseth, Louise Bourgeois, Berlinde de Bruyckere, Patrick van Caeckenbergh, Jake & Dinos Chapman, George Condo, Anton Corbijn, Thierry de Cordier, Danny Devos, Tracey Emin, Tom Friedman, Line Gulsett, Damien Hirst, Roni Horn, Thomas Houseago, John Isaacs, Sergej Jensen, Nadav Kander, Anne-Mie van Kerckhoven, Anselm Kiefer, Esther Kläs, Wolfe von Lenkiewicz, Alastair Mackie, Christian Marclay, Kate MccGwire, Richard Prince, Leopold Rabus, Daniel Richter, Terry Rodgers, Sterling Ruby, Richard Serra, Andres Serrano, Stephen Shanabrook, Mircea Suciu, Gavin Turk, Jonathan Wateridge.

Was bedeutet Theatralität?

Die Frage, warum und wodurch die Theatralik in der bildenden Kunst so bedeutend geworden ist, muss dann gar nicht mehr auf die GAK beschränkt bleiben. Ihre Leiterin Janneke de Vries hatte jedenfalls Jörn Schafaff aus Berlin eingeladen, um über dieses Thema zu referieren. Anhand der Praxis von Rirkit Tiravanija wurde deutlich, dass zumindest bei isoliert gezeigten Objekten und Situationen in Ausstellungsräumen ein Distanzierungseffekt auftritt, der die Einstellung des Publikums zu Nachstellungen privater Räume und Mitteilung intimer Erfahrungen verändert. Die erhöhte Aufmerksamkeit ermöglicht ein „erfahrungsbasiertes Verstehen“. Aus der theoretischen Diskussion ist die Kritik Michael Frieds mitzunehmen, die sich gegen die minimalistischen Objekte (Collum, 1961) und ihre Arrangements im Raum von Robert Morris richtete. Doch sind diese Objekte theatralisch? Morris versuchte sie ja durchaus durch Interventionen in Bewegung zu bringen oder gar umzuwerfen, was dazu führte, dass sowohl Allan Kaprow 1963 in „Push and Pull. A Furniture Commedy for Hans Hoffmann“ wie auch Chris Burden mit „Sculpture in Three Parts“ (10. bis 12. September 1974) darauf Bezug nahmen. Burden benutzte eine Säule als Platz für einen Stuhl, auf dem er so lange saß, bis er sich nicht mehr halten konnte und abstürzte, und Kaprow machte die Möbel durch Umrücken zu Akteuren, die zugleich auf Hoffmann als den Maler anspielten, von dem er als sein Assistent auch lernte, sich den Weg zum Happening zu bahnen. Beide Künstler distanzierten sich durch ihre Aktionen sowohl vom Minimalismus glatter und polierter Objekte wie auch von einem bis heute gepflegten akademischen Verständnis der Theatralität. Dadurch gelangten sie zu einer Darstellungsform, der nicht nur eine künstlerische Demonstration gelang, sondern diese auch in Richtung einer Stellungnahme zu erweitern, die geeignet ist sich in akademische Diskurse einzumischen. In den 1970ern wurden also nicht nur Bilder Worte (Bilder werden Worte hieß 1977 die Dissertation von W.M.Faust), sondern auch Installationen und Performances erwiesen sich als geeignet, auf Basis der aktuellen Diskurse aktionistisch Argumente vorzutragen.

Liminoid and Walls Against the Multitude (on PSi #23, Part 2 of 3)

Considering the abundance of sessions offered in the conference I became aware of the limitations of reporting on the whole conference which was organized by Amelie Deuflhard, Gabriele Klein, Martin Jörg Schäfer and Wolfgang Sting and managed by Marc Wagenbach. So I decided to write about a few thoughts and ideas that came up in conversations and dialogues as well as moments of relaxation shared with other participants. Many of the terms and themes have already been discussed at other PSi-conferences and in Performance Research. This reappearance of themes can be seen as a golden thread which not only helps to get out of a labyrinth built by artists but also helps to catch the clue to a complexly woven pattern.

Liminal and Liminoid

Amongst the many metaphors and concrete forms of flow and overflow ‘liminal’ seems to be a revue of an old one. After Richard Schechner (one of the founders of PSi) one did not hear this reference for quite a while. It was introduced by Arnold van Gennep and redefined by Victor Turner. Thomas Isaacs brought it up again to understand the self-torturous actions of Marina Abramovic in “Lips of Thomas” http://marina-abramovic.blogspot.de/2009/11/thomas-lips-1975.html . Although it was done in 1974 it seems that it has not been fully understood. Why can it be useful or even necessary to perform painful acts? If we follow Turner, we have to ask again, whether there is any reason to transfer rituals and initiations from agricultural to complex contemporary societies? Does it make sense to use this term and to understand pain in terms of a contemporary ritual? Kieran Sellars also asked such questions with regard to the performances of Martin O’Brian, which for him are part of a personal method of struggling against his disease and help him to ease pain.[1] Perhaps we have to revise the idea of transgression today. While in the 1960s and 70s it meant breaking down the limits between art and life as well as between the private and the public, today the setup of limits is being discussed again. It seems that ‘liminal’ defines the use of thresholds – seen as a beam of plank at the entrance of a house – against excess.

New Limits? (degression)

The etymology of liminal is connected to the motto ‘overflow’, considering, that thresholds, the literary meaning of which can be defined as a board holding the abundance of a rich crop like cereal. Here liminal means banning or protecting the overflow and being able to share a crop over a period of time. This seems to be the direction in which the impetus of performance art has been changing over the decades at least in the Americas, Europe and Japan. Beginning as a revolutionary act in art, politics and life, which intended to tear away any limitation set by traditions, rules or conventions. This tendency was partly reversed by accademisation, when new museums were built in the 1970s and universities expanded faculties in the 1980s. Parallel to that the private TV-channels expanded by streaming 24 hours adds and news accompanied by permanent stock-market-tickers and there was the fall of the iron curtain. Things speeded up and the internet provided digital communication to almost everybody. This led to the desire to set up new limits or strengthen the old ones by moral and religious taboos. Actually even in countries with free access to internet like in Germany limitations of free speech as sanctions on hate-speech are being discussed.

This emphasizes the taming of uncontrolled powers of violence, of overwhelming feelings as well as pain. Could it also mean to a society that it looks for ways to control aggressive youngsters, powerful intellectuals and physical fighters instead of unleashing them? There is an obligation to protect the weak and if we look at the changing of the liminal in Performance Art it finally could mean the compliance of the arts by reconciling struggle, taming violence, preventing fighting and overcoming pain in a classical way. Already now sports, arts and cultural policy provide multiple space and time in media, arenas, theatres, cinemas etc. to compensate for phenomena of the liminoid. The numbers of artists who are pushing the limits are few. They are still acting in countries, where the limits for making money are wide and for artistic expression are tight. A good example is Pjotr Pawlenski in Russia. Actually numerous biennals, documenta and art fairs have been established on the base of what was achieved by the widening of limits and providing open spaces. Now we see a tendency that these multiple spaces are excessively filled with artefacts and material. It seems that the challenge of contemporary artists consists in stuffing up places for exhibitions and gathering matter and things in panic-like efforts

The Permanence of a Construction-Site as Happening

The new project of Rimini Protokoll “Staat 1-4” approaches such implications of overflow which are provided by big construction sites. As Immanuel Schipper presented, there is a trend which can be publicly observed: The generation of problems that are raising costs and cause constant delays, which enable the prolongation of construction sites deploying more and more opportunities to earn money for companies and lawyers. “Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)” is inspired by the logic and the logistics of a mega-construction site forming a role model for a society. The virtual set reminds me of the compartmented structure of a Happening like for example „18 Happenings in 6 Parts”. Instead of using the theatrical frame the project provides guided tours for 5 groups of visitors taking place at the same time in the same space at different parts of the site. http://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/gesellschaftsmodell-grossbaustelle-staat-2
At the same time the “real” reality and real estate like the construction sites at the Berlin Airport (BER), will probably never be finished. Examining this from an artistic point of view this kind of reality appears like a permanent Happening, which is not dropped from the program for years like a successful musical. Is the latest and unexpected version of blurring the boundaries between art and life.

Independent Film in Hamburg

A surprisingly detailed paper was presented by Megan Hoetger from L.A. who researched “underground” film making in Hamburg in 1969 + 1973. She came close to the iconoclastic qualities of that independent experiment, which existed for a very short period of time. The film-maker-cooperative at Hamburg’s Brüderstraße was radically staying away from film- and TV-productions. Its members were also resisting paths which were chosen in local film-festivals in Germany and abroad.

[1] “Martin’s work considers existence with a severe chronic illness within our contemporary situation. Martin suffers from cystic fibrosis and his practice uses physical endurance, hardship and pain based practices to challenge common representations of illness and examine what it means to be born with a life threatening disease. His work is an act of resistance to illness, an attempt at claiming agency and a celebration of his body. Martin loves his body and his work is a form of sufferance in order to survive.” http://www.martinobrienperformance.com/about.html

 

Zusammenstehen statt Schmelzen

Alexandru Pirici interpretiert „Fluids“ in Berlin

Eine Touristengruppe mit Segway-Rollern fährt eine Schleife über den Platz, um bei der nächsten Grünphase die Kreuzung zu queren. Auf ein Zeichen des Tourenführers mischen sich die Elektroroller zwischen die Fahrräder, die gleichfalls bei Grün losfahren. Auf der Fahrbahn anfahrend dröhnen die schweren Dieselmotoren der Busse und eines Baustofflasters. Vor ihnen zieht ein Motorrad davon und an den zum Stehen gekommenen Rechtsabbiegern vorbei. Als beim Umschalten der Ampeln der Lärm für Augenblicke versiegt, wird ein raunendes Summen vernehmbar. Es dringt von einer Gruppe Menschen herüber, die als Block zusammenstehen. An- und abschwellend singen die Freiwilligen, die diese Version der „Fluids“ von Allan Kaprow realisieren, einen Ton. Alexandru Pirici hat sie sich ausgehend von der Beschreibung des 10 Meter langen 3,40 m breiten und 2,60 hohen Gebildes des amerikanischen Künstlers überlegt und am 18. Sept. 2015 auf dem Potsdamer Platz realisiert.

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Kalte Zeiten

Kaprow, der als Protagonist von Happenings bekannt geworden ist und den Begriff erfand, hatte „Fluids“ 1967 anlässlich der Retrospektive seiner Arbeiten im Pasadena Art Museum konzipiert. Sie sollten an 30 verschiedenen Schauplätzen im Großraum Los Angeles aufgebaut werden. Angeblich wurden 15 „Fluids“ aus insgesamt ca. 200 to Wassereisblöcken installiert. (Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, München 2003, S. 191) Am 15. Sept. 2015 wurde eine Version dieser historischen Installation vor der Neuen Nationalgalerie aktualisiert. Nicht abwegig ist es anzunehmen, dass zahlreiche Besucher dieser Installation angesichts ihrer langsam dahinschmelzenden Substanz an den Klimawandel gedacht haben. Vor 48 Jahren war das anders. Damals sprach man vom „Kalten Krieg“ und von „Eiszeit“. Auch konnten Begegnungen zwischen Politikern und Künstlern aus den Ländern des Warschauer Pakts und der NATO „eingefroren“ werden. In den Zeiten des „Eisernen Vorhangs“ ging es außerdem um Territorien, wie sie durch die Eismauern, die praktisch 30 qm begrenzen, dargestellt worden sind. Insofern rekapituliert der Standort, den Pirici für ihre Variante von „Fluids“ wenige Schritte vom ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer entfernt treffend ausgewählt hat, die Geschichte von „Fluids“ und die Zeit der Happenings.

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2015

Tempo

Drückte damals das schmelzende Eis auch die Hoffnung auf ein Ende der politischen Stagnation aus, so ist der relative Stillstand der wirtschaftlichen Verhältnisse seit dem Fall der Mauer einer zunehmenden Dynamik gewichen, so dass heute die schnelle Veränderungen zur sozialen Instabilität führten und die laufende Verflüssigung der Verhältnisse vielen Menschen Angst macht. Der Potsdamer Platz ist ein authentischer Ort dieser Entwicklung. Zur Zeit des Kalten Krieges war er durch die Mauer geteilt und gar nicht mehr als städtebaulicher Kreuzungspunkt zu erkennen, wogegen dort heute die ungezügelte wirtschaftliche Entwicklung einen städtebaulichen Ausdruck findet, der freilich anders als in den rasant wachsenden orientalischen Metropolen von den kulturellen Denkmälern des Kalten Krieges, dem Kulturforum mit Philharmonie, Bibliothek und Neuer Nationalgalerie gesäumt wird.

1970 baute Kaprow übrigens die „Sweet Wall“ nahe der Berliner Mauer aus mit Brot und Marmelade verbundenen Hohlblocksteinen. (Fotos dieses Happenings aus der Sammlung René Block, der dieses Happening organisiert hatte, sind gerade in der NGBK, Chausseestraße 8 noch bis zum 25. Jan. 2016 zu besichtigen.) Auch diese temporäre Installation wurde Happening genannt, weil sie nur errichtet wurde, um anschließend von den Erbauern umgeworfen und weggeräumt zu werden. Vor dem historischen Hintergrund der Happenings von Kaprow führt die Entscheidung der rumänischen Künstlerin Pirici, Menschen zusammenstehen und stundenlang mit einem summenden Gesang ausharren zu lassen, zu einem Bild der Standhaftigkeit von Menschen gegen neue Grenzbefestigungsanlagen.