Selbstlaufende Autoteile

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele performen HYPEROBJEKTE?
in den Sophiensälen in Berlin im Februar

und im WUK performing arts in Wien im März

Monolithisch ragten zwei hochkant aufgestellte ausgeschlachtete Karosseriehälften auf. Dazwischen standen Bauteile von Kraftfahrzeugen. Türen, Sitze, Motorhauben und Scheinwerfer in Transportkäfigen bereit. Von den beiden Protagonisten verschoben und in Funktion gesetzt, begannen die Autoteile gemeinsam mit ausgebauten Scheinwerfern, Blinkern, Bremsleuchten und Scheibenwischern ein Eigenleben zu führen. Mit Akkupacks versehen, waren sie von keiner zentralen Stromversorgung mehr abhängig, so dass sie frei beweglich ihren Tanz in der von Scheinwerfer und Blinker beleuchtet Installation begannen, in der verstärkte Grundgeräusche wie Fahrtwind, klackende Blinker und tickende Relais Takt und Ton vorgaben.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Eine der in das Stück integrierten Lectureperformances brachte die Konstruktion des ersten Atomreaktors in Chicago durch den Atomphysiker Enrico Fermi zur Sprache. Die Zuschauer*innen erfuhren, dass dem Forscher seine Qualitäten als Leichtathlet nützten, weil er die zu untersuchenden Proben zur Messung von Halbwertszeiten des Nuklearmaterials blitzschnell von einem Labor in ein anderes bringen konnte. Da diese Experimente im bitterkalten Winter in ungeheizten Laboren stattfanden, trug das Forscherteam Waschbärenmäntel der Baseballmannschaft der Universität. So verstand man auch die Anspielung von Florian Feigl und Otmar Wagner besser, die anfänglich in Pelzmänteln auftauchten. Darin stellten sie sich auch in die Tradition der ersten Automobilisten, die im Freien auf einer Kutscherbank thronten, ohne Karosserie und vorgespannte Pferde saßen sie mit dem Motor auf vier Rädern und mussten sich vor Wind und Wetter schützen.

Beide Performer hatten sich aber nicht nur in die Kluft von Automobilisten geworfen, sondern erschienen im zweiten Teil der Aktion, nach dem Ablegen der Mäntel, in weißen Kitteln im Stil von Künstlern, Ingenieuren und Konstrukteuren der 1920er Jahre. So ausgestattet und sich in Karosserieteile hineinzwängend, scheinen sie die Fahrgastzelle als Labor zu nutzen. Ein anachronistischer Kontrast, denn mit ausgedienten Autokarosserien geben sich heute weder Forscher noch Pioniere ab. Außerdem waren wesentliche Teile des Autos wie Motor, Getriebe, Kardanwelle, Lenk-  und Antriebsachsen ausgebaut. Zerlegt, mit leerem Tank und ohne Ölwanne wird das Auto verfügbar, weshalb sich diese Darsteller von Künstleringenieuren tatsächlich eher als Forscher an einem Begriff erweisen, denn als Entwickler von Maschinen. Ihre Aktivität ist der Dekonstruktion der Auffassung vom Automobil als Fetisch gewidmet. Mittels der Installation definieren Wagner und Feigl die Bestandteile der Technologie der individuellen Fortbewegung in mehreren Schritten neu, was auch den Untertitel „Blech und Gewebe“ erklären könnte.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Technokratische Überlegungen lassen die irrationalen Ängste vieler Autobesitzer meist außen vor.  Diese träfe der Verlust eines Statussymbols viel stärker, als die Möglichkeit nicht mehr von der Stelle zu kommen. Diese Schwäche zeigt sich nicht nur in der panikartigen Zurückweisung neuer Verkehrskonzepte, sondern im massenhaften Kauf klobiger Sport-Nutzfahrzeug-Hybriden, den sogenannten SUV, die übermotorisiert sind, andere Verkehrsteilnehmer einschüchtern und allen Argumenten zum Trotz die Bereitschaft zur Eskalation statt zur Kooperation ausdrücken.

Es sieht also ganz so aus, als würden sich die ankündigenden Veränderungen genauso schmerzhaft auswirken, wie der Abschied von der Kutsche, an deren Größe, Pracht und vorgespannter Anzahl der Pferde sich der Status des Besitzers ablesen ließ. Ein kleines knatterndes Automobil ohne Zugtier machte nicht viel her und lässt sich daher heute noch leicht belächeln. Vielleicht werden unsere Enkel sich über die gerade vermarkteten und fortschrittlich geltenden Elektroautos mit mächtigen Karosserien lustig machen, denn sie ahmen wie die kutschenartigen Autos von anno dazumal die alte Vehikelform nach. Als Imitation der gewohnten alten lassen sich neuartige Fahrzeuge noch nicht als eigenständige Ikonen lesen und müssen sich vorerst ihr Prestige von den Verbrennern ausleihen. Dabei sehen einige Autotypen sogar wie Rennwagen aus, in denen Plätze für Passagiere geschaffen werden müssen, in denen sie dennoch langsamer unterwegs sind wie die Fahrgäste von Hochgeschwindigkeitszügen.

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele, HYPEROBJEKT?, Sophiensaele, Berlin 27. Feb. 2020, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst 2020

Ohne sichtbare High-Tech-Features platzieren Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele sich in einem Niemandsland der Mobilität und dennoch wurde die Kantine der Sophiensäle ein temporäres Entwicklungslabor des Wandels. Wagner und Feigl zerstörten das Auto nicht lustvoll wie der Perkussionist Stefan Gwildis mit Vorschlaghammer und Flex, sondern sie machen es durch Zerlegen dysfunktional und ermöglichen den Bauteilen ein komplexes Eigenleben. Auch das hat viel mit Musik zu tun und ist von Industrial und Fluxus inspiriert: Scheibenwischerarme schlagen gegen Motorhauben, rühren in Tankstutzen herum, heben sogar einen kompletten Tank an und tanzen wie Insekten mit nur noch einem Bein. Die Wisch-Wasch-Anlage beeindruckt als plätschernder Springbrunnen und das kinetische Objekt aus Frontscheibenwischern auf einem Mikrofonständer verblüfft als sich automatisch schief stellendes Notenpult und mechanischer Dirigent zugleich. Inmitten sich kreuzender Scheinwerfer bleibt die metallenen Szene in ein unruhiges Licht getaucht, über die alle 20 Minuten der höllische Lärm eines startenden Passagierjets losbricht.

Und wohin geht die Reise?

©Johannes Lothar Schröder

Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele: HYPEROBJEKTE?
Wagner und Feigl arbeiten daran… Blech und Gewebe I-IV
in der Kantine der Sophiensäle am 26., 27., 28. und 29. Februar 2020

Blech und Gewebe V – VII
à im März: im WUK performing arts
Einzug in den Projektraum: Sa., 21.3. 21 Uhr, Vorstellungen Do., 26.3., 19:30 Uhr sowie Fr., 27. bis Sa. 28.3.2020 21 Uhr, Projektraum

Bis in die Zehntausende

Nieslony das es geschieht / der Katalog

Die Umstände oder besser die Zusammenhänge wollen es, dass ich mich nach so kurzer Zeit wieder über 10.000 und Boris Nieslony äußere. Der Blog-Eintrag von Oktober wird ergänzt und erweitert, denn der Katalog zur Ausstellung das es geschieht über Nieslony im Museum Ratingen ist erschienen. Man darf seinen Katalog, so wie er in drei Komponenten einem Archivkarton entnommen werden kann, ein Ereignis nennen, denn in der Recyclingpappe warten einigen Besonderheiten:

  1. Das Plakat im DIN A0-Format enthält neben 25 Ansichten der Ausstellung aus Objekten, Installationen, den rollbaren Regalen der Schwarzen Lade mit ausgebreiteten Ordnerinhalten und dem Anthropognostischen Tafelgeschirr ein Diagramm der Verben im KONTEXT auf der Rückseite.
  2. Der Textteil bietet neben 9 Aufsätzen von Rolf Sachsse, Michaël La Chance, Dirk Hildebrandt, Gerhard Dirmoser, Liane Ditzer und dem Künstler ein Vorwort von Wiebke Siever und Michael Stockhausen sowie einen Lebenslauf. Die 7 Druckbögen sind auf DIN A4 gefalzt, genäht und geschnitten. So liegen sie als 112-seitige Broschur geleimt aber ohne Umschlag angenehm in der Hand.

    Bogen „N“ aus: bilder_eine unendliche sequenz aus dem anthropognostischen tafelgeschirr, aus: Katalog Nieslony: das es geschieht, Ratingen 2019

  3. 160 lose Drucke von Fotos werden von dazwischen liegenden Seiten mit substantivischen Stichworten, Begriffen, Namen sowie Quellen in alphabetischer Reihenfolge unterbrochen. Dieser große begrifflich-visuelle „Zettelkasten“ heißt bilder_eine unendliche sequenz aus dem anthropognostischen tafelgeschirr (2019) und fordert die Nutzer auf, selbst neue Zuordnungen und Verbindungen auszuprobieren.

Mit dem Aussehen eines archivarischen Objekts liegt ein nicht allein metrisch gewichtiges Werk vor, das es erlaubt, Werk und Leben des Künstlers zu erforschen, der unterschätzt worden ist, obwohl er als Performer, Netzwerker und Lehrer seit Jahrzehnten weltweit unterwegs und einflussreich ist. Doch wie viele Menschen haben mehr als zwei seiner in die 100erte gehenden Einzel- und Gruppenperformances gesehen? Sie bilden den Schlüssel zum Verständnis seines materiellen Hauptwerks, der Schwarzen Lade mit 10.000-enden von Abbildungen, Fotokopien, Texten, Collagen, Ausschnitten, Fotos, Videos und anderen Medien. Aktionen und Sammlungsstücke bilden gegenseitige Referenzen für den nun fast ein halbes Jahrhundert dauernden Versuch, im Selbstexperiment und in der Begegnung mit Kollegen (Kunst der Begegnung ist ein Teilbereich Nieslonys Werks), Handlungen, Bewegungen, Verhaltensweisen und Rituale von Menschen und anderen Lebewesen kennen und besser verstehen zu lernen.

10.000 Verben

Verben in KONTEXT, Katalog, Nieslony: das es geschieht, Ratingen 2019, Ausschnitt des Diagramms

Das Diagramm der Verben im Kontext bietet eine Synopse von ca. 10.000 und ihren Beziehungen untereinander sowie ihrer Verteilung auf 32 Handlungs- und Wissensfelder. Das von Nieslony und Gerhard Dirmoser erarbeitete Diagramm aus dem Arbeitsfeld Kunst der Handlung stellt auf der einen Seite ein Wörterbuch dar, lässt aber im Gegensatz zu den gebundenen Varianten die Zusammenhänge rhizomatisch wuchern. Man registriert zwar, dass die Zuordnung oftmals willkürlich ist, doch muss man sich jenseits aller Gewohnheiten im Umgang mit lexikalischen Werken unter wechselnden Bedingungen an verschiedenen Tagen an die unterschiedlich ausufernden Möglichkeiten gewöhnen, um sich im Wald der Tätigkeitswörter zurechtzufinden. Obwohl Augen und Verstand von Verb zu Verb springen, bietet das Geflecht, mit dem die Verben je nach Sprachverständnis und kultureller Prägung verbunden sind, die Illusion eines spontanen Begreifens, auf das wir im Alltag angewiesen sind, wenn wir uns aufmerksam auf die allerseits stattfindenden Handlungen einlassen wollen.

In der diagrammatischen Anordnung von Begriffen, Verläufen und Gegebenheiten greift auch die Beziehung Nieslonys zum Fluxus. George Maciunas hatte sich ausgiebig der Diagrammatik bedient, um die verschachtelte Entwicklungen in der Kunst aus der Sicht der ephemeren Kunst versteh- und darstellbar zu machen.

Selbst Kombinationen erarbeiten!

Unter dem Einfluss sprachphilosophischer Überlegungen gehen Nieslony und Dirmoser allerdings über die Genealogien der Kunst hinaus in die Breite der Begriffe und in die Tiefe der Dynamik einer anhaltenden Erforschung von Elementen und Grundlagen der Performance-Kunst. Was Nieslony zur Erweiterung der Kenntnisse darüber führte, geleitete ihn ab einem Kipppunkt in die Weite einer universellen Erforschung der Phänomene der Welt und des Lebens. Das wirkt sich auf die Ordnung der Bildersammlung insofern aus als sie nach einigen Abbildungen mit Karten in einer alphabethischen Reihenfolge unterbrochen wird, die in mit Stichworten, Zitaten, Bildern und Quellen Hinweise auf die Methoden und Systematiken gibt.

Packen aus den gedruckten Fotos auf dem Diagramm: Verben in KONTEXT, aus dem Katalog, Nieslony: das es geschieht, Ratingen 2019

Mit dem vorliegenden Katalog sind die Rezipienten– man kann sie nicht mehr nur Leser nennen – aufgefordert, sich visuell und assoziativ eigene Kriterien der Zuweisung für die vorgefundenen Abbildungen zu erarbeiten. Die wechselnde Verwendung einzelner Bilder, Objekte und Schriftstücke kann aber auch dazu beitragen, sich vorzustellen, welchen Herausforderungen sich der Künstler und die Kuratoren der Ausstellung in Ratingen unterzogen haben, bis sie aus den Tausenden von Ordnern und Archivkästen eine Auswahl getroffen und diese den verschiedenen Räumen und Wänden im Museum zugewiesen hatten.

© Johannes Lothar Schröder

Der Katalog ist über museum@ratingen.de zu beziehen und kostet 25,90 €
ISBN 978-3-946770-56-5

 

 

Gesten im permanenten Austausch

Modalitäten der Gestenforschung  bei Boris Charmatz, Fabian Marcaccio und Boris Nieslony

Gesten aus der Zeit holen

„10.000 Gesten“ heißt die Choreografie von Boris Charmatz, die am Wochenende vom 27. – 29. September 2019 auf Kampnagel in Hamburg von 20 Tänzer*innen aufgeführt wurde. Nicht nur der Titel fordert eine Reflexion über Gesten heraus. Erst recht der Vortrag der Tänzer macht deutlich, was Anzahl und Herkunft von Gebärden bedeuten, die von weit her aus der Menschheitsgeschichte kommen und in die Zeit vor der Zeit reichen, aus der weder Zeichnungen noch Bilder erhalten sind, die wenigstens eine rudimentäre Nachvollziehbarkeit ermöglichen würden. Damit berühren sich Gebiete der Vor- und Frühgeschichte, Anthropologie, Bildwissenschaft und der Performance Studies. Zusätzlich kommen Rituale, Tänze, Film, Theater, Spiele, Sport, Gymnastik, Feste und Feiern ins Spiel.

Boris Charmatz, Musee de la danse ‘10000 Gesten’. Choreographie: Boris Charmatz, Choreographie Assistent: Magali Caillet Gajan, Licht Designer: Yves Godin, Kostueme: Jean-Paul Lespagnard, Stimmtraining: Dalila Khatir, Technische Leitung: Georg Bugiel, Fabrice Le Fur. Volksbuehne Berlin. Berlinpremiere: 14. September 2017.
Mit Djino Alolo Sabin, Salka Ardal Rosengren, Or Avishay, Regis Badel, Jessica Batut, Nadia Beugre, Alina Bilokon, Nuno Bizarro, Matthieu Burner, Dimitri Chamblas, Olga Dukhovnaya, Sidonie Duret, Bryana Fritz, Kerem Gelebek, Alexis Hedouin, Rémy Héritier, Samuel Lefeuvre, Johanna Lemke, Maud le Pladec, Mani Mungai, Jolie Ngemi, Noé Pellencin, Solène Wachter, Frank Willens.
Foto: Gianmarco Bresadola, (Ausschnitt), Coutesy: Kampnagel, Hamburg 2019

Eine erste Aufführung des Stücks hieß  folgerichtig auch „Musée de dance“. Allein über 2000 Gebärden legte die schwangere Solistin nach ihrer sporadisch kurz einsetzenden eigenen Zählung in einem atemberaubenden Tempo innerhalb der ersten 10 Minuten auf der Bühne vor. Das macht fast 4 Gesten pro Sekunde. Das ist weder Zauberei noch Betrug, denn schon 18 Gelenke an je einem Arm oder Bein potenzieren sich, nur je einmal bewegt schon beim Stillstand aller anderen Gelenke und bei je zwei Bewegungen gegenüber den nacheinander 16 anderen stillstehenden Gelenken, dann drei usw. bis zur gleichzeitigen Bewegung aller Gelenke lassen sich in der vierten Potenz zu über 46.000 Bewegungen multiplizieren. Außerdem lassen sich die  Extremitäten zusätzlich unabhängig in alle möglichen Richtungen bewegen. Schon deshalb entziehen sich Gesten einer mathematischen Berechnung, die erst recht nicht greift, wenn ihre Bedeutungen ermittelt werden sollen. – Im konkreten Fall hätten wir außerdem die synchronen Bewegungen des mittanzenden Fötus zu berücksichtigen! – Auch ist Beginn und Ende einer Geste, wie Charmatz es in einem Interview mit Gilles Amalvi 2016 problematisierte, (www.kampnagel.de/kosmos) fragwürdig. Ein kinematografischer Ablauf muss also durch permanente Übergänge ausgeglichen werden, um einen unerwünschten Stillstand zu vermeiden. Also übernahmen die Tänzer innerhalb dieses Feldes die Aufgabe, an die Grenzen der Möglichkeiten zu gehen, wobei sie auch ihr während der Ausbildung internalisiertes Repertoire objektivierten,  es mit Gesten des Alltags (Aufwachen, Augen reiben, sich strecken, Essen, Gehen, Laufen, Zähne putzen etc.) anreicherten. Die zwanzigfache Tour de force umfasste schließlich die Erkundung der Gebärden vieler Berufe, der Kämpfenden, Streitenden, Redenden, Sterbenden, Erschreckenden und Erschrockenen, Beobachtenden und Beobachteten, Mordenden und in Agonie Liegenden, Helfenden, Tragenden und Getragenen, Verzweifelten und Tröstenden, Hungernden und Speisenden, Bettelnden und Gebenden, Entdeckenden und Entdeckten, Verlierenden, Trauernden und Erheiterten, Flüchtenden und Treibenden, Einladenden und Eingeladenen, Frierenden, Gebärenden, Singenden und Musizierenden.

An- und abschwellende Intensität

Die Aufgabe des Regisseurs war es, die gesammelten Ergebnisse der tänzerischen Gestenforschung überwiegend simultan auf die Bühne zu bringen, was nach dem anfänglichen Solo entfesselt von den aus verschiedenen Eingängen auf die Bühne stürmenden Tänzer*innen mit Schwarmintelligenz in Angriff genommen wurde. Beschleunigung und Beruhigung strukturierten das Chaos bis zu den Kippstellen, an denen sich die Solisten berührten, anzogen oder abstießen sowie Paare, Gruppen und Rudel bildeten. Ein Rhythmus aus konzentrischen Kreisen, Zusammenstößen und Pausen bildete sich mit der kaum merklich einsetzenden Musik des Requiems in D-Moll von Mozart heraus. Harmonie wurde nicht gesucht. Ansätze dazu ergaben sich vielmehr aus dem An- und Abschwellen der Lautstärke aus dem off und durch die Reibung der Tänzer*innen an den Bewegungen der anderen. Es ergaben sich Zusammenrottungen und Auflösungen sowie wechselnden Phasen der Korrespondenz, des Ignorierens und der Entgegnung.

Perugino: Angesichts der rhythmisch gestaffelten Gesten und eleganten Bewegungen erscheinen Gemälde der Renaissance vorbildhaft. Man beachte die Aufstellung der Teilnehmenden am Hauptereignis und die Menschen auf dem Platz in Pietro Peruginos Christus übergibt die Schlüsse an Petrus, das der Maler mit Assistenten in den Jahren 1481 – 1482 als Fresko (335 x 550 cm) in der Sixtinische Kapelle des Vatikans gemalt hat. Nur wenige Attribute wie die Schlüssel und der Winkel des Baumeisters ergänzen die Gesten. Quelle: gemeinfrei

Die Bühne wurde zur Agora, auf der sich trotz der Trägheit der Wahrnehmung innerhalb wechselnder Geschwindigkeiten des Vortrags und der Anzahl der Tänzer*innen Momentaufnahmen von Siegern, Rekordhaltern, Gestürzten, Verlierern, Priester*innen, Held*innen, Krieger*innen, Trauernden, Feiernden aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens, sei es aus der Kunst, dem Sport, der Werbung, der Mode, dem Film, dem Theater, der Politik, der Wissenschaft zeigten. Je nach Tagesform und abhängig von kultureller und beruflicher Bildung konnten aus der laufenden Schau zeitgenössische Ausformungen psychophysischer Bewegungsmuster identifiziert und mit den Vorläufern geronnener Körperbilder in Skulpturen, auf Mosaiken und Gemälden abgeglichen werden. Pflanzende und erntende Bauern, Steine und Geräte schleppende Arbeiter, Reitende und Jagende waren genauso vertreten, wie Ringende und sich Schlagende, Segnende, Triumphierende, Niedergeschlagene, Gefallene und Hingerichtete. Entsprechend gewürzt waren die Gesten mit Anfeuerung, Demut, Resignation, Schrecken und Niedergeschlagenheit, mit Kratzen am Kopf, Raufen der Haare, Popeln in der Nase, Reiben an Ohren, Armen, Beinen und Genitalien.

Prägungen aufgeben

In kurzen Momenten genügten die Darsteller*innen in ihren Kostümen von Jean-Paul Lespagnard, der sie in Schlüpfer, Unterwäsche, Overalls, Sommerkleider, Trikots, Negligés, Jumper oder Kombianzüge gesteckt hatte, sich selbst, um danach wieder mit Geschlechterrollen in Varianten von Protzen, Sich-Anbieten, Calisthenics, Kraftsport und Posen zu spielen. Imponierende Muskelschau konnte mit dem Wiegen der Brüste beantwortet werden, so wie kühne Sprünge mit einem unterwürfigen Rollen. Ein sich Aufbäumen wechselte mit Schlagen und Fallen.

Während die Intervention der 20 Tänzer*innen im letzten Viertel schließlich die Publikumsränge stürmten und die Zuschauer*innen in ihr adrenalingesättigtes Spiel mit Gesten verwickelten, zählten sie bereits in den Achttausendern, während sie einzelne Zuschauer in die Mangel nahmen, auf ihrem Schoß sitzend wie Kinder ein Lenkrad drehten, ihnen ihren Schweiß zu spüren gaben, sogar den Hintern ins Gesicht streckten. Arbeit und Freizeit wurden konfrontiert. Anzügliche Gesten und Annäherungen hoben die Distanz zum Theaterdispositiv auf – man könnte sagen, dass es wirklich geschah – kein Medium war mehr dazwischen. Folglich konnten Programmhefte zerrissen und Gesten der Zärtlichkeit getauscht werden. Aber auch eine Reflexprüfung am Knie fand statt, während ein aus dem rückwärtigen Teil der Bühne grell beleuchteter Solist mit einem langen Schatten geschweift einsam weiter tanzte.

Fixierungsversuche

Diese unmittelbare Seite der Gesten aus tänzerischer Sicht bezieht jedoch ihren Stoff auch aus der bildenden Kunst. Ihre physische Seite könnte man fast schon dank der Konzeptkunst vergessen haben, hätten sich nicht viele Künstler*innen wie Bruce Naumann, Ulrike Rosenbach oder Marina Abramovic intensiv mit dem Körper beschäftigt. Auch haben sie ihn wie etwa Chris Burden durch Body Works als Skulptur neu definiert. Weniger bekannt ist hingegen, dass Fabian Marcaccio zwischen 1989 und 2004 ein Kompendium von 661 Malgesten angelegt hat. Er nannte seine Enzyklopädie der Spuren des physischen Farbauftrags „conjectures for a new paint management“ (~Hypothesen zur Neuordnung der Malerei). Man erkennt sofort, um wie viel schwerfälliger ein indirektes Verfahren der Bewegungsaufzeichnung ist, in dem von Spuren ausgegangen wird, die eine mit Pinsel und Farben bewährte Hand auf einem Malgrund hinterlässt. Doch auch in 10.000 Gesten… entstand eine malerische Spur: Nachdem alle Tänzer auf die Bühne eingefallen waren, beruhigten sich kurzzeitig alle Bewegungen als sich ein Tänzer löste und mit der Zunge zwei sich kreuzende Spuckespuren auf die Mitte des Tanzbodens vor dem Publikum leckte.

Immer unterwegs: Gesten in Fluss

Gleichwohl ist die Auseinandersetzung auch in der Performance-Kunst nicht nur aktionistisch. Nachdem in den 1970er Jahren der deutsche Künstler Boris Nieslony das Feld der direkten Auseinandersetzung zwischen Kollegen als aktionistisches Terrain entdeckte, bezog er auch die physischen Möglichkeiten der Begegnung in den Dialog und schließlich in seine Performances ein. Gleichzeitig gab er nicht nur die Malerei auf, sondern begann Abbildungen von menschlichen Gesten und Verhaltensweisen zu sammeln.

Nieslonys Leistung liegt in der Erforschung von Gesten und Verhaltensweisen mittels einer Bildersammlung, die als Das anthropognostische Tafelgeschirr firmiert. Die Sammlung von Ausrissen aus Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten umfasst heute ca. 40.000 Stück, die in hunderten Archivkästen und Ordner gesammelt und nach Themen geordnet sind, die Bereiche der menschliche Bewegungen und Verhaltensweisen wie das Gehen, Umarmen, Schlafen, Tanzen, Lächeln und Sterben mit der dazugehörigen Mimik und Gestik umfassen. Inzwischen sind Tafeln entstanden, auf denen ausgewählte Beispiele für Ausstellungen ausgebreitet werden können.

 

Ausschnitt aus einer der Tafeln zum Thema tragen.
Ansicht in der Ausstellung „Boris Nieslony – Das es geschieht, Museum Ratingen bis 6. Okt. 2019, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst Bonn 2019

Der Beziehungen zwischen Nieslonys Sammlung und Aby Warburgs Fotosammlung (Bilderatlas) sind erst in letzter Zeit von Gerhard Dirmoser aufgezeigt worden. http://thelyingonthefloorabandonedtolie.blogspot.com/ Die Motivation Warburgs, der als Kunsthistoriker großbürgerlicher Herkunft die Kunstgeschichte nach Spuren der Weitergabe und Migration menschlicher Verhaltensweisen und Kommunikation nachging, lebt von anderen Voraussetzungen, doch bleibt seine These, dass die kulturellen Verhaltensmuster in der Geschichte der Menschen zwischen den Kontinenten wandern und ausgetauscht werden für das heutige Verstehen interkultureller Kommunikation grundlegend. Das permanente Entdecken von Gebärden und die spontan zum Vorschein kommenden Bewegungen wie auch ihr Verschwinden, also der Fluss des kulturellen Repertoires, sind der Antrieb in diesem spartenübergreifenden Feld, in dem sich Tänzer*innen, Künstler*innen und ihr Publikum bewegen. Die Utopie liegt im Austausch.

Boris Nieslony: Das Paradies 2019, Museum Ratingen, Foto: johnicon, VG-Bild-Kunst, Bonn

Wie aber ist der Austäusch zwischen denen, die sich bewegen, und denen, die dabei zusehen, organisiert? Wenn man bedenkt, dass ephemere Ereignisse nur relativ wenige Zuschauer erreichen, ist das Wissen um das Verhältnis von Bewegungen und Gesten zu Bildern und Bildmedien von Belang. Das Bewusstsein über diese Zusammenhänge lässt sich an einem Modell ablesen, das Nieslony in der Ausstellung aufgebaut hat. Seit 1980 sammelt er Gläser, optische Linsen, Spiegel sowie Gegenstände aus den Bereichen Technik und Natur. Deren Installation in einer ausufernden Regalkonstruktion nennt er „Das Paradies“, weil sich die Teile zu realen und imaginären Maschinen zur Aufzeichnung, zum Betrachten und Verarbeiten von Bildern und Präparaten zusammensetzen lassen. Vielleicht gibt sich darin auch ein Modell des Wahrnehmungsapparates aus den erweiterten Möglichkeiten der Sinne und ihrer Vernetzung mit dem Gehirn zu erkennen. Ihr Zusammenwirken stellt sich ein bildender Künstler natürlich anders vor als Physiologen und Psychologen und so gelingt es ihm mit seinem Wissen als Performer zur Herkunft der Gesten vorzustoßen, indem er die Abläufe befragt, in die er sich begibt, die er zulässt, in die er hineinhorcht oder in die er gezogen wird, wenn er sich bewegt. Im Filmporträt, das Gerhard Harringer 2010 über Nieslony gedreht hat, stellt der Performer folglich die treffliche Frage: „Was ist ein Bewegungsmuster bevor es Tanz wird.“

Johannes Lothar Schröder