Zeit auf NULL stellen

Zwischen 1964 und 1987 hat Joseph Beuys bei mehreren Aktionen Wecker und Stoppuhren benutzt. Sie stehen oder liegen meist herum und wurden selten benutzt, weshalb sie leicht zu übersehen sind. Hier wird erörtert, warum sie ein wichtiges Verbindungsstück des Künstlers mit FLUXUS darstellen und überhaupt ein Indikator für die Hinwendung Beuys‘ zu den Zeitkünsten sind.

Ein Wecker mit zwei Glocken stand am Fuß einer fast körperhohen Lautsprecherbox hinter der Beuys während der Aktion : >>Hauptstrom>> und Fettraum am 20. März 1967 in Darmstadt hockend in einer meditativen Haltung verharrte, als würde er dort Deckung suchen

J. Beuys: Hauptstrom und Fettraum, 1967, Foto von Camillo Fischer aus: Eva Huber, Hauptstrom und Fettraum. Ein Lehrstück für die fünf Sinne. Darmstadt 1993, S. 82

Ein anderer großer Wecker mit Metallgehäuse stand auf einem Konzertflügel, den Beuys spielte. Zu Ehren des Organisators von Fluxus gab er 1987 mit Nam June Paik, der an einem zweiten gegenüber aufgestelltem Flügel saß, das Konzert In memoriam George Maciunas.

Die Uhren in diesen Performances sind kaum beachtet und nur zögerlich in Deutungen eingeflossen. Uwe M. Schneede hat die Stoppuhr bei der Aktion EURASIA Sibirische Symphonie 1963, die Beuys 1966 in der Galleri 101 in Kopenhagen aufgeführt hatte, bemerkt und deutete die Zeitlichkeit im Hinblick auf die beiden Halbkreuze historisch. Schneede bezog sich auf Beuys Wunsch, das Schisma, also die Spaltung des Christentums in eine ost- und eine weströmische Kirche zu überwinden, um auch die unterschiedlichen Wesensarten der Menschen zusammenzubringen. Entsprechend vermutete der Kunsthistoriker in den Stoppuhren angelehnt auch an den Titel eine Anspielung auf die Geopolitik des Doppelkontinents, die er vorsichtshalber mit einem Fragezeichen versehen hat.[i] Dieser Interpretationsvorschlag scheint besonders hinsichtlich der Verwendung von Uhren auch in anderen Aktionen von Beuys, in Bezug auf Dadaismus und Neo-Dadaismus wenig stichhaltig. Eine mögliche Bewandtnis von Uhren mag zunächst einmal innerhalb einer zeitlichen Orientierung liegen, die Beuys als bildender Künstler mit seinen Aktionen suchte. Man muss sich vor Augen führen, dass diese anfänglich ein Experiment waren, mit denen Beuys nach dem Krieg, inspiriert von Fluxus und Happenings als mittlerweile 43-Jähriger seinen Platz in der damaligen Gegenwartskunst suchte. Diese hatte sich während des Krieges und danach vor allen Dingen im Ausland weiterentwickelt, während deutsche Künstler ihren Platz erst wieder finden mussten. Die Faszination, die von Stoppuhren ausging, lässt sich durch die Strahlkraft von neuen Gegenständen erklären, die heute von elektronischen Geräten ausgeht. Stoppuhren wurden zwar schon im 19. Jahrhundert entwickelt, jedoch erst bei der Winterolympiade 1936 erstmalig offiziell eingesetzt. Beuys war damals 15 Jahre, also in einem Alter, in dem junge Leute von Innovationen und Fortschritt begeistert sind.

Uhren im Dadaismus

Als die Stoppuhren olympisch zum Einsatz kamen, hatten die dadaistischen Künstler, sofern sie konnten, Deutschland längst verlassen. Im Exil begeisterte die Rezeption von DADA eine kommende Künstlergeneration, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die verödete Bühne der Kunst auch in Europa betrat. Deshalb ist es nicht unerheblich, dass Hans Richter in einer Publikation, die 1965 im amerikanischen Exil veröffentlicht wurde, beispielhaft Gegenstände aus seinen Filmen aufzählte. Neben Beinen, Leitern und Hüten erwähnt er auch Uhren. Offensichtlich bezieht er sich auf seinem Film Vormittagsspuk von 1928, in dem „überwiegend natürliche Elemente, die durch ihre stark rhythmischen Bewegungen auffallen“, auf unübliche Weise eingesetzt werden. Dennoch bemerkt er, dass die Uhr „am Anfang (des Films) 11:50 und am Ende 12h mittags angezeigt hätte“, was durchaus ihrer faktischen Funktion als Zeitmesser entsprach. Wie Richter weiter ausführte, gaben sie dem Film, „der voller verrückter Ereignisse war, die dennoch eine Art Geschichte ergeben“[ii], eine real überprüfbare Dauer.

Nun scheint es so zu sein, dass sich die Gegenstände, von denen sich Richter angezogen fühlte, auch im zweiten Dadaismus, dem Neo-Dada, von dem sich auch Beuys nicht allein durch George Maciunas inspirieren ließ, anhaltender Beliebtheit erfreuten. Das lässt sich beim Blättern jedes Katalogs mit Abbildungen von Werken der Fluxuskünstler überprüfen. Es sollte keine Mühe machen, darin Uhren, Füße (Schuhe), Leitern und Hüte zu finden.[iii] Besonders Hüte und Uhren kann man leicht als Fetische und Statussymbole identifizieren, weshalb Richters Hut-Meute, die er im Garten über den Rasen fliegen lässt, Hüte als Symbole patriarchaler Autoritäten parodistisch infrage stellt. Anders verhält es sich mit den Leitern, die als Hilfsmittel beim Aufbau von Ausstellungen unentbehrlich sind und von Fluxuskünstlern gerne als Requisiten in Aktionen verwendet wurden. Als Symbole manifestieren sie den Vorstoß in die Höhe. Als profane Himmelsleitern relativieren sie die transzendentale Ebene und weisen trotzdem auf das durch die Profanierung der Kunst eingetretene Defizit hin. Bekannt ist, dass Hugo Ball sich „Magischer Bischof“ nannte und sich Beuys als Schamane gab. Um das Erreichen einer immaterielle Ebene zu unterstreichen, trugen Ball bei seiner berühmt gewordenen Aktion im Cabaret Voltaire einen hohen Zaubererhut und Beuys nicht nur während seiner Performances einen Stetson.

Stoppuhr als Gadget

In den 1960er Jahren machten Stoppuhren Furore. Sie sind ein must have, wie wir heute sagen würden. Daher wurden sie auch als Kinderspielzeuge produziert, was die Begehrlichkeit populärer Gegenstände unterstreicht, denen sich auch Künstler nicht entziehen konnten. Insofern standen die Stoppuhren, die Beuys in mehreren Performances einsetzte, schon in einer gewissen, wenn auch kurzen Tradition. Dennoch erfordert es eine hohe Aufmerksamkeit, unerwartete Gegenstände auf den unter schlechten Lichtverhältnissen aufgenommenen Fotos zu identifizieren. Während seiner ersten öffentlichen Performance am 20. Juli 1964 im Hörsaal der RWTH in Aachen hielt Beuys eine Stoppuhr in seiner linken Hand, während er mit der rechten die Temperatur der Elektrokochplatte sondierte. Die Stoppuhr gibt der Szene eingangs der beabsichtigten Fettschmelze den Anstrich wissenschaftlicher Präzision. Der erste Teil des Titels der Aktion Kukei, akopee-Nein, Braunkreuz, Fettecken, Modellfettecken verweist dagegen auf Kindersprache. Konkret ist ein Ausspruch von Beuys Sohn überliefert, der nicht zum Eierkaufen mitgehen wollte und solches sagte. Ei heißt in der Rheinischen Kindersprache Kukei und akopee bedeutet einkaufen.

Abb.2 und 3 Zeichnung des Autors nach einem Foto der Aktion Kukei, akopee-Nein, Braunkreuz, Fettecken, Modellfettecken, Foto von …  (Mich hat dieser Titel jedenfalls dazu verführt, anfangs statt der Stoppuhr ein Ei in der Hand von Beuys zu erkennen und es so abzuzeichnen.) Abb. 3 Ausschnitt aus der Abbildung des Fotos von Peter Thomann, in: Schneede: Joseph Beuys: Die Aktionen, Stuttgart 1994

Möglicherweise benutzte Beuys dieselbe Stoppuhr ein Jahr später, am 5. Juni 1965, bei der Performance und in uns … unter uns … Land unter … in der Gal. Parnass in Wuppertal. Auf einigen Fotos von Heinrich Riebesehl und Ute Klophaus erkennt man jedenfalls eine Stoppuhr zwischen einem Stromkabel und dem Haufen Fett, auf dem Beuys Füße stehen, die in einem Paar Schuhe mit einem markanten quer gerillten Profil stecken.

Was Stoppuhren besonders macht

Die Verwendung der Stoppuhr wäre trivial, wenn sie zuvor nicht wesentliche Parameter in der Arbeitswelt und im Sport grundlegend verändert hätte. Die Stoppuhr ist nämlich im Gegensatz zur Sonnen-, Stand-, Taschen- und Armbanduhr kein Instrument der zyklischen Zeitmessung. Die Stoppuhr misst die Dauer eines Ereignisses linear. Sie macht die Zeit für eine bestimmte Strecke oder eine bestimmte Arbeit vergleichbar. Als ein Instrument, das bei der Messung von Arbeitsintervallen eine entscheidende Rolle gespielt hat, wurde sie zu einer Voraussetzung der wissenschaftlichen Erforschung der Arbeit, die es erlaubte, Arbeitsschritte am Fließband zu zerlegen und zu optimieren, was die moderne Massenproduktion in Gang setzte.[iv]

Erst 50 Jahren später wurden Stoppuhren als offizielle Zeitmessgeräte z.B. bei Olympischen Spielen eingesetzt. Die ersten bei einer Olympiade gestoppte Zeit nahmen die Juroren bei einem Skirennen 1936.

Frappierend Auswirkungen im Sport

Entschied bis ins 19. Jahrhundert bei Wettbewerben derjenige der als Erster die Ziellinie überschritt, ein Rennen für sich, so laufen die Wettbewerber heute nicht mehr nur um den Sieg gegeneinander. Seit Rekordzeiten für die zurückgelegten Distanzen festgehalten werden, kämpfen alle Athleten auch gegen die Uhr. Sie haben nicht nur die Chance zu gewinnen, sondern auch der oder die Schnellste „aller Zeiten“ zu werden. Dieser Superlativ setzt stillschweigend voraus, dass die Läufer vor der Erfindung der Uhr langsamer waren. Dafür spricht, dass die Läufer vor der Erfindung der Zeitmessung nur schneller, weiter und höher als ihre Mitbewerber zu sein hatten. Heute müssen sie gegen alle bisher aufgezeichneten Bestmarken in einer Disziplin anlaufen, anspringen und anwerfen und dazu die letzten Reserven mobilisieren. Ganze Geschäftszweige sind entstanden, um die sport- und ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse umsetzen und um Techniken zu trainieren, damit auch neuerlich antretende Leistungssportler*innen gegen die von Generation zu Generation höher geschraubten Rekorde bzw. kürzeren Zeiten bestehen können. Die Zeitmessung hat nicht nur die Ergebnisse objektiviert, sondern treibt Sportler in einen Phantom-Wettbewerb gegen die Athleten aus der Vergangenheit.

Welches Verhältnis zur Zeit prägte Beuys

Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, welche Erfahrungen sich in der Benutzung von Uhren durch Beuys niederschlugen. Dagegen, dass Uhren lediglich als ein Statussymbol verwendet worden sind, spricht die Anlehnung des Künstlers an Fluxus während der betreffenden Zeit. Der Kontext seiner ersten Aktion auf dem Festival für Neue Kunst an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, die am 20. Juli 1964, also am 20. Jahrestag des Anschlags auf Hitler durch Stauffenberg, stattfand, spricht dafür, dass der Krieg bei seiner Aktion nicht unerheblich mitschwang, zumal an diesem Ort die wissenschaftlichen und ingenieurmäßigen Voraussetzungen auch für die Produktion von Waffen geschaffen wurden.

Zeit totschlagen

Beuys hatte sich bekanntlich freiwillig zur Luftwaffe gemeldet und war Berufssoldat geworden, womit er sich als 19-Jähriger der soldatischen Disziplin und einem strengen Zeitregime unterwerfen musste. Nicht zuletzt weil sein Traum, Pilot zu werden, platzte, musste er als Gefreiter und späterer Unteroffizier unter dem Wechsel aus Drill und Nichtstun gelitten haben; hatte er doch nach der Ausbildung vier Jahre lang den grotesken Kontrast zwischen lebensgefährlichen Einsätzen und einer öden Routine des Kasernenalltags auszuhalten. Nach den Einsätzen auf der Krim mit der Bombardierung von Sebastopol wurden Stukas nur noch selten benötigt, denn sie waren schnelleren alliierten Abfangjägern unterlegen. Zudem konnten sie wegen ihrer geringen Nutzlast nur noch selten als Bomber abheben. Die Besatzungen mussten Zeit totschlagen und ihre jungen Jahre verstrichen. Auch im Ausland, wie auf einer Luftwaffenbasis in Foggia wurden nur wenige Übungen und ein paar Einsätze jenseits der Adria geflogen. Ansonsten war den Soldaten der Umgang mit Einheimischen verboten.

ZEIT AUF NULL STELLEN

Gegenüber dem Verrinnen der Zeit, für das die Sanduhr seit jeher ein Symbol ist, das mit dem des Todes verbunden ist, verkörpert die Stoppuhr, die sich auf Null zurückstellen lässt, die Chance des Neuanfangs. Stoppuhren lassen sich zur Ermittlung von Zwischenzeiten sogar anhalten und laufen mit einem zweiten Klick weiter, weshalb sie die Möglichkeit bieten, Zeit in messbare Intervalle zu zerlegen. Die Utopie der Nullstellung von Zeit sah Walter Benjamin durch französische Revolutionäre eingefordert, die in der Julirevolution von 1830 am Ende von Straßenkämpfen unabhängig voneinander auf Uhren geschossen haben sollen. Schon die Revolution von 1789 hatte als Basis eines revolutionären Neuanfangs die Einführung eines neuen Kalenders gebracht, dem statt der traditionellen Aufteilung in 12 Monate, 52 Wochen und 24 Stundentage, das Dezimalsystem mit 10 Monaten zugrunde gelegt wurde. Bemerkenswerterweise schlagt in der Stoppuhr die traditionelle Unterteilung der Zeit nach dem Duodezimalsystem, das die Stunden in 60 Minuten und Minuten in 60 Sekunden teilt, nach dem Komma in das Dezimalsystem um, so dass die Sekunden in Zehntel, Hundertstel und Tausendstel unterteilt werden. Hier koexistiert ein Rest des Dezimalsystems, das nach der Französischen Revolution die Zehntagewoche gebracht hatte, mit der traditionellen Zeitmessung, die wieder eingesetzt worden ist, weil Wochen mit 10 Tagen unzumutbar waren.

Die Funktion der Stoppuhr, die beliebig viele Neuanfänge suggeriert, kam Beuys entgegen, der nach dem Krieg mit dem Kunststudium einen Neuanfang gewagt hatte, aber durch eine Depression wieder zurückgeworfen wurde. Nach seiner Zeit auf dem Hof der Familie van der Grinten fand er als Lehrbeauftragter an die Kunstakademie zurück, wo es zur Begegnung mit Fluxuskünstlern kam. Ihre unakademische Auffassung der Kunst vermittelten Beuys einen Impuls, der sein Verhältnis zur Kunst veränderte. Mit seiner ersten Aktion 1964, die er als 43-Jähriger durchführte, begann er einen künstlerischen Weg bei NULL.[v]


[i] (Schneede, 1994) Schneede bezieht sich auf die Utopie von Rudolf Steiner und schreibt: „In diesem Sinne stellte Beuys eine Vereinigung der angenommenen östlichen Intuition und der angenommenen westlichen Vernunft als Basis gegenseitiger Befruchtung und politischer Befriedung vor. Die beiden kleinen Kreuze dürften auf die frühe Trennung der Religionen (Rom – Byzanz) und damit auf die Notwendigkeit, diese Trennung zu überwinden, hinweisen. An die Stelle des zuvor bei Beuys eingesetzten Erlösungssymbols der Sonne erhielten die Kruzifixe hier aufgezogen Uhren – Hinweise auf die zeitliche Begrenztheit und damit Historizität der politischen und der geistigen Teilung?“ (S. 129) Schneede versieht seine Vermutung mit Recht mit einem Fragezeichen, denn eine vermeintliche Sonne ist unter den Stoppuhren nicht auszumachen. Die Feststellung, dass die Uhren aufgezogen seien, ist irrelevant, weil das nur eine Rolle spielt, wenn sie konkret zur Zeitmessung eingesetzt werden.

[ii] In:  Richter, “My Experience with Movement in Painting and in Film,” in:  The Nature and Art of Motion, ed. by Gyorgy Kepes (New York: George Braziller, 1965), 155. Zit nach: Richter’s Films and the role of the radical artists, by Marion von Hofacker, In: ACTIVISM_MODERNISM_AND_THE_AVANT-GARDE ed. By Daniel Valdes Puertos, (Anm 17), S. 134

[iii] Als Beispiele seien hier nur das Archiv Sohm in der Staatsgalerie Stuttgart (Kellein, 1986) und der Katalog der Sammlung Silverman (Hendricks, 1983) genannt.

[iv] Frederick Winslow Taylor hatte seit 1880 die Stoppuhr eingesetzt, um Arbeitsschritte zu zergliedern und zu optimieren  (Giedion, 1982), S. 122, 140

[v] Einen voraussetzungslosen Neuanfang hatte auch die Gruppe ZERO unter anderen ästhetischen Vorzeichen zu ihrem Namen gebracht, denn sie experimentierten mit Licht und Abstraktion. Mit dem Titel Le Degré zéro de l’écriture (Paris 1953) hatte Roland Barthes der französischen Literatur einen Neuanfang bescheinigt.

Selbstlaufende Autoteile

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele performen HYPEROBJEKTE?
in den Sophiensälen in Berlin im Februar

und im WUK performing arts in Wien im März

Monolithisch ragten zwei hochkant aufgestellte ausgeschlachtete Karosseriehälften auf. Dazwischen standen Bauteile von Kraftfahrzeugen. Türen, Sitze, Motorhauben und Scheinwerfer in Transportkäfigen bereit. Von den beiden Protagonisten verschoben und in Funktion gesetzt, begannen die Autoteile gemeinsam mit ausgebauten Scheinwerfern, Blinkern, Bremsleuchten und Scheibenwischern ein Eigenleben zu führen. Mit Akkupacks versehen, waren sie von keiner zentralen Stromversorgung mehr abhängig, so dass sie frei beweglich ihren Tanz in der von Scheinwerfer und Blinker beleuchtet Installation begannen, in der verstärkte Grundgeräusche wie Fahrtwind, klackende Blinker und tickende Relais Takt und Ton vorgaben.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Eine der in das Stück integrierten Lectureperformances brachte die Konstruktion des ersten Atomreaktors in Chicago durch den Atomphysiker Enrico Fermi zur Sprache. Die Zuschauer*innen erfuhren, dass dem Forscher seine Qualitäten als Leichtathlet nützten, weil er die zu untersuchenden Proben zur Messung von Halbwertszeiten des Nuklearmaterials blitzschnell von einem Labor in ein anderes bringen konnte. Da diese Experimente im bitterkalten Winter in ungeheizten Laboren stattfanden, trug das Forscherteam Waschbärenmäntel der Baseballmannschaft der Universität. So verstand man auch die Anspielung von Florian Feigl und Otmar Wagner besser, die anfänglich in Pelzmänteln auftauchten. Darin stellten sie sich auch in die Tradition der ersten Automobilisten, die im Freien auf einer Kutscherbank thronten, ohne Karosserie und vorgespannte Pferde saßen sie mit dem Motor auf vier Rädern und mussten sich vor Wind und Wetter schützen.

Beide Performer hatten sich aber nicht nur in die Kluft von Automobilisten geworfen, sondern erschienen im zweiten Teil der Aktion, nach dem Ablegen der Mäntel, in weißen Kitteln im Stil von Künstlern, Ingenieuren und Konstrukteuren der 1920er Jahre. So ausgestattet und sich in Karosserieteile hineinzwängend, scheinen sie die Fahrgastzelle als Labor zu nutzen. Ein anachronistischer Kontrast, denn mit ausgedienten Autokarosserien geben sich heute weder Forscher noch Pioniere ab. Außerdem waren wesentliche Teile des Autos wie Motor, Getriebe, Kardanwelle, Lenk-  und Antriebsachsen ausgebaut. Zerlegt, mit leerem Tank und ohne Ölwanne wird das Auto verfügbar, weshalb sich diese Darsteller von Künstleringenieuren tatsächlich eher als Forscher an einem Begriff erweisen, denn als Entwickler von Maschinen. Ihre Aktivität ist der Dekonstruktion der Auffassung vom Automobil als Fetisch gewidmet. Mittels der Installation definieren Wagner und Feigl die Bestandteile der Technologie der individuellen Fortbewegung in mehreren Schritten neu, was auch den Untertitel „Blech und Gewebe“ erklären könnte.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Technokratische Überlegungen lassen die irrationalen Ängste vieler Autobesitzer meist außen vor.  Diese träfe der Verlust eines Statussymbols viel stärker, als die Möglichkeit nicht mehr von der Stelle zu kommen. Diese Schwäche zeigt sich nicht nur in der panikartigen Zurückweisung neuer Verkehrskonzepte, sondern im massenhaften Kauf klobiger Sport-Nutzfahrzeug-Hybriden, den sogenannten SUV, die übermotorisiert sind, andere Verkehrsteilnehmer einschüchtern und allen Argumenten zum Trotz die Bereitschaft zur Eskalation statt zur Kooperation ausdrücken.

Es sieht also ganz so aus, als würden sich die ankündigenden Veränderungen genauso schmerzhaft auswirken, wie der Abschied von der Kutsche, an deren Größe, Pracht und vorgespannter Anzahl der Pferde sich der Status des Besitzers ablesen ließ. Ein kleines knatterndes Automobil ohne Zugtier machte nicht viel her und lässt sich daher heute noch leicht belächeln. Vielleicht werden unsere Enkel sich über die gerade vermarkteten und fortschrittlich geltenden Elektroautos mit mächtigen Karosserien lustig machen, denn sie ahmen wie die kutschenartigen Autos von anno dazumal die alte Vehikelform nach. Als Imitation der gewohnten alten lassen sich neuartige Fahrzeuge noch nicht als eigenständige Ikonen lesen und müssen sich vorerst ihr Prestige von den Verbrennern ausleihen. Dabei sehen einige Autotypen sogar wie Rennwagen aus, in denen Plätze für Passagiere geschaffen werden müssen, in denen sie dennoch langsamer unterwegs sind wie die Fahrgäste von Hochgeschwindigkeitszügen.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Ohne sichtbare High-Tech-Features platzieren Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele sich in einem Niemandsland der Mobilität und dennoch wurde die Kantine der Sophiensäle ein temporäres Entwicklungslabor des Wandels. Wagner und Feigl zerstörten das Auto nicht lustvoll wie der Perkussionist Stefan Gwildis mit Vorschlaghammer und Flex, sondern sie machen es durch Zerlegen dysfunktional und ermöglichen den Bauteilen ein komplexes Eigenleben. Auch das hat viel mit Musik zu tun und ist von Industrial und Fluxus inspiriert: Scheibenwischerarme schlagen gegen Motorhauben, rühren in Tankstutzen herum, heben sogar einen kompletten Tank an und tanzen wie Insekten mit nur noch einem Bein. Die Wisch-Wasch-Anlage beeindruckt als plätschernder Springbrunnen und das kinetische Objekt aus Frontscheibenwischern auf einem Mikrofonständer verblüfft als sich automatisch schief stellendes Notenpult und mechanischer Dirigent zugleich. Inmitten sich kreuzender Scheinwerfer bleibt die metallenen Szene in ein unruhiges Licht getaucht, über die alle 20 Minuten der höllische Lärm eines startenden Passagierjets losbricht.

Und wohin geht die Reise?

©Johannes Lothar Schröder

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele: HYPEROBJEKTE?
Wagner und Feigl arbeiten daran… Blech und Gewebe I-IV
in der Kantine der Sophiensäle am 26., 27., 28. und 29. Februar 2020

Blech und Gewebe V – VII
à im März: im WUK performing arts
Einzug in den Projektraum: Sa., 21.3. 21 Uhr, Vorstellungen Do., 26.3., 19:30 Uhr sowie Fr., 27. bis Sa. 28.3.2020 21 Uhr, Projektraum

Gesten im permanenten Austausch

Modalitäten der Gestenforschung  bei Boris Charmatz, Fabian Marcaccio und Boris Nieslony

Gesten aus der Zeit holen

„10.000 Gesten“ heißt die Choreografie von Boris Charmatz, die am Wochenende vom 27. – 29. September 2019 auf Kampnagel in Hamburg von 20 Tänzer*innen aufgeführt wurde. Nicht nur der Titel fordert eine Reflexion über Gesten heraus. Erst recht der Vortrag der Tänzer macht deutlich, was Anzahl und Herkunft von Gebärden bedeuten, die von weit her aus der Menschheitsgeschichte kommen und in die Zeit vor der Zeit reichen, aus der weder Zeichnungen noch Bilder erhalten sind, die wenigstens eine rudimentäre Nachvollziehbarkeit ermöglichen würden. Damit berühren sich Gebiete der Vor- und Frühgeschichte, Anthropologie, Bildwissenschaft und der Performance Studies. Zusätzlich kommen Rituale, Tänze, Film, Theater, Spiele, Sport, Gymnastik, Feste und Feiern ins Spiel.

Boris Charmatz, Musee de la danse ‘10000 Gesten’. Choreographie: Boris Charmatz, Choreographie Assistent: Magali Caillet Gajan, Licht Designer: Yves Godin, Kostueme: Jean-Paul Lespagnard, Stimmtraining: Dalila Khatir, Technische Leitung: Georg Bugiel, Fabrice Le Fur. Volksbuehne Berlin. Berlinpremiere: 14. September 2017.
Mit Djino Alolo Sabin, Salka Ardal Rosengren, Or Avishay, Regis Badel, Jessica Batut, Nadia Beugre, Alina Bilokon, Nuno Bizarro, Matthieu Burner, Dimitri Chamblas, Olga Dukhovnaya, Sidonie Duret, Bryana Fritz, Kerem Gelebek, Alexis Hedouin, Rémy Héritier, Samuel Lefeuvre, Johanna Lemke, Maud le Pladec, Mani Mungai, Jolie Ngemi, Noé Pellencin, Solène Wachter, Frank Willens.
Foto: Gianmarco Bresadola, (Ausschnitt), Coutesy: Kampnagel, Hamburg 2019

Eine erste Aufführung des Stücks hieß  folgerichtig auch „Musée de dance“. Allein über 2000 Gebärden legte die schwangere Solistin nach ihrer sporadisch kurz einsetzenden eigenen Zählung in einem atemberaubenden Tempo innerhalb der ersten 10 Minuten auf der Bühne vor. Das macht fast 4 Gesten pro Sekunde. Das ist weder Zauberei noch Betrug, denn schon 18 Gelenke an je einem Arm oder Bein potenzieren sich, nur je einmal bewegt schon beim Stillstand aller anderen Gelenke und bei je zwei Bewegungen gegenüber den nacheinander 16 anderen stillstehenden Gelenken, dann drei usw. bis zur gleichzeitigen Bewegung aller Gelenke lassen sich in der vierten Potenz zu über 46.000 Bewegungen multiplizieren. Außerdem lassen sich die  Extremitäten zusätzlich unabhängig in alle möglichen Richtungen bewegen. Schon deshalb entziehen sich Gesten einer mathematischen Berechnung, die erst recht nicht greift, wenn ihre Bedeutungen ermittelt werden sollen. – Im konkreten Fall hätten wir außerdem die synchronen Bewegungen des mittanzenden Fötus zu berücksichtigen! – Auch ist Beginn und Ende einer Geste, wie Charmatz es in einem Interview mit Gilles Amalvi 2016 problematisierte, (www.kampnagel.de/kosmos) fragwürdig. Ein kinematografischer Ablauf muss also durch permanente Übergänge ausgeglichen werden, um einen unerwünschten Stillstand zu vermeiden. Also übernahmen die Tänzer innerhalb dieses Feldes die Aufgabe, an die Grenzen der Möglichkeiten zu gehen, wobei sie auch ihr während der Ausbildung internalisiertes Repertoire objektivierten,  es mit Gesten des Alltags (Aufwachen, Augen reiben, sich strecken, Essen, Gehen, Laufen, Zähne putzen etc.) anreicherten. Die zwanzigfache Tour de force umfasste schließlich die Erkundung der Gebärden vieler Berufe, der Kämpfenden, Streitenden, Redenden, Sterbenden, Erschreckenden und Erschrockenen, Beobachtenden und Beobachteten, Mordenden und in Agonie Liegenden, Helfenden, Tragenden und Getragenen, Verzweifelten und Tröstenden, Hungernden und Speisenden, Bettelnden und Gebenden, Entdeckenden und Entdeckten, Verlierenden, Trauernden und Erheiterten, Flüchtenden und Treibenden, Einladenden und Eingeladenen, Frierenden, Gebärenden, Singenden und Musizierenden.

An- und abschwellende Intensität

Die Aufgabe des Regisseurs war es, die gesammelten Ergebnisse der tänzerischen Gestenforschung überwiegend simultan auf die Bühne zu bringen, was nach dem anfänglichen Solo entfesselt von den aus verschiedenen Eingängen auf die Bühne stürmenden Tänzer*innen mit Schwarmintelligenz in Angriff genommen wurde. Beschleunigung und Beruhigung strukturierten das Chaos bis zu den Kippstellen, an denen sich die Solisten berührten, anzogen oder abstießen sowie Paare, Gruppen und Rudel bildeten. Ein Rhythmus aus konzentrischen Kreisen, Zusammenstößen und Pausen bildete sich mit der kaum merklich einsetzenden Musik des Requiems in D-Moll von Mozart heraus. Harmonie wurde nicht gesucht. Ansätze dazu ergaben sich vielmehr aus dem An- und Abschwellen der Lautstärke aus dem off und durch die Reibung der Tänzer*innen an den Bewegungen der anderen. Es ergaben sich Zusammenrottungen und Auflösungen sowie wechselnden Phasen der Korrespondenz, des Ignorierens und der Entgegnung.

Perugino: Angesichts der rhythmisch gestaffelten Gesten und eleganten Bewegungen erscheinen Gemälde der Renaissance vorbildhaft. Man beachte die Aufstellung der Teilnehmenden am Hauptereignis und die Menschen auf dem Platz in Pietro Peruginos Christus übergibt die Schlüsse an Petrus, das der Maler mit Assistenten in den Jahren 1481 – 1482 als Fresko (335 x 550 cm) in der Sixtinische Kapelle des Vatikans gemalt hat. Nur wenige Attribute wie die Schlüssel und der Winkel des Baumeisters ergänzen die Gesten. Quelle: gemeinfrei

Die Bühne wurde zur Agora, auf der sich trotz der Trägheit der Wahrnehmung innerhalb wechselnder Geschwindigkeiten des Vortrags und der Anzahl der Tänzer*innen Momentaufnahmen von Siegern, Rekordhaltern, Gestürzten, Verlierern, Priester*innen, Held*innen, Krieger*innen, Trauernden, Feiernden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, sei es aus der Kunst, dem Sport, der Werbung, der Mode, dem Film, dem Theater, der Politik, der Wissenschaft zeigten. Je nach Tagesform und abhängig von kultureller und beruflicher Bildung konnten aus der laufenden Schau zeitgenössische Ausformungen psychophysischer Bewegungsmuster identifiziert und mit den Vorläufern geronnener Körperbilder in Skulpturen, auf Mosaiken und Gemälden abgeglichen werden. Pflanzende und erntende Bauern, Steine und Geräte schleppende Arbeiter, Reitende und Jagende waren genauso vertreten, wie Ringende und sich Schlagende, Segnende, Triumphierende, Niedergeschlagene, Gefallene und Hingerichtete. Entsprechend gewürzt waren die Gesten mit Anfeuerung, Demut, Resignation, Schrecken und Niedergeschlagenheit, mit Kratzen am Kopf, Raufen der Haare, Popeln in der Nase, Reiben an Ohren, Armen, Beinen und Genitalien.

Prägungen aufgeben

In kurzen Momenten genügten die Darsteller*innen in ihren Kostümen von Jean-Paul Lespagnard, der sie in Schlüpfer, Unterwäsche, Overalls, Sommerkleider, Trikots, Negligés, Jumper oder Kombianzüge gesteckt hatte, sich selbst, um danach wieder mit Geschlechterrollen in Varianten von Protzen, Sich-Anbieten, Calisthenics, Kraftsport und Posen zu spielen. Imponierende Muskelschau konnte mit dem Wiegen der Brüste beantwortet werden, so wie kühne Sprünge mit einem unterwürfigen Rollen. Ein sich Aufbäumen wechselte mit Schlagen und Fallen.

Während die Intervention der 20 Tänzer*innen im letzten Viertel schließlich die Publikumsränge stürmten und die Zuschauer*innen in ihr adrenalingesättigtes Spiel mit Gesten verwickelten, zählten sie bereits in den Achttausendern, während sie einzelne Zuschauer in die Mangel nahmen, auf ihrem Schoß sitzend wie Kinder ein Lenkrad drehten, ihnen ihren Schweiß zu spüren gaben, sogar den Hintern ins Gesicht streckten. Arbeit und Freizeit wurden konfrontiert. Anzügliche Gesten und Annäherungen hoben die Distanz zum Theaterdispositiv auf – man könnte sagen, dass es wirklich geschah – kein Medium war mehr dazwischen. Folglich konnten Programmhefte zerrissen und Gesten der Zärtlichkeit getauscht werden. Aber auch eine Reflexprüfung am Knie fand statt, während ein aus dem rückwärtigen Teil der Bühne grell beleuchteter Solist mit einem langen Schatten geschweift einsam weiter tanzte.

Fixierungsversuche

Diese unmittelbare Seite der Gesten aus tänzerischer Sicht bezieht jedoch ihren Stoff auch aus der bildenden Kunst. Ihre physische Seite könnte man fast schon dank der Konzeptkunst vergessen haben, hätten sich nicht viele Künstler*innen wie Bruce Naumann, Ulrike Rosenbach oder Marina Abramovic intensiv mit dem Körper beschäftigt. Auch haben sie ihn wie etwa Chris Burden durch Body Works als Skulptur neu definiert. Weniger bekannt ist hingegen, dass Fabian Marcaccio zwischen 1989 und 2004 ein Kompendium von 661 Malgesten angelegt hat. Er nannte seine Enzyklopädie der Spuren des physischen Farbauftrags „conjectures for a new paint management“ (~Hypothesen zur Neuordnung der Malerei). Man erkennt sofort, um wie viel schwerfälliger ein indirektes Verfahren der Bewegungsaufzeichnung ist, in dem von Spuren ausgegangen wird, die eine mit Pinsel und Farben bewährte Hand auf einem Malgrund hinterlässt. Doch auch in 10.000 Gesten… entstand eine malerische Spur: Nachdem alle Tänzer auf die Bühne eingefallen waren, beruhigten sich kurzzeitig alle Bewegungen als sich ein Tänzer löste und mit der Zunge zwei sich kreuzende Spuckespuren auf die Mitte des Tanzbodens vor dem Publikum leckte.

Immer unterwegs: Gesten in Fluss

Gleichwohl ist die Auseinandersetzung auch in der Performance-Kunst nicht nur aktionistisch. Nachdem in den 1970er Jahren der deutsche Künstler Boris Nieslony das Feld der direkten Auseinandersetzung zwischen Kollegen als aktionistisches Terrain entdeckte, bezog er auch die physischen Möglichkeiten der Begegnung in den Dialog und schließlich in seine Performances ein. Gleichzeitig gab er nicht nur die Malerei auf, sondern begann Abbildungen von menschlichen Gesten und Verhaltensweisen zu sammeln.

Nieslonys Leistung liegt in der Erforschung von Gesten und Verhaltensweisen mittels einer Bildersammlung, die als Das anthropognostische Tafelgeschirr firmiert. Die Sammlung von Ausrissen aus Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten umfasst heute ca. 40.000 Stück, die in hunderten Archivkästen und Ordner gesammelt und nach Themen geordnet sind, die Bereiche der menschliche Bewegungen und Verhaltensweisen wie das Gehen, Umarmen, Schlafen, Tanzen, Lächeln und Sterben mit der dazugehörigen Mimik und Gestik umfassen. Inzwischen sind Tafeln entstanden, auf denen ausgewählte Beispiele für Ausstellungen ausgebreitet werden können.

 

Ausschnitt aus einer der Tafeln zum Thema tragen.
Ansicht in der Ausstellung „Boris Nieslony – Das es geschieht, Museum Ratingen bis 6. Okt. 2019, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst Bonn 2019

Der Beziehungen zwischen Nieslonys Sammlung und Aby Warburgs Fotosammlung (Bilderatlas) sind erst in letzter Zeit von Gerhard Dirmoser aufgezeigt worden. http://thelyingonthefloorabandonedtolie.blogspot.com/ Die Motivation Warburgs, der als Kunsthistoriker großbürgerlicher Herkunft die Kunstgeschichte nach Spuren der Weitergabe und Migration menschlicher Verhaltensweisen und Kommunikation nachging, lebt von anderen Voraussetzungen, doch bleibt seine These, dass die kulturellen Verhaltensmuster in der Geschichte der Menschen zwischen den Kontinenten wandern und ausgetauscht werden für das heutige Verstehen interkultureller Kommunikation grundlegend. Das permanente Entdecken von Gebärden und die spontan zum Vorschein kommenden Bewegungen wie auch ihr Verschwinden, also der Fluss des kulturellen Repertoires, sind der Antrieb in diesem spartenübergreifenden Feld, in dem sich Tänzer*innen, Künstler*innen und ihr Publikum bewegen. Die Utopie liegt im Austausch.

Boris Nieslony: Das Paradies 2019, Museum Ratingen, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

Wie aber ist der Austäusch zwischen denen, die sich bewegen, und denen, die dabei zusehen, organisiert? Wenn man bedenkt, dass ephemere Ereignisse nur relativ wenige Zuschauer erreichen, ist das Wissen um das Verhältnis von Bewegungen und Gesten zu Bildern und Bildmedien von Belang. Das Bewusstsein über diese Zusammenhänge lässt sich an einem Modell ablesen, das Nieslony in der Ausstellung aufgebaut hat. Seit 1980 sammelt er Gläser, optische Linsen, Spiegel sowie Gegenstände aus den Bereichen Technik und Natur. Deren Installation in einer ausufernden Regalkonstruktion nennt er „Das Paradies“, weil sich die Teile zu realen und imaginären Maschinen zur Aufzeichnung, zum Betrachten und Verarbeiten von Bildern und Präparaten zusammensetzen lassen. Vielleicht gibt sich darin auch ein Modell des Wahrnehmungsapparates aus den erweiterten Möglichkeiten der Sinne und ihrer Vernetzung mit dem Gehirn zu erkennen. Ihr Zusammenwirken stellt sich ein bildender Künstler natürlich anders vor als Physiologen und Psychologen und so gelingt es ihm mit seinem Wissen als Performer zur Herkunft der Gesten vorzustoßen, indem er die Abläufe befragt, in die er sich begibt, die er zulässt, in die er hineinhorcht oder in die er gezogen wird, wenn er sich bewegt. Im Filmporträt, das Gerhard Harringer 2010 über Nieslony gedreht hat, stellt der Performer folglich die treffliche Frage: „Was ist ein Bewegungsmuster bevor es Tanz wird.“

Johannes Lothar Schröder