Gesten im permanenten Austausch

Modalitäten der Gestenforschung  bei Boris Charmatz, Fabian Marcaccio und Boris Nieslony

Gesten aus der Zeit holen

„10.000 Gesten“ heißt die Choreografie von Boris Charmatz, die am Wochenende vom 27. – 29. September 2019 auf Kampnagel in Hamburg von 20 Tänzer*innen aufgeführt wurde. Nicht nur der Titel fordert eine Reflexion über Gesten heraus. Erst recht der Vortrag der Tänzer macht deutlich, was Anzahl und Herkunft von Gebärden bedeuten, die von weit her aus der Menschheitsgeschichte kommen und in die Zeit vor der Zeit reichen, aus der weder Zeichnungen noch Bilder erhalten sind, die wenigstens eine rudimentäre Nachvollziehbarkeit ermöglichen würden. Damit berühren sich Gebiete der Vor- und Frühgeschichte, Anthropologie, Bildwissenschaft und der Performance Studies. Zusätzlich kommen Rituale, Tänze, Film, Theater, Spiele, Sport, Gymnastik, Feste und Feiern ins Spiel.

Boris Charmatz, Musee de la danse ‘10000 Gesten’. Choreographie: Boris Charmatz, Choreographie Assistent: Magali Caillet Gajan, Licht Designer: Yves Godin, Kostueme: Jean-Paul Lespagnard, Stimmtraining: Dalila Khatir, Technische Leitung: Georg Bugiel, Fabrice Le Fur. Volksbuehne Berlin. Berlinpremiere: 14. September 2017.
Mit Djino Alolo Sabin, Salka Ardal Rosengren, Or Avishay, Regis Badel, Jessica Batut, Nadia Beugre, Alina Bilokon, Nuno Bizarro, Matthieu Burner, Dimitri Chamblas, Olga Dukhovnaya, Sidonie Duret, Bryana Fritz, Kerem Gelebek, Alexis Hedouin, Rémy Héritier, Samuel Lefeuvre, Johanna Lemke, Maud le Pladec, Mani Mungai, Jolie Ngemi, Noé Pellencin, Solène Wachter, Frank Willens.
Foto: Gianmarco Bresadola, (Ausschnitt), Coutesy: Kampnagel, Hamburg 2019

Eine erste Aufführung des Stücks hieß  folgerichtig auch „Musée de dance“. Allein über 2000 Gebärden legte die schwangere Solistin nach ihrer sporadisch kurz einsetzenden eigenen Zählung in einem atemberaubenden Tempo innerhalb der ersten 10 Minuten auf der Bühne vor. Das macht fast 4 Gesten pro Sekunde. Das ist weder Zauberei noch Betrug, denn schon 18 Gelenke an je einem Arm oder Bein potenzieren sich, nur je einmal bewegt schon beim Stillstand aller anderen Gelenke und bei je zwei Bewegungen gegenüber den nacheinander 16 anderen stillstehenden Gelenken, dann drei usw. bis zur gleichzeitigen Bewegung aller Gelenke lassen sich in der vierten Potenz zu über 46.000 Bewegungen multiplizieren. Außerdem lassen sich die  Extremitäten zusätzlich unabhängig in alle möglichen Richtungen bewegen. Schon deshalb entziehen sich Gesten einer mathematischen Berechnung, die erst recht nicht greift, wenn ihre Bedeutungen ermittelt werden sollen. – Im konkreten Fall hätten wir außerdem die synchronen Bewegungen des mittanzenden Fötus zu berücksichtigen! – Auch ist Beginn und Ende einer Geste, wie Charmatz es in einem Interview mit Gilles Amalvi 2016 problematisierte, (www.kampnagel.de/kosmos) fragwürdig. Ein kinematografischer Ablauf muss also durch permanente Übergänge ausgeglichen werden, um einen unerwünschten Stillstand zu vermeiden. Also übernahmen die Tänzer innerhalb dieses Feldes die Aufgabe, an die Grenzen der Möglichkeiten zu gehen, wobei sie auch ihr während der Ausbildung internalisiertes Repertoire objektivierten,  es mit Gesten des Alltags (Aufwachen, Augen reiben, sich strecken, Essen, Gehen, Laufen, Zähne putzen etc.) anreicherten. Die zwanzigfache Tour de force umfasste schließlich die Erkundung der Gebärden vieler Berufe, der Kämpfenden, Streitenden, Redenden, Sterbenden, Erschreckenden und Erschrockenen, Beobachtenden und Beobachteten, Mordenden und in Agonie Liegenden, Helfenden, Tragenden und Getragenen, Verzweifelten und Tröstenden, Hungernden und Speisenden, Bettelnden und Gebenden, Entdeckenden und Entdeckten, Verlierenden, Trauernden und Erheiterten, Flüchtenden und Treibenden, Einladenden und Eingeladenen, Frierenden, Gebärenden, Singenden und Musizierenden.

An- und abschwellende Intensität

Die Aufgabe des Regisseurs war es, die gesammelten Ergebnisse der tänzerischen Gestenforschung überwiegend simultan auf die Bühne zu bringen, was nach dem anfänglichen Solo entfesselt von den aus verschiedenen Eingängen auf die Bühne stürmenden Tänzer*innen mit Schwarmintelligenz in Angriff genommen wurde. Beschleunigung und Beruhigung strukturierten das Chaos bis zu den Kippstellen, an denen sich die Solisten berührten, anzogen oder abstießen sowie Paare, Gruppen und Rudel bildeten. Ein Rhythmus aus konzentrischen Kreisen, Zusammenstößen und Pausen bildete sich mit der kaum merklich einsetzenden Musik des Requiems in D-Moll von Mozart heraus. Harmonie wurde nicht gesucht. Ansätze dazu ergaben sich vielmehr aus dem An- und Abschwellen der Lautstärke aus dem off und durch die Reibung der Tänzer*innen an den Bewegungen der anderen. Es ergaben sich Zusammenrottungen und Auflösungen sowie wechselnden Phasen der Korrespondenz, des Ignorierens und der Entgegnung.

Perugino: Angesichts der rhythmisch gestaffelten Gesten und eleganten Bewegungen erscheinen Gemälde der Renaissance vorbildhaft. Man beachte die Aufstellung der Teilnehmenden am Hauptereignis und die Menschen auf dem Platz in Pietro Peruginos Christus übergibt die Schlüsse an Petrus, das der Maler mit Assistenten in den Jahren 1481 – 1482 als Fresko (335 x 550 cm) in der Sixtinische Kapelle des Vatikans gemalt hat. Nur wenige Attribute wie die Schlüssel und der Winkel des Baumeisters ergänzen die Gesten. Quelle: gemeinfrei

Die Bühne wurde zur Agora, auf der sich trotz der Trägheit der Wahrnehmung innerhalb wechselnder Geschwindigkeiten des Vortrags und der Anzahl der Tänzer*innen Momentaufnahmen von Siegern, Rekordhaltern, Gestürzten, Verlierern, Priester*innen, Held*innen, Krieger*innen, Trauernden, Feiernden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, sei es aus der Kunst, dem Sport, der Werbung, der Mode, dem Film, dem Theater, der Politik, der Wissenschaft zeigten. Je nach Tagesform und abhängig von kultureller und beruflicher Bildung konnten aus der laufenden Schau zeitgenössische Ausformungen psychophysischer Bewegungsmuster identifiziert und mit den Vorläufern geronnener Körperbilder in Skulpturen, auf Mosaiken und Gemälden abgeglichen werden. Pflanzende und erntende Bauern, Steine und Geräte schleppende Arbeiter, Reitende und Jagende waren genauso vertreten, wie Ringende und sich Schlagende, Segnende, Triumphierende, Niedergeschlagene, Gefallene und Hingerichtete. Entsprechend gewürzt waren die Gesten mit Anfeuerung, Demut, Resignation, Schrecken und Niedergeschlagenheit, mit Kratzen am Kopf, Raufen der Haare, Popeln in der Nase, Reiben an Ohren, Armen, Beinen und Genitalien.

Prägungen aufgeben

In kurzen Momenten genügten die Darsteller*innen in ihren Kostümen von Jean-Paul Lespagnard, der sie in Schlüpfer, Unterwäsche, Overalls, Sommerkleider, Trikots, Negligés, Jumper oder Kombianzüge gesteckt hatte, sich selbst, um danach wieder mit Geschlechterrollen in Varianten von Protzen, Sich-Anbieten, Calisthenics, Kraftsport und Posen zu spielen. Imponierende Muskelschau konnte mit dem Wiegen der Brüste beantwortet werden, so wie kühne Sprünge mit einem unterwürfigen Rollen. Ein sich Aufbäumen wechselte mit Schlagen und Fallen.

Während die Intervention der 20 Tänzer*innen im letzten Viertel schließlich die Publikumsränge stürmten und die Zuschauer*innen in ihr adrenalingesättigtes Spiel mit Gesten verwickelten, zählten sie bereits in den Achttausendern, während sie einzelne Zuschauer in die Mangel nahmen, auf ihrem Schoß sitzend wie Kinder ein Lenkrad drehten, ihnen ihren Schweiß zu spüren gaben, sogar den Hintern ins Gesicht streckten. Arbeit und Freizeit wurden konfrontiert. Anzügliche Gesten und Annäherungen hoben die Distanz zum Theaterdispositiv auf – man könnte sagen, dass es wirklich geschah – kein Medium war mehr dazwischen. Folglich konnten Programmhefte zerrissen und Gesten der Zärtlichkeit getauscht werden. Aber auch eine Reflexprüfung am Knie fand statt, während ein aus dem rückwärtigen Teil der Bühne grell beleuchteter Solist mit einem langen Schatten geschweift einsam weiter tanzte.

Fixierungsversuche

Diese unmittelbare Seite der Gesten aus tänzerischer Sicht bezieht jedoch ihren Stoff auch aus der bildenden Kunst. Ihre physische Seite könnte man fast schon dank der Konzeptkunst vergessen haben, hätten sich nicht viele Künstler*innen wie Bruce Naumann, Ulrike Rosenbach oder Marina Abramovic intensiv mit dem Körper beschäftigt. Auch haben sie ihn wie etwa Chris Burden durch Body Works als Skulptur neu definiert. Weniger bekannt ist hingegen, dass Fabian Marcaccio zwischen 1989 und 2004 ein Kompendium von 661 Malgesten angelegt hat. Er nannte seine Enzyklopädie der Spuren des physischen Farbauftrags „conjectures for a new paint management“ (~Hypothesen zur Neuordnung der Malerei). Man erkennt sofort, um wie viel schwerfälliger ein indirektes Verfahren der Bewegungsaufzeichnung ist, in dem von Spuren ausgegangen wird, die eine mit Pinsel und Farben bewährte Hand auf einem Malgrund hinterlässt. Doch auch in 10.000 Gesten… entstand eine malerische Spur: Nachdem alle Tänzer auf die Bühne eingefallen waren, beruhigten sich kurzzeitig alle Bewegungen als sich ein Tänzer löste und mit der Zunge zwei sich kreuzende Spuckespuren auf die Mitte des Tanzbodens vor dem Publikum leckte.

Immer unterwegs: Gesten in Fluss

Gleichwohl ist die Auseinandersetzung auch in der Performance-Kunst nicht nur aktionistisch. Nachdem in den 1970er Jahren der deutsche Künstler Boris Nieslony das Feld der direkten Auseinandersetzung zwischen Kollegen als aktionistisches Terrain entdeckte, bezog er auch die physischen Möglichkeiten der Begegnung in den Dialog und schließlich in seine Performances ein. Gleichzeitig gab er nicht nur die Malerei auf, sondern begann Abbildungen von menschlichen Gesten und Verhaltensweisen zu sammeln.

Nieslonys Leistung liegt in der Erforschung von Gesten und Verhaltensweisen mittels einer Bildersammlung, die als Das anthropognostische Tafelgeschirr firmiert. Die Sammlung von Ausrissen aus Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten umfasst heute ca. 40.000 Stück, die in hunderten Archivkästen und Ordner gesammelt und nach Themen geordnet sind, die Bereiche der menschliche Bewegungen und Verhaltensweisen wie das Gehen, Umarmen, Schlafen, Tanzen, Lächeln und Sterben mit der dazugehörigen Mimik und Gestik umfassen. Inzwischen sind Tafeln entstanden, auf denen ausgewählte Beispiele für Ausstellungen ausgebreitet werden können.

 

Ausschnitt aus einer der Tafeln zum Thema tragen.
Ansicht in der Ausstellung „Boris Nieslony – Das es geschieht, Museum Ratingen bis 6. Okt. 2019, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst Bonn 2019

Der Beziehungen zwischen Nieslonys Sammlung und Aby Warburgs Fotosammlung (Bilderatlas) sind erst in letzter Zeit von Gerhard Dirmoser aufgezeigt worden. http://thelyingonthefloorabandonedtolie.blogspot.com/ Die Motivation Warburgs, der als Kunsthistoriker großbürgerlicher Herkunft die Kunstgeschichte nach Spuren der Weitergabe und Migration menschlicher Verhaltensweisen und Kommunikation nachging, lebt von anderen Voraussetzungen, doch bleibt seine These, dass die kulturellen Verhaltensmuster in der Geschichte der Menschen zwischen den Kontinenten wandern und ausgetauscht werden für das heutige Verstehen interkultureller Kommunikation grundlegend. Das permanente Entdecken von Gebärden und die spontan zum Vorschein kommenden Bewegungen wie auch ihr Verschwinden, also der Fluss des kulturellen Repertoires, sind der Antrieb in diesem spartenübergreifenden Feld, in dem sich Tänzer*innen, Künstler*innen und ihr Publikum bewegen. Die Utopie liegt im Austausch.

Boris Nieslony: Das Paradies 2019, Museum Ratingen, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

Wie aber ist der Austäusch zwischen denen, die sich bewegen, und denen, die dabei zusehen, organisiert? Wenn man bedenkt, dass ephemere Ereignisse nur relativ wenige Zuschauer erreichen, ist das Wissen um das Verhältnis von Bewegungen und Gesten zu Bildern und Bildmedien von Belang. Das Bewusstsein über diese Zusammenhänge lässt sich an einem Modell ablesen, das Nieslony in der Ausstellung aufgebaut hat. Seit 1980 sammelt er Gläser, optische Linsen, Spiegel sowie Gegenstände aus den Bereichen Technik und Natur. Deren Installation in einer ausufernden Regalkonstruktion nennt er „Das Paradies“, weil sich die Teile zu realen und imaginären Maschinen zur Aufzeichnung, zum Betrachten und Verarbeiten von Bildern und Präparaten zusammensetzen lassen. Vielleicht gibt sich darin auch ein Modell des Wahrnehmungsapparates aus den erweiterten Möglichkeiten der Sinne und ihrer Vernetzung mit dem Gehirn zu erkennen. Ihr Zusammenwirken stellt sich ein bildender Künstler natürlich anders vor als Physiologen und Psychologen und so gelingt es ihm mit seinem Wissen als Performer zur Herkunft der Gesten vorzustoßen, indem er die Abläufe befragt, in die er sich begibt, die er zulässt, in die er hineinhorcht oder in die er gezogen wird, wenn er sich bewegt. Im Filmporträt, das Gerhard Harringer 2010 über Nieslony gedreht hat, stellt der Performer folglich die treffliche Frage: „Was ist ein Bewegungsmuster bevor es Tanz wird.“

Johannes Lothar Schröder

Adrenalinmassaker feinliniert auf makellosem Zeichenpapier

„AS IF“, Ralf Ziervogel, in den Deichtorhallen, Sammlung Falkenberg in Harburg

Kreis- und Kettensägen, Bohrer, Elektrohämmer, Schraubendreher, Dildos, Butt-Plugs, Schleifmaschinen, Laptops, Flüssigkeiten aller Art und mehr werden ihnen zum Verhängnis, wenn sie aufeinander losgehen. Es ist der Lärm der Arbeits- und Haushaltsgeräte, der vielen Menschen eine Bestätigung ihrer Existenz bietet, wenn spirituelle und transzendente Verbindungen nicht mehr kraftvoll genug sind, um das Leben mit Sinn zu füllen. Die trostlose Welt langweiliger Routine, manischer Konsum und permanenter Kämpfe in den schlaflosen Metropolen erfüllt viele Menschen mit dem Drang, ihre sinnlose Existenz mit Drogen erträglich zu machen oder ihre Angst mit Waffen zu bekämpfen.

Paraden grotesker Gewalt

Ralf Ziervogel spielt Gott und hat zeichnend eine Auswahl nackter Menschen in die Quarantäne seiner weißen Zeichenpapiere gesetzt. Hintergrundlos fliegen und schweben aufgeriebene und zerfetzte Menschenleiber zwischen verschiedenen Dingen herum. Fein gezeichnete Linien, die Geschoßbahnen, pulsierendes Blut, hausgerissene Sehnen und Nerven darstellen, verbinden sie zu Konglomeraten oder binden sie in Muster ein. Mit Spritzen bestückte Hautfetzen ornamentieren verklumpte Torsi und Extremitäten, die auf bis zu 10 Meter hohen Bahnen makellosen Spezialzeichenpapiers arrangiert werden. Aus der Fernsicht verschwinden die hässlichen Details und man blickt auf Netze, die von einer Parade von durch Gewalt in Verbindung stehenden Menschen auf einem Gerüst oder auf Hängebrücken gebildet werden, die bisweilen die Gestalt einer Partitur annehmen können. Wenn man weiß, dass die Gewalt der Musik auch erst im Konzertsaal hervortritt, so fällt hier die schwierige Aufgabe der Orchestrierung der Seheindrücke keinem Dirigenten zu, sondern die Vervollständigung und Einordnung der Bilder erfordert einen nachdenkenden Betrachter. Wer kein Voyeur sein will und zufrieden damit ist, die hochkonzentrierte Kunst eines ausdauernden Zeichners zu bewundern, muss sich fragen, wohin die jeweils monatelange Arbeit an Tausenden blutrünstiger Details mit spritzendem Blut und anderen Flüssigkeiten ohne einen einzigen unabsichtlichen Tuscheklecks führt?

Ralf Ziervogel, Immobilie, 2004, Ausschnitt, ca. 160×110 cm

Ziervogel hat die Stürzenden und Fallenden im Business-Dress, die Robert Longo in den 1980er bekannt gemacht haben, entkleidet. Er gibt sie nicht nur nackt wieder, sondern nimmt ihnen auch noch jeden lokalen oder territorialen Bezug, und sie haben Pfunde zugelegt. Historisch andere unerträgliche Zustände führten Günter Brus zu Aktionen und zeichnerischen Untersuchungen seiner Existenz, um die Auswirkungen der Gewalt zu bearbeitet, die in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in Österreich noch allgegenwärtig war. Dabei stellte er sich anfänglich meist selbst als Opfer ins Bild, so dass man den Hintergrund in Wien, im Berliner Exil und in Europa (die literarischen Bezüge der Text-Bilder) mitdenken konnte. Bei Ziervogel lässt der weiße Zeichengrund die Figuren bindungslos und ohne Kontext erscheinen und nimmt den Massakern ihren Schauplatz. Wenn überhaupt eine Verortung benennbar ist, dann wäre es der Abgrund – nur einmal ruft er – nicht ohne Humor – eine Schweizer Gegend auf, in der wohl die gelb gemalten Sackgesichter beheimatet sind. Sind also am Ende die meisten Männer, Frauen und Kinder seiner Bilder Märtyrer? Wofür oder wozu sie leiden bleibt unbestimmt.

Die Nichtigkeit der Individuen

Trotz all dieser nicht jugendfreien Gewalt und Sexualität könnten diese Riesenformate in eine Lobby hängen, wo sie sich sowieso kaum jemand aus der Nähe anschaute, insofern eine Nahsicht zum Erkunden der Details überhaupt noch naheliegend wäre. Diese Tatsache zeigt, wie klein und belanglos das Wüten jedes dieser Individuen tatsächlich ist. Aus der Ferne gleichen die Zeichnungen Wimmelbildern und den Bildern der niederländischen Künstler, die zur Vorgeschichte dieses Sujets gehören. Menschen und Gruppen von Menschen, in bis heute rätselhaften Zusammenstellungen schuf Hieronymus Bosch mit Bildern von Himmel und Hölle. Auch die Gemälde der Brueghels mit summarischen Darstellungen von Kinderspielen, Sprichwörtern sowie von Karnevals- und Fastenbräuchen etc. im Getümmel auf Dorfplätzen gehören in diese Kategorie. Triftige Zusammenstellungen von Szenen weisen auch spätmittelalterliche Höllendarstellungen auf, die bis in die Renaissance hinein Kirchen außen und innen schmückten. Hier sind außerdem massenhaft Nackte zu sehen, die Ziervogels Figuren überraschenderweise sogar mit dem christliche Totsündenschema in Verbindung bringen; denn sie töten, prassen, sind lüstern, überfressen, gierig, sex- und rachsüchtig und viel mehr. Doch die Hand des zeitgenössischen Künstlers sortiert die Menschen anders als die Gotteshand. Ziervogels Figuren sind alles andere als demütig. Sie tun gerade das Gegenteil, sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen. Sie kämpfen noch während sie in Fetzen durch die Luft fliegen.

Ralf Ziervogel, Tuschezeichnung und Sprühlack, Seitenansicht

Den Himmel auf Erden haben sie nicht gefunden, also machen sie sich und ihresgleichen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Hölle heiß. Die „Deterritorialisierung“ (Deleuze/Guattari) hat die Existenz der Abgebildeten an den Rand eines Zustands getrieben, der in den Religionen als Hölle beschrieben wurde. Selbst das Feuer hat auf den Blättern Spuren in Gestalt mit mattschwarz besprühten Flächen in Gestalt von Rauch- und Rußfahnen hinterlassen.

© Johannes Lothar Schröder

P.S.: Noch viel mehr lässt sich beobachten und auffinden, wenn man die zahlreichen Klein- und Großformate genau inspiziert. Auffallend sind die Blätter mit Fingerabdrücken und winzigen Zahlenkombinationen.

Ralf Ziervogel, Ech, 2016, Bodyprint und Zeichnung, Detail

Neueren Datums sind Body-Prints. Hier werden Finger, Arme, Penisse und andere Körperteile seriell als Objektdrucke gesetzt, bis sie sich zumindest soweit zu Ornamenten fügen, dass sie sich wieder öffnen können, um Verbindung mit der anschließenden Druckfolge aufzunehmen.

Die Ausstellung bis 27. Januar 2019, Wilstorfer Straße 71, 21073 Harburg
Weitere Infos und interessantes Begleitprogramm: www.deichtorhallen.de/ralfziervogel

Liminoid and Walls Against the Multitude (on PSi #23, Part 2 of 3)

Considering the abundance of sessions offered in the conference I became aware of the limitations of reporting on the whole conference which was organized by Amelie Deuflhard, Gabriele Klein, Martin Jörg Schäfer and Wolfgang Sting and managed by Marc Wagenbach. So I decided to write about a few thoughts and ideas that came up in conversations and dialogues as well as moments of relaxation shared with other participants. Many of the terms and themes have already been discussed at other PSi-conferences and in Performance Research. This reappearance of themes can be seen as a golden thread which not only helps to get out of a labyrinth built by artists but also helps to catch the clue to a complexly woven pattern.

Liminal and Liminoid

Amongst the many metaphors and concrete forms of flow and overflow ‘liminal’ seems to be a revue of an old one. After Richard Schechner (one of the founders of PSi) one did not hear this reference for quite a while. It was introduced by Arnold van Gennep and redefined by Victor Turner. Thomas Isaacs brought it up again to understand the self-torturous actions of Marina Abramovic in “Lips of Thomas” http://marina-abramovic.blogspot.de/2009/11/thomas-lips-1975.html . Although it was done in 1974 it seems that it has not been fully understood. Why can it be useful or even necessary to perform painful acts? If we follow Turner, we have to ask again, whether there is any reason to transfer rituals and initiations from agricultural to complex contemporary societies? Does it make sense to use this term and to understand pain in terms of a contemporary ritual? Kieran Sellars also asked such questions with regard to the performances of Martin O’Brian, which for him are part of a personal method of struggling against his disease and help him to ease pain.[1] Perhaps we have to revise the idea of transgression today. While in the 1960s and 70s it meant breaking down the limits between art and life as well as between the private and the public, today the setup of limits is being discussed again. It seems that ‘liminal’ defines the use of thresholds – seen as a beam of plank at the entrance of a house – against excess.

New Limits? (degression)

The etymology of liminal is connected to the motto ‘overflow’, considering, that thresholds, the literary meaning of which can be defined as a board holding the abundance of a rich crop like cereal. Here liminal means banning or protecting the overflow and being able to share a crop over a period of time. This seems to be the direction in which the impetus of performance art has been changing over the decades at least in the Americas, Europe and Japan. Beginning as a revolutionary act in art, politics and life, which intended to tear away any limitation set by traditions, rules or conventions. This tendency was partly reversed by accademisation, when new museums were built in the 1970s and universities expanded faculties in the 1980s. Parallel to that the private TV-channels expanded by streaming 24 hours adds and news accompanied by permanent stock-market-tickers and there was the fall of the iron curtain. Things speeded up and the internet provided digital communication to almost everybody. This led to the desire to set up new limits or strengthen the old ones by moral and religious taboos. Actually even in countries with free access to internet like in Germany limitations of free speech as sanctions on hate-speech are being discussed.

This emphasizes the taming of uncontrolled powers of violence, of overwhelming feelings as well as pain. Could it also mean to a society that it looks for ways to control aggressive youngsters, powerful intellectuals and physical fighters instead of unleashing them? There is an obligation to protect the weak and if we look at the changing of the liminal in Performance Art it finally could mean the compliance of the arts by reconciling struggle, taming violence, preventing fighting and overcoming pain in a classical way. Already now sports, arts and cultural policy provide multiple space and time in media, arenas, theatres, cinemas etc. to compensate for phenomena of the liminoid. The numbers of artists who are pushing the limits are few. They are still acting in countries, where the limits for making money are wide and for artistic expression are tight. A good example is Pjotr Pawlenski in Russia. Actually numerous biennals, documenta and art fairs have been established on the base of what was achieved by the widening of limits and providing open spaces. Now we see a tendency that these multiple spaces are excessively filled with artefacts and material. It seems that the challenge of contemporary artists consists in stuffing up places for exhibitions and gathering matter and things in panic-like efforts

The Permanence of a Construction-Site as Happening

The new project of Rimini Protokoll “Staat 1-4” approaches such implications of overflow which are provided by big construction sites. As Immanuel Schipper presented, there is a trend which can be publicly observed: The generation of problems that are raising costs and cause constant delays, which enable the prolongation of construction sites deploying more and more opportunities to earn money for companies and lawyers. “Gesellschaftsmodell Großbaustelle (Staat 2)” is inspired by the logic and the logistics of a mega-construction site forming a role model for a society. The virtual set reminds me of the compartmented structure of a Happening like for example „18 Happenings in 6 Parts”. Instead of using the theatrical frame the project provides guided tours for 5 groups of visitors taking place at the same time in the same space at different parts of the site. http://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/gesellschaftsmodell-grossbaustelle-staat-2
At the same time the “real” reality and real estate like the construction sites at the Berlin Airport (BER), will probably never be finished. Examining this from an artistic point of view this kind of reality appears like a permanent Happening, which is not dropped from the program for years like a successful musical. Is the latest and unexpected version of blurring the boundaries between art and life.

Independent Film in Hamburg

A surprisingly detailed paper was presented by Megan Hoetger from L.A. who researched “underground” film making in Hamburg in 1969 + 1973. She came close to the iconoclastic qualities of that independent experiment, which existed for a very short period of time. The film-maker-cooperative at Hamburg’s Brüderstraße was radically staying away from film- and TV-productions. Its members were also resisting paths which were chosen in local film-festivals in Germany and abroad.

[1] “Martin’s work considers existence with a severe chronic illness within our contemporary situation. Martin suffers from cystic fibrosis and his practice uses physical endurance, hardship and pain based practices to challenge common representations of illness and examine what it means to be born with a life threatening disease. His work is an act of resistance to illness, an attempt at claiming agency and a celebration of his body. Martin loves his body and his work is a form of sufferance in order to survive.” http://www.martinobrienperformance.com/about.html