Dunkle Räume und Dunkle Materie – sonntägliche Streifzüge und Vermutungen

Linsentrübung

Sturmtief „Herwart“ stoppte fast alle Züge im Hauptbahnhof, so dass ich meine Schritte in die eigene Stadt lenkte und dem Kunstverein in Hamburg einen Besuch abstattete. (Auch wochentags erst ab 12 Uhr geöffnet!) So bekam ich Fotos von Wolfgang Tillmans im Dämmerlicht zu sehen. Auch wenn die Steigerung der ästhetischen Wirkung von Fotos durch Hollywood-Nacht-Folie auf den Scheiben bezweifelt werden muss, brachte sie immerhin die Ondulation der Wellen an einem Sandstrand gut zur Geltung, weil das Video sich zum einen hell leuchtend abhob und zum anderen – als Hochformat projiziert – die Bewegungen des Motivs durch die ungewöhnliche Perspektive eindringlich verstärkte. Eine Sensation, die für Erkenntnisverweigerer wie mich geschaffen war, denn die bereitgestellten Flachvitrinen erweiterten meine Wahrnehmungsmöglichkeiten nicht. Wo sollte „Die Greifbarkeit von Zeit“, wie es in einem Twitter-Post des Kunstvereins hieß, entdeckt werden können? Sie sei „das Anliegen der Aluminiumtische …“, hieß es; doch die Kiesel, Briefmarken und sonstiges Sammelsurium blieben unter den Glasabdeckungen außer Reichweite. Die Veranstalter, so scheint es, hatten ihren Spaß beim Aufbau der Ausstellung oder vielleicht auch im Sommer am Strand, doch bleibt es ein Rätsel, warum sich Profis nicht vorstellen können, dass Ausstellungsbesucher, die die Umstände in eine Ausstellung gespült hat, ihre Spiele mit der Zeit nicht nachvollziehen können. So kann es gehen in Institutionen des Sehens, deren Personal möglicherweise an Linsentrübung leidet, weil es im Taumel des 200-jährigen Jubiläums des Kunstvereins in Hamburg geblendet worden ist. Um keinen falschen Eindruck über die Wahrnehmungsmöglichkeiten in der Ausstellung zu wecken, blieben die vom Kunstverein angebotenen Pressefotos ungenutzt.

Hat Materie ein Schamgefühl?

Schauplatzwechsel: Die 15 KünstlerInnen, die in den Einrichtungen des Deutschen Elektronen Synchrotrons (DESY) in Hamburg-Bahrenfeld ausstellen, haben sich aus den gespurten Pfaden des Kunstbetriebs in eines der aufregendsten Felder der Grundlagenforschung gewagt. Sie wollten dicke Bretter bohren und haben auf Initiative der Künstlerin Tanja Hehmann und des Physikers Christian Schwanenberger auf dem riesigen Gelände und in den gigantischen Fertigungshallen nach Plätzen gesucht, an denen ihre Arbeiten mit den Maschinen, mit denen die Experimente hergestellt und ausgewertet werden, in Dialog treten. Hier einen Platz für Kunstwerke zu suchen, ist ein Wagnis, denn in den Experimentieranlagen aus kilometerlangen Tunneln und mit wohnblockgroßen Anlagen, in denen ausgewertet und geforscht wird, treffen sowieso schon Extreme aufeinander. In Rohren, die bis zum absoluten Nullpunkt gekühlt werden, beschleunigen die stärksten Magnetfelder Materiebestandteile auf annähernd Lichtgeschwindigkeit, um die Spuren ihres Zerfalls zu messen oder für Experimente zu nutzen. Das Kleinste tritt sozusagen mit dem Gigantischen in Beziehung und kann auch als eine Metapher für die Begegnung von Kunst und Grundlagenforschung dienen. Die Veranstaltungen des Dark Matter Days und der Nacht des Wissens (4. Nov.) werden zum Anlass genommen, um das Abenteuer dieser Begegnung einer großen Öffentlichkeit darzubieten. Beide Seiten haben ihre Mühe damit, das Unsichtbare sichtbar zu machen, ihre Vermutungen und Verfahren zu erklären und die Ergebnisse von Prozessen, die im Verborgenen stattfinden, nachvollziehbar darzustellen, sofern nicht schon beeindruckende Größe die Besucher zum Schweigen bringt.

Julia Münstermann: Electric Shadow, 2017 in der Beschleuniger-Testhalle am DESY Hamburg, Foto: johnicon @VG Bild-Kunst

Aufwand und Ertrag

Hier zeigt sich wie ungleich die Mittel zur Gewinnung von Erkenntnissen verteilt sind und welcher Aufwand welchem Ertrag gegenüber steht. Solche Einwände kennen Künstler und Forscher gleichermaßen. Dennoch ist es zu einfach, die Gemeinsamkeiten zwischen Grundlagenforschern und Künstlern darin zu sehen, dass beide Seiten etwas suchen würden, dass sie nicht kennen, also ergebnisoffen experimentieren. Das kann bestenfalls als erste These dienen, denn kaum etwas ist materiell gesehen asymmetrischer wie ein Forschungsvorhaben, das Milliarden von Euros benötigt und für das Wissenschaftler, Ingenieure, Industrieunternehmen und Handwerker Maschinen-Prototypen entwickeln und realisieren, auf der einen Seite und auf der anderen die oft individuelle künstlerischen Praxis in Ateliers, für deren Miete Jobs angenommen werden müssen. Allerdings – und das muss man festhalten – wurden auch die Grundlagen der Kernphysik z.B. in der Küche von Marie Curie gewonnen. Vielleicht stehen ja die Arbeiten mancher Künstler heute dort, wo die Kernphysik vor einem Jahrhundert stand, als man noch mit geringen Ressourcen in zeitraubender Kleinarbeit grundlegende Erkenntnisse gewinnen konnte.

15% zu 85%

Am Ende muss offen bleiben, ob sich Bilder, Objekte oder Installationen, die sich unter den Bedingungen der Produktion und den Möglichkeiten des Materials ständig verändern, strukturelle Ähnlichkeiten mit einem Forschungsprojekt haben, das zwar ergebnisoffen ist, aber die Möglichkeit des Scheiterns einkalkulieren muss? Möglicherweise kommt es gerade auf den kaum zu fassenden Zustand des Fließens an, der auch eine Herausforderung der Teilchenforschung ist, denn es ist so eigenartig wie eigentümlich, dass sich Teilchen unter Beobachtung anders verhalten als unbeobachtet. Man hat es immerhin errechnet, aber wer weiß, was es damit auf sich hat? Dreht sich die Dunkle Materie einfach weg, wenn man sie sucht? So etwas Verrücktes annehmen könnten nur Künstler, denkt man, doch müssen auch Wissenschaftler zu Allem entschlossen sein, um neue Wege zu gehen. Es scheint, dass wir aktuell an einem Scheideweg stehen, an dem allein die Menge der Mittel und die Größe der Apparaturen nicht mehr ausreichende Voraussetzungen sind, um Zufallstreffer zu erzielen. Wie kann es sein, dass offensichtlich 85% der Materie im Weltraum den menschlichen Sinnen und Maschinen entgeht? Da die Gesetze der Physik mit den als Materie nachweisbaren 15%  der Stofflichkeit des Weltalls nicht aufrecht erhalten werden können, muss die fehlende Materie nachgewiesen werden, oder alle Grundlagen der Physik müssen überprüft werden. Aufgrund der vielen Fragen, die zur Zeit nicht beantwortet werden können, ist es ein gutes Zeichen, dass Physiker und Künstler zusammenfinden, um schließlich auch die Grundlagen des Denkens und der Anschauung zu überprüfen. Letzteres – also die Wahrnehmung – ist ein Problem der Ästhetik, womit wir ein wirklich interdisziplinäres Projekt vor uns haben.

Jan Köchermann: Frassek Space Collector, Objekt, verschiedene Materialien 2017 @desy #artmeetsscience Foto: johnicon @ VG Bild-Kunst 2017

Kommen wir nach diesem Ausflug noch einmal zur Ausstellung von Wolfgang Tillmans zurück. Nach der Begegnung mit Dunkler Materie ist es vielleicht erhellend, die Möglichkeit zu erwägen, dass ein Künstler seine Bilder den Blicken entzieht, um das Offensichtliche zu verbergen. Möglich ist auch, dass er sich dafür schämt und sie ins Halbdunkel hängt, damit sie mehr Intimität haben. Doch muss man fragen, warum ein etablierter und vielfach ausgezeichneter Fotokünstler immer wieder auf Objekte zurückgreift? Warum ist es so reizvoll die flachen Exponate mit der Haptik und Dreidimensionalität von Objekten zu konfrontieren, obwohl jeder weiß, dass ein Abbild nicht das Original sein kann? Im Kunstverein sind es Steine, die verkleinerte Varianten von Gebirgen, also mithin der Erdgeschichte, sind und Briefmarken, die u. a. Miniaturen von Landschaften, Städten und historischen Gegebenheiten darstellen. Vielleicht ist es das, was die Autoren des Kunstvereins mit „Zeit“ meinen. Ein anderes Modell bietet Jan Köchermann an. Er hat den Frassek Space Collector auf einem Fahrzeug installiert, um Materie zu sammeln und zu messen. Der Künstler erzählt die Geschichte von Frassek, einem Naturforscher, der in der DDR mit seinen Experimenten den Argwohn erweckt habe, Esoteriker zu sein. Unter den heutigen Bedingungen, also der Unsicherheit über die Existenz von Dunkler Materie, bekommen solche Experimente am Rande der Scharlatanerie neue Aktualität; denn was wäre, wenn sich der enorme technologische und fiskalische Aufwand für die Suche nach Dunkler Materie als Flop erweist oder Frassek gar nicht existiert hätte?

Art Meets Science, Notkestraße 85 ist noch bis zum 9. 11. geöffnet. Dokumentation, weitere Texte, Pressespiegel und Hinweise auf der Homepage: www.desy.de/artmeetsscience   

Wolfgang Tillmans: Zwischen 1943 und 1973 lagen 30 Jahre. 30 Jahre nach 1973 war das Jahr 2003, Klosterwall 23 ist noch bis zum 12. 11. geöffnet.
www.kunstverein.de

Under the Surface of Intellectuals (on PSi #23, Part 3 of 3)

Keynotes of leading intellectuals like Vandana Shiva, Tim Etchells, Carolin Emcke, Didier Eribon and Avital Ronell opened the Performance Studies international conference #23 to a general audience of Kampnagel and of Theater der Welt hosted also in Hamburg this year.

a)     Things Disappear or do not Fit Anymore

Tim Etchells read from manuscripts of his new book. Among the flow of observation in streets I enjoyed his reflections on 35 years of Forced Entertainment in which he discovered flow as well as containment. The latter word nicely contrasted to entertainment. I cherished that he mentioned the reuse of props, equipment and tools which were kept from previous performances. But unexpectedly all these items in case they are still available would not represent an overflow or material reserve. In contrary Etchell said, that every piece being reused would require a restart as well as a new piece and every performance of the repertoire in a new space.

b)     Between Shame and Hate

Emcke and Eribon described escape as trouble which was initiated by their decision to leave their familiar background to become intellectuals. Both put it in relation to shame, which they suffered also because of their sexual orientation. While Eribon referred to the social class background of his family and childhood-milieu, Emcke said that the communication of her decision to become an intellectual to her “upper-middle-class” family was more shameful, while being gay reward her with pleasures, compensating for that shame. In contrast to this Eribon felt that the repression his working-class family enforced on him because of his sexual orientation deeply hurt his feelings, while his intellectual career helped him to seek distance. Thus it became an act of emancipation, although he could never fully separate the private and public spheres. According to Eribon the refusal of society to accept and discuss the term social class anymore would not help to understand the problem. He said that the workers of his hometown Reims had lost their pride, when steel- and car-companies closed down their plants.

Unfortunately the podium did not approach what the title of the podium “Beyond the New Hate” announced. In this context it is important to understand that not only did coal and steel based industries create the fundaments of the wealth of Europe but steel workers and miners also formed a political nucleus of the European Union. It was established to coordinate the European Steel- and Carbon-industries internationally. The mining industries also were the foundations for the car- and machine-industries and have established European worker-participation. So it is no wonder that the steel and coal-crises, which escalated in the 1980s, became a crisis of Europe and separated the worker-elite from the political union of Europe.

Avital Ronell dancing when audience entered the space. Photographed by johnicon

c)      Avital Ronell on “twitterature and shitterature”

The crisis of the mining-industry was also a major issue in Donald Trump’s campaign. He took advantage of it addressing voters from the “rust-belt”, however without concepts in a heated world. This is no excuse for “mistweating” and “buffoonery”, which was addressed by Avital Ronell on Sunday-morning, when her lecture “Mistweated: On Civic Grievance” rivaled the sermon of churchgoers, as she puts it with Karl Kraus. Referring to an aggressive and sadistic behavior of the Potus, who is also known as a man being proud of “grabbing” women “by” instead of at the pussy. That provoked to ask for the nature of the object that is grabbed “by”? Is it the reel of the gangway of the big airplanes Trump fiercely holds, when descending. Trump fears descending and strangely feels also menaced by his German origin in third generation and pretends to have ancestry in Sweden instead. This should have helped him to avoid bad manners, encouraging bad behavior in political culture. (Theatre can educate about the tragic rise of protagonists such as Aturo Ui in: “The Resistible Rise of Arturo Ui” by Bert Brecht; added by the author) Ronell said that she felt attracted by the banner in front of the Kampnagel-doors welcoming refugees. Those who lost their homes and existence have to be welcomed every day, she remembered from her ancestors who found exile in America. She told that the book and the light of enlightenment in the hands of the mighty female Statue of Liberty encouraged her during her childhood. Later however she got to know that Franz Kafka – in his novel “Amerika” – had envisioned the Statue with a sword in her hands.

Have a look at the photograph of “Überfluss II” correspondence between Ric Allsopp and the author in: Performance Research 2(1), pp 31-33, 1997, p 33

Performance Research 2 (1) 1997, p33

Über die Ufer getreten, aber vom „Flächenbrand“ verschont

Betr.: Ausstellung „Mythos Atelier. Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Nauman“
Staatsgalerie Stuttgart (27.10.2012 – 10.2.2013) verlängert bis zum 3.3.2013
ab sofort ist der Eintritt für unter 20 Jährige frei!!! – eine gute Entscheidung !!!
Katalog: hg. von Ina Conzen, Hirmer Verlag, München 45€ / 59,90 SFr.

Schon der Untertitel der Ausstellung „Mythos Atelier“ „Von Spitzweg bis Picasso, von Giacometti bis Nauman“ lässt erkennen, dass das Thema geteilt wurde. Die zweite Abteilung findet die Aufmerksamkeit dieses Blogs, denn Bruce Nauman ist ein Künstler mit Wurzeln in der Performance Art. Seine Position interessiert die Kuratorin der Ausstellung; denn Ina Conzen möchte zeigen, dass das Atelier trotz der Erweiterung des Kunstbegriffs (18, alle eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf Seitenangaben aus dem Katalog) weiterhin Bestand hat und in den von Künstlern eingesetzten Topos des Atelierbildes eingebunden werden kann. Von ihm geht ein Propagandaeffekt aus, der von dem selbstbestimmten Blick auf die künstlerische Arbeitssituation herrührt. Diesen im Atelierbild fixiert, steuern Künstler mit seiner Hilfe seit der Renaissance ihr öffentliches Image. (13)

Arbeitsplätze und Büros
Nicht alle der annähernd 200 Arbeiten aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert lassen den Wandel erkennen, der sich nicht erst in den 1960er Jahren vollzogen hat, sondern in Schüben auf den gesamten von der Ausstellung abgedeckten Zeitraum wirkte. Technologie und Medien haben es mit sich gebracht, dass neben dem klassischen Handwerk der Bildhauerei und der Malerei fotografische, filmische und elektronische Ausrüstungen in die Ateliers einzogen, und die Arbeitsbedingungen, wie in anderen Berufszweigen auch, umstrukturierten. Während Künstler mit hohen Umsätzen in Hallen produzieren können, müssen diejenigen, die noch nicht in die Mittelschicht aufgestiegen sind, in ihren bescheidenen Wohnungen leben und arbeiten, was einen romantischen Eindruck abgibt. Man kann daher annehmen, dass diese Ateliers den „Flächenbrand“ überstanden hätten, den nach Ansicht der Kuratorin die „Erweiterung des Kunstbegriffs“ ausgelöst hat. (18) Um die Heimeligkeit des Ateliers zu untermauern, geraten Künstler wie Daniel Spoerri, mit dem von ihm benutzten Hotelzimmer, Dieter Rot mit seinen über halb Europa verstreuten temporären Arbeitsplätzen und Rirkit Tiravanija in den Fokus. Letzter lebt vorübergehend in den Kunstzentren der ganzen Welt und arbeitet an temporären Arbeitsplätzen. In der Ausstellung wird er jedoch als Installationskünstler vorgestellt, weil er 1996 im Kölnischen Kunstverein mit seinem Preisgeld seine kleine Wohnung in Manhattan nachbauen ließ.
Wo es plätschert, muss nichts fließen
Weitere Bereiche der Ausstellung, die das Thema Performance Art direkt oder indirekt berühren, sind die „Post Studio Art“, mit der sich Michael Glasmeier auseinander gesetzt hat. Er hebt Werke der Konzeptkunst und Land Art hervor, die Künstler vom Büro aus konzipierten und planten, um dann Aufträge an Firmen zu vergeben. Anna Himmelsbach lokalisierte die Orte des Schaffens von Andy Warhol, Joseph Beuys und Dieter Roth „Zwischen Fabrik, Büro und Arbeitsplatz“. Neben Fotos und Videos verschaffte Roths temporärer Arbeitsplatz mit Originalbestandteilen, darunter zahlreiche Gefäße für Getränke, den Ausstellungbesuchern eine weitere Möglichkeit, sich vorzustellen, wie ein Künstler arbeitet.

Zu Fragen des durch Performances herbeigeführten Funktionswandels des Ateliers erwartet man bei Barbara Six weitere Details und Zusammenhänge, doch resümiert sie, dass wir es bei Nauman mit einem Rückfall in die Romantik zu tun hätten und unterstellt, dass McCarthy mit „Exkrementen“ malen würde (244). Wie kurzschlüssig hier Klischees bedient werden, ist genauso verblüffend wie der Glaube an die Authentizität der Vorgänge im Atelier, der trotz der beschriebenen Tatsache durchschlägt, dass es sich beim Atelier von „Painter“ um ein Filmset handelt, in welchem das Atelier parodiert wird. Wenn es dort plätschert muss kein Urin fließen! Offensichtlich sollte gar nicht mehr aus dem Thema herausgeholt werden, als die Tatsache, dass das zeitgenössische Atelier auch eine Kulisse für Film und Video sein kann. (247)

Ergänzend: Künstlerlexikon Nauman

Künstlerinnen bleiben draußen
Angesichts der Überzahl der Wissenschaftlerinnen, die im Katalog ihre Ergebnisse publizieren, ist es schleierhaft, warum die Quelle des Mythos vom Atelier, die zu einem nicht unwesentlichen Teil auf dem vom Schöpfergott gekneteten Selbstbildnis basiert, unangetastet blieb. (Bezug: Am Campanile des Doms von Florenz ist ein Relief von Giotto angebracht, dass Gottvater in einer Bildhauerwerkstatt bei der Arbeit am Menschen zeigt.) Die in die Ausstellung aufgenommenen Fotografinnen und Künstlerinnen kann man nicht nur an einer Hand abzählen. Sie fallen auch deshalb aus dem Rahmen, weil Angela Stauber, Erika Kiffl und Gabriele Münter nicht ihre eigenen Ateliers, sondern die ihrer Künstlerkollegen fotografierten. Leider ist nicht einmal die Rede davon, dass Münter, die Kandinsky und Klee beobachtete und malte, einen ersten Schritt in Richtung Entzauberung des Demiurgen-Mythos ging.
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Anders als ihre männlichen Kollegen brauchten sich Ulrike Rosenbach, Marina Abramovic, Valie Export, Gina Pane oder Pipilotti Rist gar nicht mit den Ateliermythen herumzuschlagen. Als sie ihre Arbeit in Bereiche wie Video, Immaterialität und Ortlosigkeit ausdehnten, hatten sie ein unbestelltes Feld vor sich und konnten von der akademischen Definitionsmacht unbeeinflusst arbeiten. Aus diesem Grunde überwanden sie die Ausschlussmechanismen der Kunst, was ihnen in Stuttgart anscheinend zum Nachteil gereichte, wo sie ausgerechnet von Kunsthistorikerinnen dafür mit Nichtbeachtung bestraft wurden. Neben den genannten haben Carolee Schneemann und Anna Oppermann (dazu: Künstlerlexikon Oppermann) die Ateliersituation selbst und Gegenstände aus dem Atelier zum Kunstwerk gemacht, und nicht wie die außerdem in der Ausstellung vertretene eher konventionell arbeitende Lisa Milroy, ihren Alltag im Sinne einer retinalen Kunst abgebildet. Mehr Werke als die von 5 Künstlerinnen hätten Alternativen zu den auf Atelieransichten basierenden stereotypen Selbstdarstellungen vermittelt, wie Julia Behrens in ihrem Katalogbeitrag andeutet (26).

Verfressen wie Feuer ist sie nicht
Die Implikationen der Ateliersituation im Werk von Künstlerinnen unterscheidet sich von Installationen männlicher Kollegen, welche die Dekonstruktion des Ateliers mit drastischen Mitteln, wie dem der Burleske betrieben (Paul McCarthy) oder als ein erzählerisches Tänzchen mit Pinsel und Farbe für die Kamera veranstalteten (Jonathan Meese). Meese führte demonstrativ vor, dass die künstlerische Produktion ein einziges lockeres Spiel ist. Das entspricht ironischerweise sowohl dem Mythos der künstlerischer Arbeit als auch einer Utopie der Arbeitswelt, welche die Erwartung hegt, die Automation möge den arbeitenden Menschen endlich die versprochene Entlastung bringen, statt diese immer wieder schrittweise einer erhöhten Produktivität zu opfern. Hier beginnt wie in den einzurichtenden Ensembles Anna Oppermanns die künstlerische Arbeit über die Ufer zu treten, sie ist nie beendet und kontinuierlich aus- und anbaufähig – eben rhizomatisch. Sie ist vielleicht auch einnehmend, doch keineswegs, wie behauptet, verfressen wie Feuer.

Johannes Lothar Schröder