Die abgeschnittene Linie des Lebens oder: … „und wenn du fertig bist, hat der Fluß sein Bett verlagert.“

Zur Uraufführung von „Bazon – Ernste Scherze. Ein Dokupsychomusikfilm
von Peter Sempel“ im Metropolis in Hamburg am 3. Oktober 2016

Mit Filmen über Kazuo Ohno, Lemmy Kilmister, Peter Brötzmann und Jonas Mekas kann man in Peter Sempel schon einen Spezialisten für biografische Filme über die Alten und (Un-)Weisen sehen, ohne ihn deshalb sofort einen Filmbiografen nennen zu müsse n. Schließlich hat er auch Filme über jüngere Künstlern wie Nina Hagen, Blixa Bargeld und Jonathan Meese gedreht. Sempels Präferenz für Musik liegt auf der Hand, doch im Lauf dieser Filme offenbart sich auch sein forschendes Interesse an wiederkehrenden Konstellationen, in die seine Protagonisten verwickelt sind. Oft wirken starke Mütter im Hintergrund oder sagenhafte Figuren wie Parzival etc. sind Vor- und Spiegelbilder. Es lassen sich personenübergreifende Muster erkennen. Der Untertitel seines neuesten Films über Bazon Brock „Ein Dokupsychomusikfilm“ sagt solche Zusammenhänge an.

Zum Ende der knapp zwei Stunden langen Fassung, die das Metropolis in Hamburg zur Welturaufführung während des Filmfestes Hamburg zeigte, sieht man die Rekonstruktion der „Unendlichen Linie“, mit der Bazon Brock und Friedensreich Hundertwasser das Happening schon 1959 nach Westdeutschland gebracht haben. In Hamburg fiel dieses Geschenk in die akademische Wüste und blieb ohne Strahlkraft. Hundertwasser wurde postwendend von der Hochschule entfernt, die diesen Meilenstein der Kunstgeschichte nicht aufstellen wollte. Man weigerte sich, zum Hort der Avantgarde zu werden, und boykottierte nebenbei auch den Anfang einer möglichen Künstlerkarriere des Bazon Brock. So blieb er anders als die Protagonisten der spartenübergreifenden Kunst in Amerika und Frankreich in eine Außenseiterrolle zwischen Philosophie und Kunst gespannt und musste im Schatten seiner Kollegen Joseph Beuys und Wolf Vostell stehen. Nun ist es ein Verdienst von Peter Sempel, dass er Hinweise auf wunde Punkte im Leben seines Protagonisten nicht nur im Gespräch aus ihm herausgeholt hat. Dazu setzt Sempel sein Stilmittel der unvermittelten Schnitte ein und legt damit frei, was den Wortschwall des dauerdozierenden Selbstdarstellers Brock antreiben mag. Ob der Film seinen Protagonisten wirklich entzaubern kann? Daran wurden schon in der Diskussion nach dem Film Zweifel angemeldet. Doch glücklicherweise breitet der Film keine intellektuellen Debatten aus. In diesem Sinn dokumentarisch zu sein, ist nicht der Anspruch von Sempel, auch wenn die Kamera in volle Säle blickt, in denen andere Emeritierte wie Peter Sloterdijk dozieren und Direktoren wie Peter Weibel schmunzeln. Im Umfeld derartiger Veranstaltungen laufen dem Regisseur Personen vor die Kamera, die ihre Starredner anhimmeln, womit das Gegenteil kritischer Debatten geboten wird. Peter Sempel benutzt auch solche Affirmation und konterkariert diese mit einem ihm eher zusagenden Verfahren, das die Monologe mit schnellen Schnitten von visuellen Widersprüchen und musikalisch vorgetragener Gegenrede unterbricht. Er nähert sich verschiedensten Kunstwerken und besucht Räume der Kunst, in denen er Künstler zu Wort kommen lässt und Sänger beobachtet. Diese Clips und oft sogar Ultrakurzclips kondensieren und multiplizieren Aktionen und Bilder, die Sempel als Kommentare montiert.  Die längeren Aufzeichnungen von Gesängen der Goldenen Zitronen, Blixa Bargeld oder der Sopranistin Louisa Islam-Ali-Zade Maier betten die Äußerungen des Theoretikers Brock in  gesungene Sprache ein, von der er an einer Stelle des Film sagt, dass die Oper erst ohne den Gesang schön wäre. Damit gibt er sich als ein Nachfolger des Odysseus zu erkennen, der sich an die Akademie fesseln ließ, wie der antike Held an den Masten seines Schiffs, um sich nicht vom Gesang der Sirenen betören zu lassen, wobei er den Matrosen die Ohren verschließen ließ, damit sie Kurs halten.

Still aus Collagetext im Collagefilm, courtesy P. Sempel

Bazon Brock vor einem Gemälde von Thomas Wachweger, Still aus Collagetext im Collagefilm, Courtesy P. Sempel

Die Arbeiten der zahlreichen Künstler schaffen ein filmisches Umfeld, das Brock in die Kunst einwebt, die infolge von Neo-DADA entstanden ist und in den 1960er Jahren der Zeitgeist bestimmte, in den Brock als Denker und Künstler hineinsozialisiert wurde. Die daraus bezogenen Anregungen haben heute viele Gebiete der Kunst und des öffentlichen Lebens befruchtet, auch wenn Neo-DADA in Europa gegen institutionelle Widerstände durchgefochten werden musste, so dass sich Brock anders als seine amerikanische Kollegen wie Allan Kaprow nicht auf allen Feldern weiterentwickeln konnte, sondern sich schließlich als Professor für Ästhetik in Wuppertal für das Wort entschieden hat. Seine künstlerische Begabung ermöglichte ihm allerdings als Kunstvermittler etwa als Begründer der Besucherschule auf den documenta-Ausstellungen in Kassel erfolgreich zu sein. So saß der Vielredner (grch.: Bazon) nicht mehr so hart zwischen allen Stühlen. Sein Streben nach Geborgenheit in der kalten und grausamen Welt, in die er 1936 hineingeboren wurde, fand einen Ort. Ebenso aufschlussreich wie anrührend sind deshalb die Bilder, die Brock in seiner Wohnung dem Kameraauge präsentierte. Da ist zunächst die schwarz-weiß-Fotografie einer Eisbärin, die ihr Neugeborenes zärtlich in den Pranken hält. Ein Bild der „Empathie“, wie er sagt. Diese wurde seiner Generation aberzogen, die inmitten der selbsternannten „Herrenrasse“ aufwuchs, die geradewegs in den Krieg marschierte und die Welt in Brand setzte. Doch offensichtlich hat seine Mutter die empfindsamen Seiten ihres Sohnes vor schweren Frostschäden bewahren können. Darüber gibt ein zweites Bild, ein Gemälde von Thomas Wachweger, Aufschluss, das eine Frau mit einem Baby im Arm zeigt, die von einem hinter ihr stehenden menschengroßen aber dünnen Adler umfangen wird. Brock erwähnt vor diesem Bild, dass er schon mit 9 Monaten laufen und reden konnte, was ihn auch dazu bringt, von „hochentwickelten Individuen“ zu reden, die keine Angst mehr vor den Besseren haben müssten und den „Kern der Gesellschaft“ bilden. Dieser Lobpreis der Eliten hat auch ihn, wie er dann mit Nietzsche konstatiert, in die Einsamkeit getrieben. Hier ist der Wendepunkt im Film, den Sempel mit dem Gesang der Goldenen Zitronen bei einem Konzert im Gängeviertel konterkariert.

Collatetext (Transscript) des Films von Peter Sempel, 34 min

Collagetext (Transscript) des Films von Peter Sempel, 34. min

Immer wieder lässt Sempel Dada und Punk auf Wagner und den Operngesang prallen, so dass sich das innere Drama des Protagonisten Brock entfaltet, das im Brennspiegel der Kunst fokussiert wird, bis es zwickt. So fügt er sich in die Reihe der anderen Protagonisten Sempels ein, die der Herausforderung des Lebens mit Butho, Gitarrenriffs, Percussion, Gesang, Filmkameras, Gemälden und Installationen begegnen. Brock entschied sich für den Namen Bazon und folglich für das Wort, das ihm das Leben im Limbo, also der Vorhölle, erträglich machen kann – wenn er sich anstrengt.

Nicht zu vergessen sind die immer wieder hineingeschnittenen Aufnahmen von Tieren – überwiegend Vögel -, die in Freiheit und Gefangenschaft auf vier Kontinenten aufgenommen worden sind. Ein weiteres Kapitel der Filmmontagekunst von Peter Sempel, das noch zu erörtern ist …

Johannes Lothar Schröder

Rethinking 100 Years of “KARAWANE”

– Ein vergleichbarer Text in deutscher Sprache wurde in diesem Blog im Februar 2016 zum 100-sten Jahrestag der Gründung des Cabaret Voltairs in Zürich veröffentlicht

– In an other text in this blog, which is about the first opening of the Cabaret Voltaire 100 years ago please find diagrams of the photographs.

Compared to the reproduction of a lost painting of Marcel Janko, which shows the interior of the Cabaret Voltaire in Zurich, some contradictions appear in the photograph of Hugo Ball receiting his poem „KARAWANE“ June 23rd 1916. So there is the question: What happened in the bar of immigrants around 1916 and what did artists when not performing there to make a living in these hard times and to reflect the situation?

Hugo Ball receiting KARAWANE, 1916 (Quelle: H. Ball 1886 - 1986, Leben und Werk, Pirmasens 1986, S. 134

Hugo Ball receiting KARAWANE, 1916 (Quelle: H. Ball 1886 – 1986, Leben und Werk, Pirmasens 1986, S. 134

Examining the picture of Ball in his costume we see the artist-philosopher standing on a carpet in front of an undefined wall. It looks provisory and seems to be from cardboard or plywood. The curtain could deliver an argument for the stage but one of the manuscripts on the music-stands is overlapping it. This set does not look very much like a stage in a cabaret. They might have had curtains but why they cover the wall and not the stage?

Curtains in front of walls however are common however in a photographer’s studios. And there is an other photograph showing Ball in front of a camera around the same year 1916. The picture shows the same carpet; however a person appears in a different costume, which hides the face under a roll of paper with a huge “13” replacing the artist’s eyes, ears, nose and mouth. That makes him silent, without sight, dump and unable to scent. Topped with a top hat it represents a bourgeois, not being able to open his senses for the situation full of innovations and chances.

Hugo Ball receiting KARAWANE, 1916 (Quelle: Raoul Schrott, Dada 15/25, Köln 2004, S. 54)

Hugo Ball and the poem 3 PIFFALAMOZZA, 1916 (Quelle: Raoul Schrott, Dada 15/25, Köln 2004, S. 54)

The way of innovations

The print of a lost painting of Marcel Janco of 1916 illuminates the space and the atmosphere of the cafe-house of immigrants with Dadaists performing simultaneously on a stage in front of a small space filled with an audience. Being aware of such a stuffed place filled with a smoking audience one may ask, where a photographer with a tripod would find a stand with a clear view during a life act on a small stage?

Marcel Janco, lost painting of 1916 (Vorlage: Arche Literatur Kalender 16.-22. Feb. 2015)

Marcel Janco, lost painting of 1916 (Vorlage: Arche Literatur Kalender 16.-22. Feb. 2015)

The observations on documents about the happenings at the Cabaret Voltaire and their quotations over the decades may lead an observer to reflect about the character of innovations. It is remarkable that artists and researchers have been attracted by the few documents about DADA, especially the rare ones about the short Dadaistic career of Hugo Ball, without getting to the crucial point in it. Finding the Dadaistic spirit in chaos and anarchy they missed the nicely planned and directed part in the work of Hugo Ball who was smart enough to consult a professional photographer and rehearse the visual part his performance in a studio. As the former dramaturge of the Münchner Kammerspiele he and the unknown photographer were able to produce the relicts of his ephemeral artworks for the future and to create an image, which looks as if it was taken during the performance. Taking that in account it becomes obvious that it is the un-authenticity of the image, which is responsible for the iconic character it has for DADA until today.

Also the typography of the poem is famous, although it is not fully understood either. We do not know how it sounded in 1916, but nevertheless we call it a sound-poem, as the changing characters give the idea of changing voices. Both of the documents of “Karawane” are “simulacra” in the sense of the “hyperreal” (Jean Baudrillard) that transform the surface of everything undergoing the forces of human activity, which is making everything “real” but destroying its metaphysics.

To give an idea of that, which is destroyed, Ball described the performance very precisely in his diary and called the reading of the poem different from the visual appeal of the poem in various types, monotonous like a litany. By giving it the appeal of a collective ritual in catholic churches Ball recalls the metaphysics missing today. It was not only stress that motivated him to leave the dada-circus shortly after that and beginning his study in the history of Christianity. He was a taboo-breaker and doing so he became aware of his time, which makes him after Nietzsche a protagonist in reflecting the trap of modernity.

Referring to Balls writings on “Byzantine Christianity” in the 1920s it becomes evident, that the “Bishop” of “Karawane” was one of the “saints” and “heroes” Ball was searching for, when he looked for ways to tame the “furor teutonicus”, which he was part of. At the outbreak of World War I Ball himself tried to become a volunteer in August 1914 however he was invalided out for health reason. It becomes obvious, that he worked on the attraction of war, which got so many artists and intellectuals, who – surprising to us –  were excited by war and numerously volunteered. Being aware of this we can see that Balls turn to his two iconic figures is a way to seek distance from that involvement and find out way he became intrigued into this. In unpublished notes for a foreword to his polemic “Kritik der deutschen Intelligenz” (Bern 1919) Ball states, that the gesture of “the rebel disappeared”. Instead he was seeking for ways to integrate the desire of the savage, which was another big issue of DADA.

@ Johannes Lothar Schröder

Ein Lokal der Emigranten

100 Jahre Cabaret Voltaire

(find an english text with the following illustrations and in the contribution on Hugo Ball from June 2016)

Wegen großer Nachfrage hatte das Künstlerlokal Cabaret Voltaire seit Freitag vor 100 Jahren täglich außer freitags geöffnet. Doch Vorsicht die Marke „DADA“ ließ sich die Parfümerie- und Seifenfabrik Bergmann & Co. schon 1906 beim Eidgenössischen Amt für geistiges Eigentum schützen. Wo also schlug die Geburtsstunde von DADA wirklich? Man weiß es nicht genau und deshalb hat man sie auf ein Datum gelegt, das die Entrepreneurship des Ereignisses feiert: Die Gründung einer Künstlerkneipe. Das versteht jeder, denn heute ist es nicht anders, wenn Emigranten nach einer Existenzmöglichkeit suchen. Man macht ein Lokal auf, und hofft mit Gastfreundschaft zu punkten. Und für die Emigranten selbst war es damals wichtig sich auszutauschen. Das gilt selbst heute, wo die sozialen Medien dieses leisten. Doch schenkt ein Smartphone an kalten Tagen kein Heißgetränk aus und selbst in Zeiten des WWW bringt es oft mehr, sich persönlich kennenzulernen, wenn man weiter kommen will.

Wie nichtssagend der 5. Februar ist, sieht man auch daran, dass es für dieses Datum keine Ikone gibt. Deshalb leiht man sich Hugo Ball in seinem Kostüm aus Pappe aus, das er am 23. Juni 1916 beim Vortrag seines Gedichts Karavane trug. Es ist zum Markenzeichen für das Cabaret Voltaire und den Dadaismus geworden. Der Sender ARTE nutzt es, um auf sein Programm am 5. Feb. 2016 aufmerksam zu machen und es sorgt auch als Kostüm beim Karneval im Museum für Aufmerksamkeit, besonders wenn der Hut des „magischen Bischofs“ verlängert wird, so dass die Bedrängnis des damals um sein Überleben kämpfenden fragilen Hugo Ball verschwindet, mit der dieser seinen ganzen Körper wie mit einem Panzer schützt.

Ball in der Werbung für 100 Jahre DADA auf ARTE

Ball in der Werbung für 100 Jahre DADA auf ARTE, Screenshot

Fasching im Lehnbachhaus in München getwittert am 31. 1. 2016 (Gesichter wurden unkenntlich gemacht)

Fasching im Lenbachhaus in München getwittert am 31. 1. 2016 (Gesichter wurden unkenntlich gemacht)

Das erste Studiofoto einer Künstlerperformance

Eine Abbildung des Fotos, das Hugo Ball bei der Rezitation von Lautgedichten am 23. Juni 1916 im Cabaret Voltaire zeigt, ist vermutlich das erste fotografische Dokumente einer künstlerischen Performance. Es wird allgemein als ein Foto der Performance von drei Lautgedichten des Gründers und Mitinitiators von DADA in Zürich ausgegeben. So auch in dem Standardwerk von RoseLee Goldberg[1], wo ein Ausschnitt aus dem Originalfoto (aus der Fondation Arp in Clamart) verwendet worden ist, das erst 1989 anlässlich einer Ausstellung zum 100 Geburtstag von Ball[2] veröffentlicht worden ist. Man sieht den Künstler, Dichter und Philosophen in einem Kostüm aus gebogener Pappe stecken, in dem er unter anderem sein Lautgedicht Karawane vortrug. Die Legenden aller konsultierten Schriften behaupteten, es würde ein authentisches Foto abgebildet, das während der Lesung im Cabaret Voltaire aufgenommen worden ist. Auch im Ausstellungskatalog, in dem das unbeschnittene Foto erstmalig abgebildet wird, steht als Bildlegende: „Diese Aufnahme vom 23. Juni 1916 zeigt Hugo Ball beim erstmaligen Vortrag seiner Lautgedichte…“[3] und zitiert aus seiner Tagebucheintragung.[4] Da Ball darin aber von drei Notenständern spricht, auf die er wegen seiner kostümbedingten Unbeweglichkeit und der Handattrappen die Manuskripte mit seinen drei Lautgedichten bereitgelegt hatte, und auf dem Foto nur zwei Notenständer zu sehen sind, kann man hier eine erste Unstimmigkeit bemerken.

Hugo Ball im Kostüm, 1916 (Quelle: H. Ball 1886 - 1986, Leben und Werk, Pirmasens 1986, S. 134

Hugo Ball im Kostüm, 1916 (Quelle: H. Ball 1886 – 1986, Leben und Werk, Pirmasens 1986, S. 134

Wie eine Ikone entsteht

Um die behauptete Authentizität des Fotos weiter zu prüfen, versetzte man sich einmal in den engen Raum des Künstlercafés Voltaire in Zürich, das während des 1. Weltkriegs ein Treffpunkt rauchender Emigranten war, die hier sowohl ein Wohnzimmer wie auch eine Informationsbörse fanden. In diesem bei einer Sonderveranstaltung, wie an jenem Abend der Dadaisten, prall gefüllten Raum, muss man sich einmal einen Fotografen bei der Arbeit vorstellen, der mit einem damals relativ großen Kamerakasten auf einem sperrigen Dreibein aus Holz einen sicheren Standplatz suchte, um mit einer relativ langen Belichtungszeit sicher fotografieren zu können. Das Foto bildet ja viele Details sehr klar ab. Sogar das Muster eines Teppichs unter Balls Füßen ist deutlich zu erkennen. Man sollte sich angesichts des Fotos auch daher erinnern, dass die sicher nicht technikfeindlichen Futuristen nur relativ verwaschene Fotos und sehr körnige Filmstills von ihren Aktionen hinterlassen haben und z.B. Umberto Boccioni es vorzog, die Bühnensituation während der ersten futuristischen serate 1911 zu zeichnen, um das Geschehens zu überliefern. Im Gegensatz zu den nur schemenhaften Darstellungen von einzelnen Personen und Mustern auf dem Filmmaterial gibt die Zeichnung in ihrer karikaturhaften Pointierung, ein genaues Bild dieser turbulenten Abende. Man identifiziert nicht nur einzelne Akteure auf der Bühne, sondern erkennt auch die Reaktionen des Publikums, das zahlreiche Gegenstände auf die Bühne herabregnen lässt.

Ein aussagekräftiges Gemälde

Ein Foto und ein Gemälde

Ein Foto und ein Gemälde

Die Maler unter den Dadaisten benutzten ebenfalls traditionelle Mittel, um die Situation im Cabaret Voltaire wiederzugeben. Die überlieferte Schwarz-weiß-Abbildung eines verschollenen Gemäldes von Marcel Janko (siehe Power-Point) gibt das Geschehen auf der relativ schmalen Bühne vor der Außenwand des Cafés wieder. Anhand der Gesichtszüge lassen sich die Akteure, darunter Hugo Ball am Klavier hinter Tristan Tzara, der mit vorgestreckten Armen wie ein Traumwandler zum Bühnenrand schreitet, sowie Hans Arp und Richard Huelsenbeck erkennen. Rechts steht Emmi Hennings, Balls Frau. An der Wand hängen einige Masken.

Hugo Ball auf dem Foto und auf einem Gemälde von Marcel Janco, beide 1916

Hugo Ball auf dem Foto und auf einem Gemälde von Marcel Janco, beide 1916

Zum Vergleich nun das Foto, das Ball auf einem Teppich stehend, wiedergibt. (siehe Power Point) Ein solcher Bodenbelag ist nicht nur auf dem Gemälde nicht zu erkennen, sondern würde genau wie der Vorhang, der sich hinter dem Performern unmittelbar vor der Außenwand eines Cafés zuziehen lässt, als Bühnenausstattung hinderlich sein. Auf dem Foto ist der Vorhang zwar geöffnet, doch erkennt man, dass er beim Zuziehen, den vor dem hellen Hintergrund stehenden Ball schneiden würde. Ungewöhnlich für einen Theatervorhang, der vor der Bühne hängen müsste oder einen tiefen Bühnenraum aufteilt. Doch von einer geräumigen Bühne kann man im Cabaret Voltaire nicht sprechen. Nach dem Augenschein, den das Gemälde liefert, ist die Bühne sehr eng und ein Vorhang genauso wie ein Teppich überhaupt nicht vorhanden. Ein Vorhang als Hintergrund ist hingegen für Fotostudios durchaus geläufig und noch heute in den Passbildboxen z.B. in Bahnhöfen anzutreffen. Da es damals üblich war, auch Möbel z.B. für Familienfotos zu platzieren, macht ein Teppich beim Fotografen durchaus Sinn.

Die auf dem Foto identifizierbaren Details deuten darauf hin, dass es aus einem Fotostudio stammt. Insofern hätte Ball die Aktion nachgestellt, um ein aussagekräftiges Foto zu erhalten. Diese Entscheidung stellt Balls Medienbewusstsein unter Beweis, denn die Überlieferung seiner Aktion hatte er nicht einem wackeligen Schnappschuss überlassen. Ein professionell gemachtes Foto in hoher Qualität sorgte vielmehr dafür, dass seine einmalige Performance, für die er sogar das Kostüm eines „Magischen Bischofs“ angefertigt hatte, visuell überliefert werden konnte und heute die Dada-Ikone ist. Dass mehreren Generationen von Forschern diese Tatsache bisher entgangen ist, spricht für ein naives Authentizitätsbewusstsein, das in der Fotogeschichte schon längst überwunden ist.

Von hier ausgehend lässt sich nur sagen, dass in der Überlieferung von Performance-Art nur weniges authentisch ist oder für authentisch genommen werden kann, bloß weil es durch ein Medium belegt ist. Das gilt nicht nur für Fotografie sondern sinngemäß auch für Video etc. Das Bemerkenswerte ist aber, dass sich ein Gemälde, wie hier das von Marcel Janco in vielen Details als aufschlussreicher erweist als Fotografien dieser Zeit. Janco gelang es, lange vor der Verfügbarkeit von Weitwinkelobjektiven und Panoramafotografie den engen Raum in seiner Charakteristik mit Plakaten, Masken und typographischen Elemente an den Wänden so detailreich und lebendig zu erfassen, dass in Ermangelung des verschollenen Originals noch die Reproduktion aussagekräftig genug bleibt.

© Johannes Lothar Schröder, VG-Wort, Bonn 2016

[1] Goldberg, RoseLee: Performance. Live Art 1909 to the Present, London 1979, S. 40

[2] Hugo Ball (1886 – 1986) Leben und Werk, Ausstellungskatalog, Pirmasens, München und Zürich 1986, S. 148

[3] ebd.

[4] Flucht aus der Zeit, Zürich 1992, S. 105