Die Anschauung des Unsichtbaren

Die Initiative des Yoshiaki Kaihatsu

Hinter den Fenstern und Türen von Läden und Wohnungen sind die Vorhänge der fotografieren Häuser zugezogen. Schwer zu sagen, ob es ein Zeichen von Sonntagsruhe, Ferien oder Feierabend ist? Die Legende teilt mit, dass es sich um den Ort Iidate in der japanischen Provinz Fukushima handelt, den Yoshiaki Kaihatsu 2012 im Jahr nach der Havarie von 2 Reaktoren besuchte. Gespenstisch erscheinen die Eindrücke, die der Künstler festgehalten hat, weil alle Bewohner ihre Wohnungen und Geschäfte hinterlassen haben, als würden sie nach einem kurzfristigen Aufenthalt woanders bald wieder zurückkehren. Ihnen war nicht klar, dass sie nie wieder in ihre radioaktiv vergiftete Heimat zurückkehren würden. Im Vergleich mit den vom Tsunami zerstörten Geschäften in Kesennuma City (Provinz Miyagi), die Kaihatsu nach der Naturkatastrophe besuchte, bleibt die Ursache der Zerstörung durch Radioaktivität den Sinnen verborgen. Im Vergleich wird mindestens auf den zweiten Blick erkennbar, dass das eingedrungene Salzwasser das Wohnen in den durchnässten Wohnungen entlang der 500 Kilometer der japanischen Küste unmöglich gemacht hatte. Eine Reparatur oder ein Wiederaufbau von den durch Wasser zerstörten Häusern war möglich, und viele Bewohner konnten wieder zurückkehren. Die völlig intakten aber verstrahlten Häuser dagegen werden für mindestens eine wenn nicht mehrere Generationen unbewohnbar bleiben. Ohne dass mit visuellen Mitteln ein Mangel sichtbar gemacht werden könnte, werden sie in den kommenden Jahrzehnten ungenutzt verrotten. So gesehen griff die doppelte Katastrophe des Tsunamis und der Havarie nicht nur in das Leben der Menschen ein, sondern machte einmal mehr auch die traditionellen Möglichkeiten der Bildenden Kunst eine das abbildende Instanz obsolet.

Y. Kaihatsu: Iidate, Fukushima, 2012, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Y. Kaihatsu: Iidate, Fukushima, 2012, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Wie viele ernüchterte Kollegen zog auch Kaihatsu die Konsequenzen daraus und ergriff die Initiative; denn es ist ja so, dass nicht die Künstler allein immer wieder vor dem Versagen der Abbildlichkeit stehen und immer wieder von Neuem die Krise des Sichtbaren beschwören müssen, die mit jeder atomare Havarie, jeder Bankenkrise, jedem Terroranschlag usw. erneut heraufzieht.

Ästhetik und Unsichtbarkeit

Die Krise der Sichtbarkeit beschäftigt Kaihatsu, denn als Künstler ist er Spezialist des Sichtbarmachens. Die Unsichtbarkeit der atomaren Verstrahlung ist eine Herausforderung, denn sie verschärft das Trauma der Menschen, die nicht in ihre vollkommen intakten Häuser zurückkehren dürfen und ihre Gärten und Felder auf absehbare Zeit nicht mehr bestellen dürfen. Es ist ein akademisches Problem, das sich hier stellt,  doch liegt für die Menschen, die von einem Tag auf den anderen ihren Lebensmittelpunkt verloren haben, der Skandal darin, dass sie auch drei Jahre nach diesen beiden Katastrophen, die Japan weiterhin beschäftigen und der Wirtschaft schwer schaden, noch behelfsmäßig untergebracht sind. Sie hatten sich ein Leben aufgebaut, in das sie nicht mehr zurückkehren dürfen. Sie wissen, was gerade auf den Feldern zu tun wäre, doch müssen sie untätig warten. Das wiegt schwer, und man glaubt, die Klärung der Unzulänglichkeit der menschlichen Wahrnehmung könnte warten. Doch bleibt sie damit verknüpft, obwohl ästhetische Fragen den Nöten der Menschen gegenüber wie ein Luxusproblem erscheinen müssen.

Y. Kaihatsu: Kesennuma City, Miyagi, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Y. Kaihatsu: Kesennuma City, Miyagi, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Kaihatsu hat Interviews mit den provisorisch untergebrachten Menschen geführt, die nicht verstehen können, warum sie nicht zurückkehren können. Offensichtlich sind die ästhetischen Probleme eng mit dem Alltag dieser Menschen verknüpft, denn sonst könnten sie verstehen, warum die Regierung weiterhin so tut, als sei nichts gewesen. Nicht nur, dass sie die verzweifelte Lage der immer noch Obdachlosen in ihren behelfsmäßigen Unterkünften ignoriert, sondern auch weiterhin mit den strahlenden Hinterlassenschaften einer vermeintlich sicheren Atomindustrie umgeht, als sei nichts geschehen. Es fällt offensichtlich leicht, so zu tun, als wären die erforderlichen Arbeiten schon verrichtet, weil die oberflächlichen Aufräumarbeiten abgeschlossen sind: die verstrahlte Erde steht in Plastiksäcken unter freiem Himmel und das strahlende Kühlwasser in Tanks abgefüllt in der Nähe der Kraftwerke. Wie das 100.000 Jahren so weitergehen soll, entzieht sich der Vorstellungskraft und dem wirtschaftlichen Kalkül einer profitorientierten Risikogesellschaft, in der solche nicht mehr zu beziffernden Schäden ausgeblendet werden. Die Beamten warten auf Anweisungen.

Kaihatsu hat an der Grenze zum Sperrgebiet eine Hütte auf der Grundfläche von vier Tatamimatten errichtet. Eine Tafel darüber weist sie als „Haus für Politiker“ aus. Bis jetzt hat er 750 von ihnen eingeladen, sich eine Zeit lang in dieser Hütte an der Grenze zur kontaminierten Zone von Fukushima aufzuhalten. Der Künstler nimmt an, dass so ein Aufenthalt außerhalb der privilegierten Aufenthaltsorte von Politikern den Gedanken auf die Sprünge helfen könnte.

Y. Kaihatsu: The House of Politicians, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Y. Kaihatsu: The House of Politicians, courtesy of Mikiko Sato Gal.

Bestandsaufnahme: Erbe der Konzept-Kunst

Warum Kaihatsu ausgerechnet als Künstler eine solche Initiative ergreift, liegt wohl daran, dass die Kunst des 21. Jahrhunderts weiterhin mit den Problemen der Moderne zu tun hat, und sich damit auseinandersetzen muss, dass die Folgen eines planvollen Handelns ins Chaos führten, das sich wiederum der Anschauung entzieht, obwohl es die betroffenen Menschen innerlich zerreißt. Die das Leben überschattenden Risiken unserer Zeit wiedersetzen sich den Wünschen, die Vorgaben der Moderne hinter sich zu lassen. Die Einschätzung der Risiken aus der Kernkraft, den Finanzmärkten, dem Terror und der digitalen Datenspeicherung und Vernetzung bleibt weiterhin unanschaulich.

Was mit der fotografischen Bestandsaufnahme, die Kaihatsu verwendet, in Angriff genommen wird, geht zurück auf eine Pionierleistung der Konzept-Kunst. Ed Rusha fotografierte 1965 nacheinander http://www.medienkunstnetz.de/werke/sunset-strip/ alle Gebäude am Sunset-Strip in Los Angeles und reihte sie als ein Leporello aneinander. Er legte mit dieser Fixierung eine Messlatte für alle sichtbaren Veränderungen. Zwar könnten die Häuser und ihre Besitzverhältnisse juristisch auch mit den Mitteln von Katastern abgeglichen werden, doch haben wir es hier mit einem Paradigmenwechsel hin zu einer visuellen Aneinanderreihung zu tun, die sich angesichts von dramatischen Veränderungen von einem  Projekt der avantgardistischen Bestandsaufnahme ausgehend zu einem Instrument künstlerischen Handelns weiterentwickelt hat.

Zunächst unterscheidet sich der symbolische Akt des Abfotografierens von dem politischen und verwaltungstechnischen Agieren in ästhetischer Hinsicht. Doch hat die Gewöhnung an die Möglichkeiten der Fotografie dazu geführt, dass die Menschen ihre Gewohnheiten umgestellt haben und über die Rechtsverhältnisse hinaus nach Anschauung und visueller Nachprüfbarkeit verlangen. Trotz aller Möglichkeiten, Daten und Messergebnisse zu sammeln, erscheint den meisten Menschen die Anschauung nach wie vor direkt und unmittelbar und eine Mehrheit ist weiterhin entzückt, wenn die Künste – darunter sind es neben der bildenden Kunst besonders Konzerte, Oper, Tanz und Theater – unseren Gesichtssinn ansprechen. Und genau diese ästhetische Sicht wird zum Problem, wenn es um das Unsichtbare geht, das uns mit der zunehmenden Erschließung von Mikro- und Makrokosmus nicht nur umgibt, sondern in immer entscheidenderem Maße auch unseren Alltag bestimmt.

Bestehende Wahrnehmungsgewohnheiten behindern die notwendige Bestandsaufnahme der hier von Kaihatsu aufgeführten noch zehntausende von Jahren strahlenden Hinterlassenschaft von Tschernobyl, Fukushima und aller noch intakten Kernkraftwerke. Die Unfähigkeit, sich das Problem vorzustellen, behindert letztlich auch die Findung einer Lösung für die Lagerung von strahlendem „Atommüll“. Der Wunsch, diese unangenehmen Hinterlassenschaften der Moderne endlich vergessen zu wollen, ist verständlich, doch die Aufgaben, die diese dem künstlerischen und praktischen Nachdenken stellen, sind noch zu lösen. Insofern liegt Kaihatsu richtig mit dem Gedanken, Politiker zur Meditation in eine kleine Hütte einzuladen. Doch er könnte den Kreis derjenigen, die dort in Klausur gehen sollten, durchaus auch auf andere Berufsgruppen ausdehnen; denn es kann gar nicht genug solcher Hütten zum Nachdenken über die Bedingungen unserer Zeit geben.

Johannes Lothar Schröder

Ausstellung „Naturkatastrophe Atomenergie Disput Terrorismus“
in der Galerie Mikiko Sato, Klosterwall 13, 20095 Hamburg
bis 19. April 2014

www.mikikosatogallery.com

Kirmes Kunst. Automatisierte Performances von Geoffrey Farmer

Farbige Scheinwerfer und flackernde Lichtquellen erleuchten spärlich Objekte. Schnarren, Pfeifen, Sirenen, Quietschen, Hupen, Gesprächsfetzten in einer Schalltrichterqualität erreichen die Ohren aus verschiedenen Richtungen. Ab und zu senkt sich ein Pfosten, kreist ein Stab, wackelt eine Maske, öffnet sich der Kopf eines Portalwächter-Löwen. Lichtfelder tauchen Teile der Installation mit einem Saurierhals, Riesenkürbissen oder Extremitäten von Gliederpuppen abwechselnd in Gelb, Blau, Rot oder Grün. Das An und Aus punktueller Farbflecken erzeugt zusätzliche Bewegungsmomente, die auch statische Objekte erfassen, die einzeln oder in Gruppen aufgestellt ein weiträumiges Podest mit zahlreichen Ausbuchtungen bevölkern. Längs der Kanten mischen sich Silhouetten von Besuchern, die verharren oder flanieren. Lichter, Klänge und Bewegungen locken sie von einer Stelle zur anderen. Allmählich kommen in den verdunkelten Räumen Erinnerungen auf, die verschiedene Erfahrungen streifen: Ausflüge zwischen Schießbuden am Strand, Kirmesbesuche mit Fahrten in der Geisterbahn, Reisen zu Erlebnisparks, Aufenthalte in Gruselkabinetten, zwischen Karnevalswagen oder im Völkerkundemuseum könnten dabei sein.

Jeffrey Farmer, "Let's Make the Water Turn Black", courtesy Kunstverein Hamburg, Foto: johnicon

Jeffrey Farmer, „Let’s Make the Water Turn Black“, courtesy Kunstverein Hamburg, Foto: johnicon

Diese Kirmes Kunst ist seit dem 1. März im Kunstverein in Hamburg zu sehen, in dem die Ära der neuen Leiterin Bettina Steinbrügge beginnt. Auch wenn diese Ausstellung mit dem Migros Museum für Gegenwartskunst, dem Nottingham Contemporary und dem Perez Art Museum Miami gemeinsam realisiert wurde, knüpft „Let’s Make the Water Turn Black“ von Geoffreys Farmer in Hamburg an die Reihe der dunklen mechanisierten Installationen von Mike Kelley oder Paul McCarthy an, die seit den neodadaistischen „Penny Arcades“ von Allan Kaprow, den Ensembles von Ed Kienholz die Ästhetik von Luna-Parks und populären Vergnügungen in die Kunst einfließen lassen. Aran Moshayedi erzählt aus der Perspektive eines Angelenos mehr darüber im Ausstellungskatalog (S. 80ff). In Hamburg geht diese Arbeit auch auf die Verbindungen zwischen Kunst, Theater und Populärkultur zurück, die seinerzeit Ivan Nagel mit dem Performanceprogramm während des Theaters der Nationen 1978 und Uwe M. Schneede mit Ausstellungen von Bühnenbildern und Installationen vorbereitet haben.

Jeffrey Farmer, "Let's Make the Water Turn Black", Abb. Katalog, S. 103

Jeffrey Farmer, „Let’s Make the Water Turn Black“, Abb. Katalog, S. 103

Diese installativen Animationen sind eigentlich Performances, die das spielende Personal durch Mechanik ersetzten. Daher sind sie aus der Wiederholbarkeit von Ereignissen schon vor der Zeit ihrer kinematographischen Multiplizierbarkeit hervorgegangen. Noch ehe die Automatisierung Produktionsprozesse durch Verzicht auf Arbeiter profitabler machte, wurde Maschinen auf Jahrmärkten und Kirmessen (Kirchweihfesten) erprobt und in Spielbuden zur Schau gestellt. Heute ist der Zustand der Nichtsnutzigkeit wohl am ehesten in Kunstausstellungen herstellbar, wo sie ein synästhetisches Erleben ermöglichen, das an Geisterbahnfahrten zu einer Zeit erinnert, als man sich noch eher durch animierte Materie erschrecken ließ als durch Menschen. Mike Kelley ist diesen Mechanismen in seinem durch Sigmund Freuds Schriften inspirierten Essay „Playing with Dead Things“ über das Unheimliche und mit seiner Materialsammlung, ausgestellt im Gemeentemuseum in Sonsebeek, nachgegangen (The Uncanny, Arnheim 1993)

Ausstellung in Hamburg: Klosterwall 23
bis 11. Mai 2014

Kopffüßler und Kugelwesen / Cephalopods meet design and dance

(scroll down for english version)

50 Liebhaber der Performance Art und die am Performancefestival in der Frankfurter Galerie Wildwechsel teilnehmenden Künstler hatten vom 23. – 24. Juni 2005 das Privileg, sich 8 Jahre vor der Modelwelt an einem Kugelkleid zu erfreuen. In der Rotlindstraße zeigte Magali Revest „Origine“, eine von ihr im Jahr zuvor choreographierte Performance.

http://vimeo.com/26401007

Eine Kugel auf Beinen öffnete sich im Verlauf der Aktion wie eine Blume – ein von Revest entworfenes Kleid. Wer weiß durch welche Kanäle es Agatha Ruiz de la Prada erreichte und beflügelte? Während der Fashion-Week in Madrid erregte ein Kugelkleid der spanischen Modedesignerin am 9. September 2013 Aufsehen und landete auf der ARD Home-page.

ARD-Homepage and Revest-homepage

ARD-Homepage 9.9.2013 and Revest-Homepage

Die Gegenüberstellung mit der schwarz-weißen Abbildung des Kostüms auf der Homepage von Revest zeigt die Details des Mechanismus, der ein Öffnen ermöglicht. Die Geschichte geht allerdings noch weiter: In einer etwas schlabbrigen Fassung tauchte dieses Modell im Januar auf dem Cover des Programmheftes von K3, Tanzplan Hamburg, vom Jan./Feb. 2014, auf. Und das wird nicht das Ende gewesen sein, denn diese Kugelwesen erinnern an die Kopffüßler aus mittelalterlichen Grotesken.

Magali Revest "Origine", June 23, 2005, Frankfurt, photograph: johnicon

Magali Revest „Origine“, June 23, 2005, Frankfurt, photograph: johnicon

When meeting for the performance-festival “Wildwechsel” in June 2005 50 friends of performance art had the pleasure to experience a design which was introduced during “Origine” a performance of Magali Revest. She designed it in 2004, and it opened like a blossoming flower. The dress shown by Agatha Ruiz de la Prada at the Madrid Fashion-Week in 2013 astoundingly resembled the experimental balloon-costume of Magali Revest. Who knows what inspired Ruiz de la Prada to create the human ball, which became a picture of the day on the German TV-homepage Sept. 9th, 2013.

Umschlag K3-Programm Jan-Feb 2014, Foto: Florian Thiele

Umschlag K3-Programm Jan-Feb 2014, Foto: Florian Thiele

The story continues right now in 2014, when a choreography containing a baggy costume made it on the cover of of K3_Tanzplan Hamburg in February at Kampnagel. Humans in these dresses roughly resemble the very sophisticated medieval cephalopods, which are known for example by Hieronymus Bosch.