„No noise is good noise“ George Brecht

Rutherford Chang, „We Buy White Albums“, 2013 bis 2019, Installationsdetail in den Deichtorhallen, Hamburg. Foto: johnicon

An 14 Doormen vorbei

Im Entrée der Ausstellung muss man sich durch ein Spalier aus menschenhohen s/w-Foto-Porträts vom Sven Marquadt arbeiten. Dabei kann man tatsächlich den 14 Türsteher des Berghain ins Gesicht schauen. Die Serie heißt „Rudel1“. Doch ist es auch hyper, nicht zu den Besuchern des Clubs gehört zu haben, wie Philip Topolovac mit „I’ve Never Been to Berghain“ bekennt. Diesen 2004 verschwundenen Ort hat er stattdessen als Korkmodell maßstäblich nachgebaut. Neben der martialischen Kulisse müssen sich die zwei kleinformatigen Papierarbeiten mit Piktogrammen und Wortspielen für Musikliebhaber von Juro Grau durch hintergründigen Witz behaupten. Und schon ist man eingestimmt auf Kleines und Großes, Großes von Kleinen, Kleines von Großen, Großes von Großen usw., und was sonst Besucher*innen beim Gang durch den Parcours erwartet.

Lange Bilder werden Partituren

Defiliert man am zweitlängsten Bild der Ausstellung, einem aktionistischen Gemälde des Musiker-Künstlers Daniel Blumberg vorbei, in der Hunderte von stereotypen Gesichtern auf fünf Feldern zwischen tachistischen Tuscheaufschlägen aus dickem Pinsel oder Tuch mit zerquetschten Pigmenten eingeschrieben sind, so sieht man ein ganz anderes Verhältnis zur Musik und zum Bild, als uns das das grandiose Publikumsgewimmel auf den Fotografien von Andreas Gursky vermittelt, auf denen Tausende Konzertbesucher*innen aus digitalen Fotoversatzstücken versammelt sind. Blumberg saß nicht vor dem Bildschirm und bearbeitete die visuelle Ausbeute eines Konzerts, sondern beginnt hyperdisziplinär selbst mit einer Aktion auf dem Malgrund und nimmt sie als Notation, die er in ein Konzert umwandeln will, das am 25. Mai in der Elbphilharmonie aufgeführt wird. Als GmbH und durch Sponsoring breitet sie sich krakenartig auch über den Kunstbetrieb und alternative Spielorte aus. Wer wie F.S.K. nicht dabei ist, muss das Vernissage-Publikum zerstreuen und zum hundertsten Mal ein olles Klavier kaputt hauen.

Dem Motto von George Brecht zugeneigt, könnte es entspannter sein, die Ausstellung noch bis zum 8. August zu erleben, wenn es nicht so voll ist. So können Besucher*innen eventuell alle Fotos in den handelsüblichen Album- oder Sammlungskartonformaten sehen, die Wolfgang Tillmans uns auf einer Wand locker verteilt anbietet. Gut, dass wir ihn haben, denn wer hätte schon die ganzen Stars über die Jahre für seine Alben selbst fotografieren können. Das Zusammenspiel von Bild und Namen, die man auf einem ausgehängten Blatt überprüfen kann, muss man sich erarbeiten, wenn man nicht als unerschöpflicher Fan die meisten aus dem Effeff kennt.

Um die Ecke kommend, hätte ich einen tiefen wachen Blick aus dunklen Augen nicht erwartet. Sie gehören einer sitzenden Frau, die entspannt ermattet mit verschobenem Mundschutz nach Malerarbeiten mitten unter einer Sammlung von Plattenhüllen sitzt. „Limitation of Life“ bietet plastischen Fotorealismus von Thea Djorojadze einer Collaborateurin von Rosemarie Trockel, mit der sie auch die ausgestellten Cover von teils fiktiven Platten gestaltet hat. Dort monatelang zu sitzen, hielte kein Corgi-Hund, der der Plastik ausgestopft zur Seite sitzt, aus. Wir Lebewesen haben unsere Grenzen.

Zahlen, Bezahlen, Geld verbrennen

Auf einmal hat man das Gefühl, mitten in einem ,Plattenladen‘ zu stehen. Aber hey! Alle Alben, die Rutherford Chang für sein Projekt „We Buy White Albums“ zwischen 2013 und 2019 aufgekauft hat, sind fast weiß (gewesen). Jetzt sind die 1200 „White Albums“ von den Beatles abgeratzt. Hier hat man mal einen anderen Begriff des Cover-Albums. Kaum irgendwo wird das originelle Original von Richard Hamilton wohl noch im frischen Weiß vorhanden sein. Hier jedenfalls kann man sich an den mit unterschiedlichsten Gebrauchsspuren, Zeichnungen, Schmierereien, Fan-Post und Liebeserklärungen versehenen Hüllen erfreuen, die keinesfalls leer sind. Wer will, kann auf drei Plattenspielern in jede Platte reinhören, ihr je eigenes Knacken vernehmen oder feststellen, ob sie hängen bleibt. Diese Platten sind durch ihren Gebrauch gesampelt!

Grenzenlos sollte die Welt der Hippies gewesen sein, und tatsächlich verlangt  ein amerikanischer Überlandbus der 1960er aus der Ferne Aufmerksamkeit. Eins zu eins steht er da, wie in einem Busbahnhof und man muss ein paar Meter dahin laufen. Statt einzusteigen, erfährt man, dass dieses imposante Siebdruckmonstrum 1967 auf Betreiben von Mason Williams hergestellt wurde. Der ließ es nach dem Drucken auf mehreren Bahnen verkleben, um dann die ganze Auflage von 200 Stück mit etlichen Helfern zum Versandt auf einem Parkplatz zusammenzufalten. Die Liebe zu Editionen war damals groß, und auch hier gibt es in jedem Abschnitt der Ausstellung bemerkenswerte Zahlen.

Die ganze Zeit lockt unbestimmt eine aus der Ferne monoton auf- und abschwellende kreischende Stimme, hinter der ein Bass wummert. Dem nachgehend, komme ich am Video trocken drehenden Stoffwalzen einer Autowaschanlage vorbei, zwischen denen eine Frau im weißen Kleid mit roten Blumen tanzt. Ein hinreißendes Bild gibt Bettina Pousttchis „Die Katharina-Show“ aus dem Jahr 2000 ab. Nach dem Ablegen der Kopfhörer kam die Quelle des Nerv tötenden Refrains „I‘m a looser“ von Alton Ellis näher. Er begleitete als Loop das 3D-Video „Nightlife“, das Cyprien Gaillard 2015 an drei Schauplätzen filmte. Im Wüsten- oder Windmaschinenwind von Los Angeles schaukeln monströs invasive Pflanzen, über dem Olympiastadion in Berlin gleitet das Fliegende Auge mit einer Drohne mitten durch ein Feuerwerk und an der Universität in Cleveland steht die Eiche, mit der der Goldmedaillengewinner im Sprint von 1936, Jesse Owens, aus Berlin zurückreiste. Erst am Ende wechselt der Loop ein einziges Mal zum später aufgelegten neuen, ebenfalls scharf gekrähten Refrain: „I’m a leader!“ Das ist die Botschaft an die, die sonst keine Chance haben, sich aber viel Glück mit Kunst, Sport und Musik versprechen. Das ist ein Mythos, den diese Ausstellung gar nicht zu befeuern braucht, denn die Wirklichkeit ist härter. Wenn einer, der das Berghain nachbaut, selbst nicht dort aufkreuzen kann, weil er als Künstler Karriere machen muss. Oder ist es doch härter, im Berghein gewesen zu sein? Kaum jemand wird die Unverfrorenheit aufbringen, Millioneneinnahmen aus dem Musikgeschäft, einfach zu verfeuern, wie es Jimmy Cauty und Bill Drummond am 23. August 1994 mit ihrem Anteil am Verkauf von The KLF taten. Die Aufnahmen des Kaminfeuers ist in der Ausstellung auf dem 9er-Monitorblock zu sehen. Auf dem Bildschirm zuhause unter: https://www.youtube.com/watch?v=M3DQOLnSMNA

Die Stärke des Aquarells

An den „Musical Transcendences“ von Radenko Milak nach Fotos von Musikern, Dokumenten und Instrumenten vorbei kommend, nehme ich eine weitere Spur auf. Unter dutzenden monochromen Aquarellen erkenne ich den von Joseph Beuys in dicken Filz verpackten Flügel und das Bild der Blueslegende Billie Holiday. Die traditionelle künstlerische Technik lässt alle Abbildungen von zumeist bekannten Fotos in hoher Dichte erscheinen, weshalb Brittney Spears und Madonna zu den Postergirls für die Ausstellung avancieren konnten. Trägt so die bildende Kunst weiterhin Musik erfolgreich in die urbane Öffentlichkeit und zeigt so weiterhin ihre Qualität oder inspiriert die Musik die Kunst, wie es bei Britta Thies der Fall ist, die wie viele Künstler*innen einen Teil ihrer Inspiration darin finden. Sie hat die Bänke zum Lungern hergestellt und zum Aufladen von mobilen Devices mit vielen Steckern bestückt, damit eigene Kanäle individuell zur Ausstellung geöffnet werden können. Ein alarmierender Dreiklang im Rhythmus des Tongebers auf einer Intensivstation aus der Black Box in der hintersten Ecke klingt nun eindringlicher und gibt den Takt vor, mit dem Hunderte ikonischer Aufnahmen aus Sci-Fi, Schwarzer Musik, krimineller und kriegerischer Gewalt, Großtechnologie, dem afroamerikanischen Widerstand in den USA, Sex und Drogen projiziert werden. Dieser so fesselnde wie beängstigende Bilderreigen mit Footage aus Medien zeigt an, wie stark visuelle Fokussierungen den Blick auf die Welt verengen können.

Leider oder glücklicherweise haben diese Bilder längere Halbwertszeiten als manche Musik- oder Künstlergruppen. Der Jahrgang einer Flasche mit einem exklusiven Etikett und einem ebenso speziellen Wein in limitierter Edition erinnert an das Ende der Gruppe Tödliche Doris 1987 aus dem Umfeld der Genialen Dilettanten. Das Andenken an den Abschied dieser 1982 in Hamburg gegründeten Gruppe wird für mich der Abschied aus einer Ausstellung mit 300 Werken von 60 Künstlern, die Max Dax kuratierte. Doch einen Moment noch! Die Zählung der Künstler hat nicht nur einen Haken; denn Richard Hamilton und die vielen unbekannten Gestalter und Umgestalter auf seinem Cover wurden nicht mitgezählt. Auch die vielen Copyrightprobleme von Videos und einer Slideshow sollten nicht verschwiegen werden. Geht es hier genauso zu wie im Internet, wo die Missachtung der Kreativen alltäglich ist. Sollte man sie aber als eine neue Vorstellung von Kollektivität betrachten, so müsste das thematisiert werden. Das geschieht mitten in einer Stadt der Händler und Vermarkter von Kultur. Wie soll dort ein Klima der Solidarität und Zusammengehörigkeit geschaffen werden, wenn man nicht einmal über Regeln spricht.

Alle nehmen alles. Eine neue Solidarität?

Ein Blick auf Gegenwart und Zukunft zeigt, dass Künstler aller Sparten nur sporadisch zusammenarbeiten. Noch vor den Künstlern haben schon die Musiker durch das Internet Umsätze verloren, die unmittelbar mit der Verbreitung ihrer kreativen Leistungen zu tun haben. Schon lange stellen sich Fragen der digitalen Einnahmen auch für Künstler, die nicht unmittelbar von den Einkaufstouren der Milliardäre profitieren. Sie benötigen das Internet als Multiplikator und verlieren doch, wenn ihre Werke verbreitet werden, ohne dass sie selbst und/oder die VG-Bild-Kunst Vorteile von zumeist unangefragter Verbreitung haben. Wenn so eine Ausstellung ein Symposium zu solchen Fragen nach sich zöge, wäre sie noch bedeutungsvoller für alle, die sich dem wachsenden Kreis von Kreativen hinzuzählen. Vielleicht sind in der nördlichen Deichtorhalle ja tatsächlich mehr als 1000 Werke von weit über 100 Künstlern ausgestellt, und keiner möchte es merken.

Alle die ihre Lieblingswerke hier nicht finden, sollten sich noch bis zum 8. August selbst in der Ausstellung umsehen und -hören, um selbst etwas zu entdecken. Während der Ausstellung gibt es noch eine Reihe von Veranstaltungen, darunter zahlreiche Konzerte vor Ort im Mai. Für alle, die häufiger mal kurz vorbeischauen und diese Veranstaltungen besuchen möchten, wären günstige Mehrfachkarten ein großer Vorteil!

Sonderveranstaltungen und weitere Infos finden sich unter www.deichtorhallen.de

Doppelte Gegenüberstellung: Aneignung von Dokumentarfotos

(Ein Auszug aus der Broschüre:J.L.Schröder: „Bilder und Gefühle verwerfen“, Hamburg 2018, S. 14-17, 18f) Die Broschüre mit Abschnitten über Künstler und Katastrophen, Preisverleihung, Ikonoklasmus, Kunstverweigerung etc. (44 Seiten) kann man in der Ausstellung in der Akademie der Künste in Hamburg für 8€ abholen oder für 10€ bei mir bestellen (inkl. Versandt).

Ein Foto aus Reggio di Calabria (1970) zeigt Demonstranten, die über die Rücken von Carabinieri hinweg fotografiert worden sind, die jenen entgegentreten. Dieses Bild wurde auf einer Doppelseite[1] mit der Verleihungsurkunde des Lichtwark-Stipendiums an Rühmann konfrontiert. Das Lay-Out erzeugt somit eine doppelte Gegenüberstellung, bei der auch die Begründung der Jury auf den Prüfstand gestellt wird; denn die „zugesprochene Förderung“ bekam der Künstler ja für „seine rückhaltlosen Versuche“, „eine Antwort auf die Frage nach der heutigen Funktion der Malerei zu suchen.“ Der Blick auf beide Seiten verdeutlicht spontan, dass die Dokumentarfotografie die Stelle von Malerei einnimmt und die Fotografie wiederum mit Schriftstücken konfrontiert wird. In der Urkunde heißt es weiter: „Seine Experimente, die immer wieder Grenzsituationen des anschaulichen Zeichnens riskieren, kommen aus einer innersten Zone des Zweifels an allen gängigen Formen der Mitteilung.“[2] Die Aussage der Jury, die Rühmann den Preis zuerkannte, scheint also durchaus dem Werk Rühmanns zu entsprechen. Auch wenn Floskeln wie „rückhaltlos“ vielleicht übertrieben erscheinen, so ist den Juroren vielleicht nicht entgangen, dass Rühmann nicht auf die übliche Unterstützung von Familienmitgliedern, Freunden, Geschäftsfreunden und Bekannten zählen konnte.

Abb. 1 Dieter Rühmann, Doppelseite aus: „macht die Kunst kaputt – es lebe die Kunst“, S. 192/3

Um Missverständnisse zu vermeiden, muss aber fairerweise hinzugefügt werden, dass das Buch zehn Jahre nach der Preisverleihung gestaltet wurde. Die damals ausgestellten, auf Fotografien basierenden Bilder wiesen nämlich rudimentäre Übermalungen von Fotos und Schriftzüge mit Kreide auf dem zum Teil mit Tafelfarbe bemalten Malgrund auf[3], worauf sich die Aussagen zur Einbeziehung von Malerei und Zeichnung in der Begründung der Jury beziehen.

Weniger Gedanken hatten sich die Kunstsachverständigen dagegen über die Inhalte gemacht, mit denen sich Rühmann auseinandergesetzt hatte und die sein Engagement als Künstler bestimmte.  Diese lassen sich anhand der zahlreichen Dokumenten ablesen, die den zeitgeschichtlichen Kontext aufrufen. Sie bringen sowohl die Zeit nach 1968 wie auch das Leben und Schaffen des Künstlers in einen operativen Zusammenhang und mischen es mit Werken seiner Freunde sowie Fotos von Demonstrationen, Geiselnahmen, Verhaftungen, Hinrichtungen und Bombardements. Darunter befinden sich auch die ikonischen Fotos der vor Napalm flüchtenden nackten Kinder und der Erschießung des Viet-kong-Offiziers durch General Nguy-en Ngoc Loan.

Die Konfrontation der Werke Rühmanns mit diesem Material macht aber auch erkenntlich, dass man sich Rühmann nicht als aggressiven Kämpfer oder extrovertierten Rebellen vorzustellen hat, vielmehr ist er ein sanfter, eher zurückgenommener Mensch, dem die Ausübung von Gewalt fernliegt. Dieser Haltung, in der sich Distanz und Nähe sowie Empathie und Egozentrik neutralisieren, entspricht das Lay-Out des Buches, in dem die Fotos von politischer, kriegerischer und krimineller Gewalt Kunstwerken gegenübergestellt werden, wobei die Urheberschaft zunächst in den Hintergrund rückt.[4] Dazwischen fallen mit Kreide beschriftete Tafeln auf, die den Seiten eines Tagebuchs ähneln, es aber durch das Weiß auf Schwarz verfremden. Man liest Eintragungen wie: „Das ist meine Verzweiflung am frühen Morgen. Ich habe verdammte Sehnsucht. Erinnere mich daran.“[5] Die dort auftauchenden Bilder nehmen in diesem Kontext eine Stellvertreterfunktion ein, die suggeriert, dass die abgebildeten Personen dem Künstler die Protesthandlungen abnehmen oder ihn seine Verbundenheit antizipierend vertreten haben. Weil Extrovertiertheit und physische Präsenz – abgesehen von seinen künstlerischen Interventionen – nicht seinen Alltag bestimmen und er seinen Beruf üblicherweise in Studios und privaten Räumen ausübt, treten Bilder, Texttafeln und notierte Verlautbarungen an die Stelle aktiver Protesthandlungen, die, bildlich und als Textfragmente inhaltlich geronnen, die Zeit überdauern. Die Kunstwerke schließen den Protest in sich ein, weshalb auch jede Ausstellung der entsprechenden Bilder mit dem darin eingegangenen Protest aufgeladen ist. Die Bilder und deren Veröffentlichungen befördern neben der Kommunikation auch Adrenalin und lösen besonders für den Künstler selbst den gespeicherten Krawall wieder aus, so dass jede Ausstellung wie auch damals in der Kunsthalle zu einem Akt des inneren Aufruhrs wird, der sich vor dem Publikum entlädt. Das psychophysische Engagement überlagert die Präsenz der Bilder, die im Museum mit einer Öffentlichkeit konfrontiert werden, die im Studio abwesend ist.

Auf diese Weise wird die nicht immer mögliche direkte physische Reaktion auf gesellschaftliche und politische Ereignisse, von denen Rühmann wie die meisten Menschen auch durch Massenmedien erfahren, zum Teil der Bedingungen des heutigen Lebens, deren Folgen das Engagement von Rühmann in die Kunstöffentlichkeit getragen hat. Wie alle Zeitgenossen muss auch Rühmann die Herausforderungen der politischen und sozialen Ereignisse sowie die dadurch ausgelösten Ängste und den Zorn kompensieren. So suchte er als Künstler nach Möglichkeiten, seine Bilder emotional aufzuladen und liefert schließlich selbst den Beleg für die „gängigen Formen der Mitteilung“[6], um die es aus der Sicht der Jury ging. Für die Serie „Reaktivierung 001 – 004“ verwendete er 1973 das Foto eines Steinewerfers während der Straßenschlachten in Paris 1968 in viermaliger Wiederholung  und konfrontierte jede Abbildung des Fotos mit einem beschriebenen und durchnummerierten Stein darunter. In dieser Form stellte er beide Elemente einem Bild aus seiner Serie von Tafelaufschrieben gegenüber, unter dem eine Hand in das Foto hineinreicht, die jeweils den nebenan im Original zu sehenden Stein hält, der mit „001“ bis „004“ und Notizen beschriftet ist.[7] Spontan könnte man annehmen, dass der Künstler möchte, dass seine Bilder einschlagen wie geschleuderte Steine. Da er sich aber damit auf die Seite der Gewaltausübung brächte, die er gleichzeitig anprangert, liegen die Verhältnisse komplizierter und die Verarbeitung der täglich mit den Medien eintreffenden Bilder erzeugen im Studio ein doppeltes Dilemma zwischen Aktionswunsch und Aktionsmöglichkeit.

Abb. 2 aus: Dieter Rühmann, aus: „macht die Kunst kaputt – es lebe die Kunst“, S. 148/9

Die Montage des Buchs zeigt sein Schwanken zwischen Tat und Unterlassung und tendiert insgesamt auch durch die Schwarz-Weiß-Ästhetik eher dazu, die Ereignissen herauszustellen, die der Künstler nicht persönlich erlebt hat, die aber einen inneren Aufruhr ausgelöst haben. Er war in Paris nicht dabei und dennoch möchte er sich in die Nähe dieser Revolte bringen und verlängert die betreffenden Bilder durch Einbeziehung in eines seiner Werke bis in seine Gegenwart. Darauf verweist der Titel „Reaktiverung 001 – 004“, den die Serie trägt. Die begleitenden mit Kreide geschriebenen Einträge auf der tafelschwarz gestrichenen Hartfaserplatte beklagen das Ende der sozialen Utopie, die den Einzelnen nach dem Ende des kollektiven Handelns wieder auf sich selbst zurückfallen ließ: „Das sind meine Erinnerungen, meine Einsamkeit, meine Moral, meine Erregungen, meine Pflicht und meine Liebe. Woran sollst du mich erinnern?“[8] Er wendet sich an eine unbestimmte Person, die auch er selbst sein kann und setzt seine Kunst als Kommunikationsmittel ein, wie es der damaligen Auffassung der Kunst als Visuelle Kommunikation entsprach. Mit dieser Wendung erlaubt er es, die Betroffenheit, also die emotionale Identifikation mit den Ereignissen zu objektivieren.

(…)

Rühmann drehte 1969 zwei Filme. In „A“ mit Gerd Meißner (16mm, 7 min.) rollen Kugeln in offene Münder und werden wieder ausgestoßen.[1] Den zweiten Film „Liebe Zuschauer“ (16mm, Tonfilm, 20 min.) realisierte Rühmann mit Tomislav Laux. Die Kamera beobachtet ein heterosexuelles Paar, das sich bis auf Gasmasken entkleidet, auf einer Matratze wälzt, zärtlich berührt und liebt. Die beiden Filmemacher spitzen Sexualität unter einem anderen Aspekt zu als Stan Brakhage in seinem ebenfalls 1969 herausgebrachten Film „Lovemaking“, der freie Liebe propagiert[2]. Der amerikanische Regisseur gibt dem Film einen sachlichen Titel, doch sucht er nach Möglichkeiten, das Unterbewusste an die Oberfläche zu bringen, indem er die Natürlichkeit der Sexualität herausstellt, die sich nicht nur zwischen Menschen jeden Alters und Geschlechts, sondern auch zwischen Tieren ereignet.

Im Gegensatz dazu sind Rühmann und Laux nicht an einer „natürlichen“ Sexualität interessiert. Alles, was der Film zeigt, ist kulturell geformt oder auch deformiert. Beide Akteure wie auch die Zuschauer, die ja im Titel direkt angesprochen werden, sind durch die Verhüllung des Kopfes von den wichtigen Signalen der sinnlichen Wahrnehmung abgeschnitten. Der Film bekam mit „Liebe Zuschauer“ einen sachlichen aber auch zweideutigen Titel aus zwei Substantiven: Liebe und Zuschauer. Ohne Interpunktion lässt sich daraus keine Anrede bilden, so dass hier Liebe und Zuschauer nebeneinander stehen. Es geht also um die Liebe und die Zuschauer. Schon der unbelichtete Film, der am Anfang ein weißes Bild zeigt, irritiert und weckt Erwartungen, die erst nach ca. 2 Min. erfüllt werden, wenn man ohne Vorspann unvermittelt ein Paar beim Sex erblickt, was damals gegen alle Konventionen verstieß; denn selbst die in Westdeutschland noch verbotenen Pornofilme begannen mit rudimentären Ritualen der Begegnung, ehe sich die Akteure explizitem Sex zuwandten. Vielleicht schlägt sich ein Rest konventionelle Annäherung auf der Tonspur nieder, auf der eine Tanzkapelle zu hören ist, die einen Cha-Cha-Cha zu dem minutenlang auf dem Kopf stehenden Bild spielt. Die Musik unterstreicht diese Situation, die zwischen Schwere und ihrer Überwindung im All angesiedelt ist, und die Gasmasken machen die Darsteller auf bizarre Weise fremd, zumal sie die Masken in den Austausch von Zärtlichkeiten einbeziehen, was sie wie künstliche oder extraterrestrische Wesen aussehen lässt.

Dieter Rühmann: Liebe Zuschauer, 1968, 16mm, Filmstill

Erst nach einigen Minuten wird das Bild gedreht, so dass es der Schwerkraft entspricht. Gegen Ende hört man einen Kurzdialog aus dem Off: „Frau Reinick! – Augenblick!“ ruft eine Männerstimme. Dann brüllt eine andere Stimme: „Ihr fragt, was soll dieser Film darstellen, statt euch selbst zu fragen, was ihr darstellt.“ Vielleicht ist dieser harsche Ton ein Beispiel für die „Aggressivität“, die Wyborny meinte, denn hier wird ein lauter Ton angeschlagen, um die Zuschauer direkt anzusprechen und damit aus ihrer Lethargie in ihren Sitzreihen zu reißen, wo sie sich in der gewohnten Dunkelheit in Sicherheit wähnen. Danach folgt ein Abspann in Form eines auf eine DIN A4 Seite getippten Statements, das vor das Kameraobjektiv geschoben wurde.

Die vorgetragenen Konventionsbrüche und die Agitation des Publikums schafften ein klammes Gefühl, das mit Rauchen, Trinken und Gesprächen gemildert wurde. Im Film selbst verhinderten die verborgenen Gesichter, dass Emotionen gelesen und Laute gehört werden konnten. Wenn man sich das vergegenwärtigt, wird offenbar, dass das Paar zusätzlich von allen olfaktorischen Informationen, die durch Nase und Mund aufgenommen werden, abgeschnitten ist. Die Augenfenster beeinträchtigen außerdem den Gesichtssinn und der Gummi der Maske riecht nicht nur schlecht, sondern schränkt auch das Gehör ein. So werden die Liebenden nicht nur anonymisiert, sondern auch von ihren im Gesicht gelegenen Sensorien getrennt, so dass Hautkontakt ausschließlich vom Kinn an abwärts möglich ist. Das hat semantische Konsequenzen insofern als der Annahme entsprochen wird, dass Sexualität  den Menschen ‚auf das Körperliche reduzieren würde‘, weil die im Kopf befindlichen Sinnesorgane und das Gehirn paradoxerweise sprachlich nicht dem Körper zugerechnet werden, wenn von Körper und Geist oder Geist und Sinnlichkeit die Rede ist. Dieses semantische Dilemma ist typisch für diese Zeit, in der man anstrebte, die Trennung von Kopf und Hand aufzuheben. Sie wird nicht zuletzt auch dadurch in den Fokus gerückt, dass die Liebesszenen im ersten Drittel buchstäblich Kopf stehen aber auch den Anschein von Schwerelosigkeit erwecken. Das mildert auch den Eindruck einer von der Sinnlichkeit abgekoppelten, mechanischen Sexualität, die sonst den Zuschauern das Gefühl vermittelt hätte, Voyeure zu sein. Die gegebenen filmischen Mittel erzeugen dagegen aber eine utopische Vorstellung von der Überwindung der kulturellen Durchlass-beschränkungen zwischen Körper und Kopf. Durch Negation wurde also ein Zugang zur Sinnlichkeit ermöglicht, der den damals meist verklemmten und unbeholfenen Umgang mit Gefühlen lockerte.

[1] Rühmann, Dieter … macht die Kunst kaptt – es lebe die Kunst … . – Issendorf : Järnecke, 1984, S. 192/3

[2] Ebd., S. 193

[3] Wie die Abbildung auf ebd., S. 137

[4] Diese Aussage betrifft das Lay-out, in dem die Bilder ohne Angaben montiert sind. Die Quellen werden dagegen nicht verschwiegen, sondern in einem Inhaltsverzeichnis am Ende des Buches nach Seiten geordnet aufgeführt. (Rühmann, 1984), S. 253-256

[5] (Rühmann, 1984), S. 148

[6] Begründung der Jury, ebd., S. 193

[7] Ebd., 148ff

[8] Ebd., 154
(…)

[1] Programmheft der Filmschau im Kino im Sprengel, hg. von Peter Hoffmann, 25.9.-5.12.2015, pdf

[2] Stan Brakhage, Lovemaking, in: (Kultermann, 1971), Ill. 121. Dort wird der Film 1967 datiert, in anderen, später angelegten Filmografien jedoch 1969. Es ist unerheblich, ob Rühmann/Laux den Film kannten, denn die Quellen (Hippiekultur, das Monterey-Festival, Woodstock und der Traum von Freier Liebe) waren allgemein bekannt. Wichtig ist allerdings, dass Rühmann/Laux im Gegensatz zu Brakhage einen kulturkritischen Ansatz verfolgen.

Klingen in Hüllen

Die Ankündigung der „performativen Skulptur“ „in-visible“ von Florian Huber als 2. Akt des Stückes „Regeldrama“ ruft die KATASTASE auf, die im antiken griechischen Drama die Bewusstwerdung der Protagonisten bezeichnet, die aufbegehrend zur Erkenntnis kommen und sich schließlich handelnd wiederfinden. So begegnen sie dem Verlust des kindlichen Einvernehmens mit dem Leben, denn als Heranwachsende müssen sie sich nunmehr Tod und Gewalt stellen und erfahren Schmerzen.

Huber hat ein Bild dafür gefunden, das er als Installation mit 30 Meter S-Draht aufgebaut hat. Seine Aktion verändert diesen mit messerscharfen Klingen bewehrten spiralig ausziehbaren Draht mit Schafsdarm. Geduldig schiebt er Meter um Meter des für die Wurstherstellung gereinigten Dünndarms zunächst auf ein Stück Schlauch, mit dessen Hilfe er das zarte aber unglaublich feste Gewebe schließlich um den klingenbewehrten Draht zieht.

Florian Huber, KATASTASE (performative Skulptur), 2025 Kunst und Kultur e.V., Hamburg, Foto: johnicon @VG Bild-Kunst

Martialische Sperren

Durch die Aktion wird der Draht umhüllt und seine Gefährlichkeit zumindest symbolisch reduziert. Das ist der Befund, doch hat das Stück heute weitgehende Implikationen, weil es in einem Europa spielt, in dem die einige Jahrzehnte offenen Grenzen im vermehrten Maß wieder geschlossen werden. Wer an den messerscharfen Klingen hängen bleibt, riskiert beim Versuch, solche martialischen Absperrung zu überwinden, sich im federnden Draht immer stärker zu verheddern und schließlich zu verbluten.

Der Logik des Stückes und der Technologie des Drahts folgend umhüllt der Darm die scharfen Zacken real und dämpft zumindest symbolisch ihre Schärfe. Doch lässt sich im Draht, der mit dem transparenten tierischen Gewebe symbolisch-wahnwitzig gebändig wird, im Hinblick auf die Menschen und Gemeinwesen, die sich dahinter verschanzen, auch eine weitere Aussage lesen. Es zeigt sich das Selbstbild derjenigen, die sich einzäunen. Die Einheger, die sich von Schmerz, ja sogar von Unbequemlichkeit, befreien wollen, vermeiden es offensichtlich, sich der Katastase zu stellen und versuchen so das eigene Erwachsenwerden zu umgehen. Daher muss denen, die sich hinter Drahtverhauen verschanzen, eine narzisstische Störung unterstellt werden. Sie wollen ihrer kindlichen Bruchlosigkeit nicht entwachsen und versuchen diejenigen aufzuhalten, die erwachsen genug sind, um zu handeln. Diese versuchen unerträglichen Verhältnissen zu entkommen und werfen sich wie die jungen Helden des antiken Dramas in die Welt. Auf ihrer Flucht haben sie schon bewiesen, dass sie mit solchen Hindernissen fertig werden können, was natürlich die Furcht derer, die sich in ihrer EXPOSITION (1. Akt von „Regeldrama“) einigeln, noch erhöht.

Zeitdimension der Aktion

Das Besondere des Stücks ist die Dauer der Handlung, die sich in ihrer handwerklichen Einfachheit dem Zuschauenden schon nach einem Durchgang erschlossen hat. Dennoch blieben die meisten Anwesenden, allein um dem Künstler beizustehen oder um den Fortgang der Aktion zu gewährleisten. Eine stille Anfeuerung vielleicht für eine Fortsetzung

Florian Huber, KATASTASE (performative Skulptur), 2025 Kunst und Kultur e.V., Hamburg, Foto: johnicon @VG Bild-Kunst

des Tuns, das man langweilig nennen könnte, wenn es nicht eine Aufgabe enthalten hätte, wie z.B. über das Gesehene nachzudenken. Dabei ist die Zeit nicht unerheblich, die uns im Alltag offensichtlich so oft fehlt und der man auch im Theater kaum begegnet, wo es immer Schlag auf Schlag gehen muss. Hier wird eben die Symbolik, von der man meint, dass sie eine Kurzform ist, zu einer Langform: Die Durchführung des Symbols – also des Drahts durch den Darm – erwies sich als ausgesprochen langwierig und veränderte so auch den Symbolbegriff hin zum Erkenntnisakt, der wiederum in der Vorstellung einer konkreten leiblichen Handlung einen äußerst scharfen Schmerz evozieren könnte.

Trotz allem leben wir heute nicht mehr in der Antike und wollen das Schauspiel der Folter nicht geboten bekommen, weshalb Künstler Möglichkeiten wie diese Performance ersinnen. Sie arbeiten daran, wenn auch symbolisch, den Schmerz zu bezwingen. Doch ist das nur ein weiterer Hinweis darauf, dass er uns in welcher Weise auch immer, weiter quält.

Die Aktion fand statt am 13. 10. 2017 im 2025 Kunst und Kultur e.V. Ruhrstrasse 88  (Im Hinterhof, gr. zweispurige Toreinfahrt, bis zum Ende durchgehen), 22761 Hamburg.      Dort wird am 20.10. von 20-23 h Retardation, der 3. Teil des Stückes „Regeldrama“ (in 4 Teilen) gezeigt.